Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Gespräche mit einem Schauspieler

Mein Freund W. ist ein grundgescheiter Mensch, dabei Schauspieler durch und durch, und zwar ein vorzüglicher Schauspieler.

Er ist viel zu hell, um sich nicht Gedanken über seine Kunst zu machen, aber mit dem, was man »denkender«, »gebildeter«, »intellektueller« Schauspieler nennt, hat er nicht die mindeste Ähnlichkeit. Er ist überhaupt unverschmockt und unversnobt.

Wenigstens unter vier Augen.

Das Gespräch über den denkenden Schauspieler

Und wie denken Sie, mein lieber W., über den denkenden Schauspieler?

Danke, gut. Nämlich, pfui Teufel! Wenn ich nur das bloße Wort Mentalität höre! Für mich ist denkender Schauspieler gleichbedeutend mit temperamentlos, ohne Blut, ohne Leben. Ein blasser, 244 vergrübelter, vertüftelter Geselle, mehr Literat als Schauspieler. Der Schauspieler muß naiv und aus dem Unbewußten heraus schaffen. Sonst ist er keiner.

Sehr schön, mein Lieber. Diesen ausgezeichneten Standpunkt kenne ich. Es ist der allgemeine. Diese Meinung zu haben, ist schon mehr eine Prestigeangelegenheit des ganzen Berufes. Sie ist sozusagen vorgeschrieben, kanonisch. Ich möchte den Schauspieler sehen, der von sich sagt: ich bin ein denkender Schauspieler! Die denkenden am allerwenigsten. Und zwar nicht aus allzu großer Bescheidenheit, das ist doch sonst bei euch nicht Brauch, sondern aus dem Gegenteil. Der Denkende steht zur Zeit im Mißkredit, im Vorurteil. Es schmeichelt, sich als Instrument und Medium der höheren Eingebung zu fühlen. Der ewige Umgang mit göttlichen Mächten gibt einem selbst etwas so mächtig Göttliches. Das verstehe ich. Aber nicht von Ihnen, der Sie ein klarer Kopf und ein ehrlicher Mensch sind. Von Ihnen hätte ich gern die Wahrheit gehört. Also, bitte schön, sagen Sie mir die Wahrheit!

Aber es ist doch die Wahrheit.

Es ist eine Wahrheit. Aber nicht die ganze. Und nicht die wirkliche Wahrheit, die sich Ihnen aus der Wirklichkeit der Erfahrung, aus der Wirklichkeit Ihrer Arbeit ergeben haben muß.

Zum mindesten ist es eine sehr schöne Wahrheit, 245 und es ist mir schmerzlich, sie Ihnen zu opfern. Allerdings – das muß ich Ihnen zugestehen – macht man mitunter die merkwürdige Beobachtung, daß sich vieles, was sich auf dem Papier gut gesagt, gut formuliert, wundervoll ausnimmt, einem in der Wirklichkeit der Erfahrung gar nie unterkommt, nie begegnet. Schon das Gespräch erreicht nie ganz das Niveau von Papier und Buch, und manches, was sich gedruckt überzeugend und selbstverständlich ausnimmt, würde im Gespräch anmaßend, affektiert, verlogen wirken, und man würde sich nicht trauen, es auszusprechen, geschweige denn in Wirklichkeit umzusetzen. Papier und Buch laufen dem Gespräch immer um eine Etappe, den Problemen der Erfahrung um zwei voraus. Eigentlich schämt man sich innerlich ein bißchen, das, was man getan hat, im Stile eines so hohen Niveaus ausgedrückt zu lesen, ohne daß man weiß, wie man dazu gekommen ist, und dann tut man unwillkürlich eben mit.

Und brauchte sich gar nicht zu schämen, denn Papier und Buch haben es leicht, da oben monologisch im luftleeren Raum der Abstraktion und der Begriffe zu schweben, und schon das Gespräch bringt die nützliche Kontrolle des andern, und die Erfahrung der Arbeit erst reduziert jede Abstraktion unmerklich auf eine Wirklichkeit, die lebt und daher mehr und reicher ist als jede Abstraktion. Im Ringen mit dem Widerstand der 246 Materie liegt mehr schöpferische Energie als in allen Wortpostulaten formulierender Deutung.

