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Yvette Guilbert

Grundeindruck

I.

In einem Zimmer. Hier saß eine Person, bei aller Grazie ernst und fast wuchtig, der man sogleich eine große, rücksichtslose, demokratische Kunst zutrauen konnte.

Dies war nicht Mozartsche Musik; um ihr brandrotes Haupt rauschte die Carmagnole.

II.

Als sie am nächsten Tage sang, ist dieser Eindruck vertieft worden. Zwar, sie entpuppte sich als Künstlerin der zartesten Stufung, der halben Winke, der versunkenen Liebessehnsucht, der Zote, des Rührsam-Weichen. Aber Quintessenz blieb doch: das Gigantische.

Seltsamstes, eindrucksvollstes Gesicht. Unheimlich und sprühend; gespenstig, verbrecherisch, hypnotisch. Das Haar unregelmäßig geringelt, kohlschwarze Augen, brennend starker Blick.

Dazu eine leis aufgestülpte Nase mit großen Nasenlöchern, und vorstehende Backenknochen.

Sie hat den ganzen Reiz des Schauerlichen. Und wenn sie plötzlich niederkauert, den Zeigefinger der weißbehandschuhten Hand ausstreckt: dann denkt man an E. T. A. Hoffmannsche Gestalten … vergrößert. Es ist, ohne Pathos, bisweilen eine düster glühende Hexenmischung mit humorsamen Lichtern.

III.

Dieselbe Gestalt wirkt wie einschlafend, in tiefster Hingegebenheit hinten übergebeugt. Bald lacht sie, dreist und zwinkernd. Bald tut sie ein paar Schritte, rasche, schleichende, singt einen schauerlichen Bänkelsang; bald duckt sie sich, bald neigt sie sich, den wundervoll großen Körper biegend, bald steht sie hochaufgerichtet, als Mutter Erde, hünengleich.

Sie ist eine Zauberin.

Den schaurig feinen Eindruck ihrer gebändigten Gliedmaßen stärkt es, wenn sie dicht an die Rampe tritt, so daß Lichter von unten sie begrellen, und um das Jochbein allerhand Schatten spielt. Sie scheint ein einziges Gemisch von Lebenswildem und Längstverstorbenem.

IV.

Daß beim Singen Körperliches zu überwinden ist, läßt sich an ihr nicht wahrnehmen. (Beim Sprechen auch nicht.)

Jedes Tempo; jede Konsonantenhäufung; jede Tonmalerei.

Es geht auch Trommelschlag aus ihrem Munde.

Alles überlegen; steil; mit riesenhafter Kaltblütigkeit noch im Gespenstischen. Ein Spiel von einer seltnen Spielerin gespielt, in der unterirdische Kräfte gekoppelt, versklavt sind zu drohender Macht.

V.

Sie singt liebliche Gemeinheiten. Ein Mann, der sich an der Kusine freut, spricht ungefähr so von ihrer schönsten Stelle:

Wir küssen uns – ich lange
Mit rascher Hand nach ihr,
Sie haut mich auf die Wange;
Ca fait toujours plaisir.

Gewesene Jungfrauen spotten. Die leichtsinnige Großmama Bérangers räuspert sich. Wackelnd-gierige Greise werden geäfft. Mit abrupter Schalkheit singt sie von vier Studenten, die eine einzige Dame beglückt; nachher bei der Arbeit sterben sie vor Anstrengung. Aber gleich ist sie mondsüchtig, steht in letzter Verzückung, das Sinnlichste mit dem Zartesten in zusammengedrängtem Laut … hinjammernd.

VI.

Sie singt die Dirne, so nächtens am Wallgraben läuft, Spaziergänger lockt, niedermacht, ihrem Ludewig pfeift. Pfiffe hört man, als wäre sie Bauchrednerin; seltsam Fernklingendes. Diese Nachtstücke sind unvergänglich. (Mit ihnen die Ballade vom herausgeschnittenen Herzen, das den stolpernden Mörder voll Mutterliebe fragt: »Tut es weh, Kind?«)

Und alles zusammen: von einer entsetzlichen, klagenden Höllengröße – wie es von einer frechen, mittäglich hellen Heiterkeit ist. Und voll Erbarmens, voll menschlichen Erbarmens.

1898. 25. Januar.

Spätere Zeit

I.

Einmal, später, singt sie den »toten Mann«; ein altes normannisches Lied. Die Frau spricht: mein Mann liegt im Sterben (Gott sei Dank!).

Haß und Heuchelei. Sie läßt ihn liegen, verrecken. War anderswo mittlerweile.

Im Tod hegt sie vor seinen mächtigen Händen Abscheu, vor der plumpen Fresse. Setzt sich auf sein Grab und lacht. Kehrreim: »Ich liebt' ihn über die Maßen sehr.«

Das Verbrecherische der Yvette blitzt und schleicht. Aus Augenwinkeln, aus bösen, gekniffenen. Eine große, freche Hexe. Das ganze Weibstück flimmert. »Ich liebt' ihn über die Maßen sehr.«

Diese Ballade hat einen schlichten Wortlaut. Fast wie die deutsche Ballade von der »Großmutter Schlangenköchin«. Was aber die Frau dramatisch aus ihr macht, ist einzig. Hier fühlt man: sie bedeutet mehr als irgendeine Schauspielerin von Frankreich.