Immerhin, wunderschön wäre es, das Denken durch Unbewußtheit zu ersetzen. Aber so weit sind wir ja noch lange nicht. Dazu müßten wir erst einmal beim Denken angelangt sein. Das sind wir nicht oder nur wenige, und die selten. Unsereiner ist ja schon froh, wenn ihm nur Gelegenheit und Zeit gegeben wird, innerhalb seiner Arbeit zu denken. Unter vier Augen will ich es Ihnen gestehen, natürlich denke ich. Ich denke sogar gern. Die Sache fängt doch erst dann an, mir Spaß zu machen, wenn ich mir über meine Rolle selbständig Gedanken machen kann. Es macht mir geradezu Vergnügen, zu denken. Wenn man mich läßt. Aber man läßt mich nicht. Die andern denken für mich. Der Direktor, der für mich wählt und schon durch die Zuweisung mich durch die Rolle und die Rolle durch mich überbestimmt und einengt; der Regisseur, der mir seine Auffassung aufoktroyiert und sogar seinen Tonfall aufzuzwingen versucht und mich nicht gewähren lassen kann, weil er mich den Zwecken eines Ganzen einordnen muß; der Dichter hat schon vorher für mich gedacht. Ich will ja denken; aber was? aber wann? aber wie? Ich trete mit dem Vorsatz an die Rolle heran: die beste, wenn es nicht gerade der Hamlet oder Faust ist, gibt keinen Anlaß; es steht ja schon alles drin, mehr und deutlicher, als es mir lieb ist. Bei den meisten 247 Rollen liegt es so, daß man sie beim ersten Anschauen hat; oder nie. Gibt es einen Zweifel an der Auffassung, dann ist es meistens die Schuld des Dichters und eine Unklarheit in der Dichtung, die man nicht durch Nachdenken, sondern nur durch Zupacken gutmachen kann. Die meisten Möglichkeiten von Auffassungsverschiedenheiten reduzieren sich auf Betonungen, die letzten Endes eigentlich immer nebensächlich sind und weder am Gesicht der Rolle, noch an der Wirkung der Szene Wesentliches ändern. Worin aber kann sonst das Denken des Schauspielers bestehen? Daß ich das Erlebnis der Rolle an meinem Erlebnis von Welt und Leben messe und soviel wie möglich davon hineinzustopfen versuche. Prost die Mahlzeit! Fast niemals gibt mir die Rolle gerade die Gelegenheit, die ich brauche. Es fehlt der Platz in der Rolle. Oder in einem Andersseinwollen, in einem Abweichen von der Tradition. Darüber zerbreche ich mir nun den Kopf, zu Hause beim Studium oder auf einsamen Spazierwegen, und bin glücklich, wenn mir etwas Glückliches eingefallen ist, etwas Neues, Reicheres, Stärkeres, Heutiges: aber komme ich auf die Probe, dann hat mir dieses Anderssein schon die Regie abgenommen, und zwar um jeden Preis und meist in einer Richtung, die mir gar nicht lieb ist. Manche Schauspieler sagen vor jedem zweiten Satz: »Herr Regisseur, das habe ich mir so gedacht«, worauf der Regisseur witzig zu 248 antworten pflegt: »Denken Sie nicht, sondern machen Sie vor!« und dann stellt es sich meist heraus, daß sie sich unter Denken ein Leise- statt Lautsein, ein Lautsein statt Leisesein gedacht haben, was man nicht eben mit Denken bezeichnen kann. Für andere wieder ist Denken ein Gesellschaftsspiel oder eine Konsultationspartie, die im Kaffeehause oder am Stammtisch ausgetragen wird; da wird stundenlang in langen Nächten über jeden Satz diskutiert, mit allen Terminis der Metaphysik, und die kompliziertesten Auffassungen werden ausgetüftelt, von denen dann morgen auf der Probe nicht das mindeste zu bemerken ist, weil die Realität der Bühne einen eben vor eine ganz andere Problematik stellt. Zu dieser Art des kollektiven Denkens fehlt mir allerdings Lust und Zeit. Bei der Schnelligkeit, mit der die meisten Stücke herausgebracht werden, bei der Länge der Proben, und wenn man jeden Abend zu spielen hat, dann hat man so viel mit dem Text der Rolle und mit den tausend Äußerlichkeiten der Vorbereitung, mit Maske, Kostüm und dergleichen zu tun, daß man zum Denken keine Zeit findet. Sie sehen, es wird mir schwer gemacht, zu denken. Aber was an die Stelle des Denkens tritt, ist nicht etwa das Unbewußtsein, was freilich viel hübscher klingen würde, sondern die Bewußtheit eines andern.

Nein, mein Lieber, so leicht gebe ich Sie und Ihr Denken diesen äußerlichen Notwendigkeiten des 249 Theaters nicht preis. Aus allem, was Sie sagen, spricht ein starkes Bekenntnis zum Denken. Auch aus Ihrer natürlichen Auflehnung gegen den Regisseur: ich glaube allerdings, daß zum Schlusse die Realität der Bühne mit Recht recht behält in der aus diesen beiden kämpfenden Komponenten resultierenden Gestaltung. Natürlich denkt ihr Schauspieler. Nur denkt ihr, wenigstens die wirklichen, auf schauspielerisch. Ihr denkt sinnlich. Ihr denkt nicht in Begriffen. Ihr denkt in Klängen, Gesten, Emotionen, Figuren, Visionen. Im Augenblick der Konzeption, wenn Ihnen beim Lesen der Rolle sofort eine Figur aufgeht, vollziehen Sie eine Gedankenarbeit. Und sogar eine schnellere und an Assoziationen reichere als die meisten andern, die denken. Und eine, die bleibt. Die Ihnen kein Regisseur mehr wegnehmen kann.

Haben Sie eine Ahnung! Haben Sie eine Ahnung, was der Rotstift eines Regisseurs mit einigen blutigen Strichen aus der schönsten Figur für ein wesenloses Schattengespenst zu machen vermag! Es ist alles, was Sie sagen, sehr freundlich und sehr schmeichelhaft für uns Schauspieler, aber Sie denken sich das bloß so, doch wir leiden wirklich daran, daß uns die Gelegenheit, selbständig zu denken, so beschnitten wird. Das ist keine bloße Marotte von mir. Es ist damit – Sie selbst bringen mich darauf – ganz ähnlich wie mit dem Beobachten. Ich weiß, es ist zur Zeit aus der Mode. »Veraltete 250 Methoden des Naturalismus!« Und alles Naturalistische ist verpönt. In Wirklichkeit sind wir alle froh, beobachten zu dürfen, und wären glücklich, die Resultate unserer Beobachtung anzubringen. Beobachten ist eine so schauspielerische Funktion; nicht fünf Minuten können wir einem Menschen gegenübersitzen, ohne einen Zug an ihm herauszufinden, bei dem wir uns denken: den bringe ich das nächste Mal an. Es hört sich freilich in der Diskussion großartig an: ich schaffe nur aus meiner Phantasie und Intuition. Das kann nämlich einer auch sagen, wenn er gar nichts schafft. Nach dem Modell arbeiten aber, aus der Beobachtung heraus, das ist etwas Wirkliches, da kommt etwas dabei heraus, das ist Schauspielerei. Nur leider – es kommt nie dazu. Jenes Nächstemal kommt, aber der Zug, der glückliche Zug läßt sich nirgends anbringen. Und ich kann jahrelang warten, bis sich einmal die Gelegenheit ergibt, die eine oder andere Beobachtung an einer Figur loszuwerden. Das kommt davon, daß wir Schauspieler uns nicht die Rollen selber schreiben. Da haben Shakespeare und Molière, Nestroy und Raimund es besser gehabt.