Ja, sie hat einen gewaltigen Zug. Um ihre Stirn, um ihr Haar, um ihre Augen knistert es. Der Brand schlägt hinter den Schultern empor.

II.

Sie singt vom heiligen Niklas. Ein Metzger schlachtet drei Kindlein, legt sie als Salzfleisch in den Pott. Wie im Märchen vom Machandelboom. Dort wird die Mutter durch den Mühlstein »tomatscht«.

In dem französischen alten Lied wird der Metzger nur Gottes Huld empfohlen, nicht tomatscht. Die Kindlein erstehen auf, und sprechen lieblich von ihrer guten Ruh' … Yvette gibt der Legende hier eine Verklärung; ernst und lächelnd, schalkhaft und fromm. Groß wie ein Rächer fordert sie, mit strafenden Schritten, als Nicolas, ein Abendbrot aus jenem Pott. Doch lieblich ruft sie als jüngstes Kind: »Mir träumt', ich saß im Paradies.« Da scheint eine Melodie sie zu klingen, die etwa der Einsiedel beim Böcklin geigt.

Wenn die Yvette hernach von dannen zieht, schreitet sie wie die Sage groß und wirr.

III.

Bald ist sie rüdig, ein Stück Gassenzeug. Eine Pflanze; mit Ärmeln.

Bald höhnt sie eine Barrison. Von ladyblonder Haarfarbe. Das Gezierte, Heuchlerische, Gottverlassene angelsächsischer Stammesjungfrauen. Eine Entlarvung; völkerkundlich. Dazwischen blitzt ihr Freies, Heiteres, Französisches, Gott sei gepriesen.

Schade, daß sie nicht Wedekind singt.

IV.

Neulich, nachdem ihr Alter auf fünfundvierzig geschätzt worden war, schrieb sie mir:

Lieber Herr!

Meine Mutter hätte mich dann vor der Reife bekommen. Das ist bei uns nicht Sitte. Sie ist Sechsundfünfzig …, die einzige Mutterschaft, von der sie mit elf Jahren wußte, war die der heiligen Jungfrau.

Ich zähle sechsunddreißig gute Herbste (von Dreißig ab rechnet man nicht mehr nach Sommern). Aber wenn ich die jüngste von allen Künstlerinnen bin, die man Sterne nennt, muß ich doch sagen, daß ich gewiß die am wenigsten hübsche bin; am wenigsten mit griechischem Profil bedacht. Ich habe mich so hineingefunden, meine Freunde nicht zu beschwindeln, daß ich kein Schönheitsmittel anwende, außer am Abend, wo ich ästhetisch verpflichtet bin, das Publikum zu täuschen. Da schmink' ich mich; und was von entschiedener Gewöhnlichkeit am Tag wäre, wird unerläßlich und entschuldbar.

Es gibt Menschen, die niemals jung sind (auch solche, die niemals alt sind). Ich bin von der ersten Art. Ich war »Kind«, aber nicht jung im körperlichen Sinn. Meine Jugend ruht in jedem Drang meiner Seele; im Wirken und Fühlen.

Sie sehn, lieber Herr, von einer Natur wie ich, die so sehr »1830« ist, hätte Musset gesagt:

Blaß das Antlitz, blond das Haar,
Und sie zählte zwanzig Jahr.

Aber Musset ist tot … und ich bin eine Genesende.

Herzlich
Y. G.

1901.

Wiederkehr

I.

Sie singt mit stumm erhob'nen Händen
Von einer Frau, die schuldlos stirbt;
Tief tönt sie biblische Legenden,
Und eine ferne Harfe zirpt.

Sie singt von sorglich-derben Müttern;
Von ihrer Töchter jungem Schoß;
Sie kann erheitern, kann erschüttern,
Und wird zur Saga – mythengroß.

Sie hat nicht nur die reichste Technik:
Auch eines Herzens heißen Schlag.
Und was ich von ihr sah, das rech'n ick
Zum Größten, was die Kunst vermag.

II.

Wüste Tragik. Leiser Spott.
Liebeskirren. Und Schafott.
Sommermädel. Bauernsöhne.
Tambourwirbel. Pfeifentöne.

Schwüle Lüfte flüstern schwirrend.
Straßentier, betrunken irrend.
Sommermädel. Bauernsöhne.
Tambourwirbel. Pfeifentöne.

III.

Reglos streckt sie weit die Hand hin.
Stier versteinert zur Gigantin.
Dann: ein Volkslied, trällernd selig.
Maienklänge wunderkehlig.

 … Einmal, mit der Zigarette,
Lehnt sie am Kamin, Yvette.
Ferner Walzer. Sachtes Summen.
Lachen. Grübeln. Und Verstummen.

Neben Dirnchen, flinken, rischen,
Neben Blüten, Fliederbüschen:
Golgatha, die Schädelstätte …
Eine kann es bloß: Yvette.

1913. 6. März.


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