Spaß beiseite! . . .

Nein, nicht Spaß. Mir ist es völlig Ernst. Es ist nämlich um alles das so furchtbar schade. Jede Funktion, die wir ausüben, ob es nun Denken oder Beobachten oder was immer sei, bedeutet eine Bereicherung, Verstärkung und Vertiefung unserer 251 Kunst und muß uns willkommen sein. Nur so wachsen wir. Wir brauchen eine unausgesetzte Zufuhr von außen und Aufwirbelung von innen. Woher sie kommen, und wie, ist letzten Endes gleichgültig. Daher scheint mir die ganze Fragestellung falsch. Denken oder Unbewußtsein? Warum entweder – oder? Warum nicht beides? Sowohl Denken wie Unbewußtsein. Nur jedes zu seiner Zeit. Im Studium klares Wissen um Absicht und Willen; auf der Bühne aber auch Hingegebenheit an den Augenblick, Intuition, Rausch. Wenn ich auf die Bühne trete, muß ich mit meiner Rolle fertig sein, muß ich mich als Herr meiner selbst und der Situation fühlen: aber dann will ich auch manchmal fühlen, daß die Situation stärker ist als ich. Es muß für den Schauspieler auch Momente geben, in denen er improvisieren kann. Eins hebt das andere nicht auf, sondern hebt das andere, stärkt das andere. Nacheinander, aber manchmal auch nebeneinander und durcheinander. In solchen Augenblicken spürt man, daß man Schauspieler ist.

Na also!

Na also? Wenn's auch nur wirklich wahr wäre! Wenn's auch wirklich einmal soweit käme! Aber sie lassen einen ja nicht. Es ist schon ein schwerer Beruf. Aber wissen Sie mir einen besseren? 252

Gespräch über den neuen Stil

Heute kann ich Ihnen nicht helfen, mein lieber W. Heute werden Sie interviewt.

W.: Und Sie habe ich für einen anständigen Menschen gehalten! Worüber?

Über den neuen Stil in der Schauspielkunst.

W.: Ah, scharmant! Gibt's denn das wieder?

Natürlich gibt es das. Haben Sie je von einer Zeit gehört, in der es keinen neuen Stil gegeben hat? Nur daß es diesmal ein ganz neuer, ein funkelnagelneuer, ein noch nie dagewesener Stil ist. Ihre Kollegen behaupten es wenigstens. Besonders die jüngeren.

W.: So? Meine jüngeren Kollegen? Die müssen es ja wissen. Die sind auch imstande und finden mich vieux jeu. Und was ist das, der neue Stil?

Ja, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, was er nicht ist. Er ist nicht naturalistisch, und er ist nicht psychologisch, und er ist nicht einmal mehr expressionistisch.

W.: So? Das ist er nicht. Das ist immerhin schon etwas. Und was ist er?

Das ist schwer herauszukriegen. Er muß etwas sehr Kompliziertes sein; Rhythmus und Dynamik ist auch dabei.

W.: Merkwürdig, wie viele Dinge man macht, wenn man Schauspieler ist, ohne daß man weiß, daß man sie macht! Es ist gut, daß sich dann 253 immer gescheite Leute finden, die es einem nachher sagen; nur sind das immer die, die es nicht selber machen.

Das teilt ihr, mein Lieber, mit allen, die in der Arbeit stehen. Glauben Sie, Tizian hat sich jemals gesagt: »jetzt male ich Hochrenaissance«? Das besorgten die andern. Einige junge Leute schrien Sturm und Drang, aber den »Werther« und die »Räuber« schrieben andere. Wenn wirklich einmal ein neuer Stil entstanden ist, hat man's immer erst am Schluß bemerkt, wenn er schon da war, und meist erst, wenn er schon vorüber war.

W.: Famos, mein Lieber. Jetzt habe ich Sie erwischt. Sie sind doch ganz meiner Meinung. Sie sagen ja genau dasselbe, was ich auch sage. Sie glauben auch nicht, daß es so etwas wie einen neuen Stil gibt.

Aber nein, lieber W., da haben Sie mich mißverstanden. Das leugne ich durchaus nicht. Natürlich gibt es einen neuen Stil. Und in jeder Zeit gibt es einen, und jeder ist anders. Das wirkliche Kunstwerk einer Zeit (und der wirkliche Künstler) kann nur in der Sprache seiner Zeit sprechen. Auch in unserer Zeit, so verworren sie manchem scheinen mag. Zeiten des Übergangs anzunehmen, ist eine Fiktion, eine historische Willkür. Natürlich hat auch unsere Zeit ihren Stil, und ich glaube an ihn. Ich muß an ihn glauben, weil ich ihn spüre. Ich hüte mich nur, ihn zu definieren, weil sich 254 Werdendes nicht definieren, nicht abgrenzen läßt. Was ich also leugne, ist, daß ein Stil aus bewußten Postulaten entsteht, und daß die paar lächerlichen äußerlichen Merkmale, an denen die Oberflächlichkeit sich eines Stils bewußt zu werden pflegt, schon der Stil selber sind.

W.: Opposition auf der ganzen Linie. Erstens: ich glaube nicht an den neuen Stil. Ich mache den Schwindel nicht mit. Spielt man gut! das ist der einzige Stil, den ich gelten lasse. Naturalismus, Idealismus – wunderschöne Worte, aber sie bedeuten mir nichts, weil ich als Schauspieler nichts damit anzufangen weiß. Und mit Psychologie und Expressionismus noch weniger. Natürlich bemühe ich mich, so natürlich wie möglich zu sein, aber ich will auch, daß es gut klingt und schön ausschaut, und die seelischen Vorgänge in meinen Rollen will ich möglichst wahr und mit dem mir erreichbaren stärksten Ausdruck darstellen, und eines davon ist mir so wichtig wie das andere, und ich müßte kein Schauspieler sein, um sie nicht alle miteinander vereinigen zu können. Es gibt nur eine Natürlichkeit, und jede große schauspielerische Natur ist natürlich. Glauben Sie mir, Baumeister und die Hartmann, Sauer, Rittner und Else Lehmann, die Höflich und die Dorsch würden zu allen Zeiten als natürlich empfunden werden. Possart allerdings zu keiner Zeit. Aber das ist nun das Merkwürdige: fragen Sie die pathetischsten Schauspieler nach 255 ihrem Stil, fragen Sie Possart selber, und Sie werden nie eine andere Antwort bekommen: »Ich kenne nur ein Gesetz meiner Kunst, das ist die Natur, und nur ein Ziel: vollendete Natürlichkeit. Hören Sie mir das nicht an?« Ich möchte einmal den Pathetiker sehen, der sich zum Pathos bekennte, der nicht von sich behauptete, er sei der überhaupt natürlichste! So schwebt Natur allen als das höchste, als das einzige Ideal vor, und Stil ist letzten Endes nichts anderes als die immer erneute, immer sich wandelnde Besinnung auf die Natur, die ewig die gleiche ist.

Gestatten Sie mir, lieber Freund, hier einen meiner gewohnten Seitensprünge ins Allgemeine; immer wieder drängt es sich mir auf, wie, wenigstens beim Theater, gerade beim Theater, jede Theorie sofort durch eine Wirklichkeit des Theaters beschämt und widerlegt wird, und wie der scheinbare Widerspruch der Meinungen und Theorien sich in der Erfahrung der Wirklichkeiten spielend von selber auflöst. Gewiß habe ich recht: jede Zeit hat ihre eigene Natürlichkeit, und die Natürlichkeit von gestern ist das Pathos von heute. Und ebenso gewiß haben Sie recht, daß es so große, in ihrer Echtheit so starke Naturen gibt, denen Natürlichkeit so selbstverständlich und tief in Blut und Wesen wurzelt, daß sie zeitlos wird und in jeder Zeit gelten muß – Sie haben einige der Besten genannt –, ebenso wie wir die großen 256 Pathetiker erlebt haben, denen Pathos als ebenso selbstverständliches Bedürfnis, Schicksal und Gesetz in ihre Natur gelegt ist, wie jenen die Natürlichkeit, daß sie zu allen Zeiten überlebensgroß, titanisch, wie aus einer Jenseitswelt herabgestiegen, in einsamer Distanz unter den Menschen stehen würden. Ich denke an die Burgschauspieler Charlotte Wolter und Emmerich Robert und an den unvergeßlichen Matkowsky. Und ich denke an ein drittes Phänomen, in dem sich die beiden andern Phänomene wundervoll kreuzten: an Eleonore Duse. In ihr wurden Natürlichkeit und Pathos, das leidvolle Pathos einer überlebensgroßen Einsamkeit, eins und ebenfalls zeitlos, zeitentrückt. Alle diese Heroen der Natürlichkeit wie die des großen Stils scheinen Ihnen recht zu geben und Ihrem Glauben an die Zeitlosigkeit der großen Naturen, an denen die Zeit machtlos, der Begriff der Zeit fast aufgehoben wird. Aber dieser Zeitlosigkeit steht eine andere gegenüber, eine Zeitlosigkeit aus Zeitfülle, aus der Fülle überströmender Zeitinhalte. Es sind Schauspieler von einer solchen Lebensnähe, Zeitnähe, daß ihnen die eigene Zeit kaum mehr genügt, daß sie sich in allen Zeiten erfüllen müssen. Ihr Über-der-Zeit-Stehen, ihre Zeitlosigkeit ist Allzeitigkeit. Wie an jenen der Begriff der Zeit sich annullierte, wird er in diesen absolut, wird Antrieb und Motor, wird stilbildend. Und bezeichnenderweise sind es gerade die 257 schauspielerischesten unter den Schauspielern. So waren Mitterwurzer, Kainz, Novelli, so einer ist Werner Krauß. Werner Krauß wäre, genau so wie er ist, zu jeder Zeit ein Heutiger und im Ensemble keines Stils ein Fremder gewesen. Stellen Sie sich Krauß in einem naturalistischen Stück neben Sauer, Else Lehmann und Rittner vor, er hätte ebenbürtig neben ihnen gestanden und wäre nicht nur nicht aus dem Stil herausgefallen, sondern sicher als der empfunden worden, der den naturalistischen Stil so ausfüllt wie irgendeiner. Denken Sie sich Krauß neben psychologischen Schauspielern, etwa neben Bassermann oder neben Helene Thimig, dann würde Ihnen seine Spielweise als ein Paradigma der psychologischen Darstellung vorkommen. Und wenn er mit den heutigsten der heutigen Schauspielergeneration spielt, mit Forster oder Elisabeth Bergner, um mit zwei Namen anzudeuten, woran ich denke, scheint er der heutigste. Das ist nicht etwa seine Verwandlungsfähigkeit und nicht, als ob er sich anpaßte; seine Spielweise ändert sich nicht, er bleibt im Grunde derselbe, und es sind dieselben Elemente seiner Kunst, die je nach der Umgebung naturalistisch, psychologisch oder heutig wirken. Das macht, er ist so gefüllt mit Zeitgefühl und Zeitinhalt, daß er auf die Inhalte vieler Zeiten paßt. Er ist so heutig, so sehr Gegenwart, daß er Gegenwart an sich und damit zur Gegenwart jeder Zeit wird. 258

W.: Und mithin zeitlos und mithin habe ich doch recht, und es gibt keinen Zeitstil und ganz gewiß keinen neuen, keinen heutigen. Das Beispiel Krauß lasse ich nicht gelten, der ist eben auch eine Natur, und das behaupte ich ja, daß allein die zeitlose Natur entscheidet.

Da ist aber ein junger Mann, der heißt Curt Bois: wenn Sie den zum erstenmal sehen, glauben Sie, er ist direkt von der Straße in das Stück hineingeholt worden und improvisiert sein Leben von der Straße, von seinem Zuhause, von der Gesellschaft auf der Bühne weiter, so privat wirkt er zunächst. Das ist keine Kunst, sagen Sie, keine Schauspielerei, das ist einer von den jungen Leuten, denen ich eben auf dem Kurfürstendamm begegnet bin, so sehen sie alle aus, so benehmen sie sich, allerdings erst heute, gestern noch haben sie ganz anders ausgesehen. Aber allmählich bemerken Sie, daß dieser junge Mann verteufelt viel kann, so eigentlich alles, was zum Schauspieler gehört, nur ganz unauffällig, unaufdringlich, wie nebenbei, und nicht bloß tausend Kunststücke und kleine Künste, sondern darüber hinaus Kunst, mit Grazie, mit Scharm, mit Witz, mit Herz, mit Intensität. Nur das alles so von heute, daß es gestern nicht möglich, nicht denkbar gewesen wäre. Er spielt nicht expressionistisch, deklamiert nicht an der Rampe, hält keine Tiraden, hat nie die eckigen Hampelgesten der Marionetten; er ist vollkommen einfach, 259 natürlich und ungezwungen, und doch geht nicht ein Tonfall, eine Bewegung von ihm aus, ohne Assoziationen an all das zu wecken, wodurch sich unsere Zeit äußerlich und innerlich von allen andern unterscheidet. Und wenn Sie diesen Curt Bois, jenen Werner Krauß, wenn Sie die Bergner und Forster, wenn Sie Gülstorff, Deutsch, Homolka und die kleine Mosheim, wenn Sie unsere so merkwürdigen jüngeren Komiker Romanowsky, Wallburg und Hörbiger, die jungen Wiemann, Karlweis, Faber und Gründgens und sogar jene noch ganz unbekannten jungen Leute, die kürzlich so bescheiden im Auftreten, aber so mutig, verdienstvoll und erfolgreich die »Revolte im Erziehungsheim« unternommen hatten, wenn Sie die alle miteinander spielen sehen, dann werden auch Sie eine unverkennbare Gemeinsamkeit spüren, die man so wenig durch Nervenkunst wie mit neuer Sachlichkeit erklären kann, sondern nur durch den gemeinsamen Nenner: Zeit. Und darum darf man füglich von einem neuen Stil sprechen, der freilich nicht dort entstanden ist, wo der Lärm gemacht wurde, sondern ganz stille, heimlich, in aller Allmählichkeit, unter der Hand gewissermaßen und von selbst.

W.: Und doch glaube ich nicht daran.

Und zweitens?

W.: Wieso zweitens?

Sie sagten: Opposition auf der ganzen Linie. 260 Erstens: Sie glauben nicht an den neuen Stil. Und zweitens? Wo bleibt das Zweitens?

W.: Richtig. Sie sprachen von den lächerlich äußerlichen Merkmalen, an denen man sich eines Stils bewußt zu werden pflegt. Da bin ich wieder anderer Meinung. Ich bestreite den Zeitstil, aber wenn man ihn zugibt, dann muß man seine scheinbar äußerlichen Merkmale in den Kauf nehmen. Diese äußerlichen sind ebenso wichtig wie die tiefer liegenden. Sie sind nämlich gar nicht äußerlich. Nichts was auf der Bühne geschieht, ist bloß äußerlich. Das Äußerliche schlägt sich gleich aufs Innere. Wenn ich auf naturalistisch die Hände in die Hosentasche stecken darf und dem Publikum meinen Rücken zeige, so krempelt das den ganzen Menschen um. Das kann wohl nur der Schauspieler so ganz empfinden. Meine ganze Einstellung zu meinen Mitspielern, zum Leben, verändert sich. Ich bekomme gleich eine Freiheit, eine Unbekümmertheit, die ich sonst gar nicht zu erzielen wüßte. Umgekehrt, wenn ich vorn an der Rampe stehe und eine deftige Tirade in den Raum schmettern kann, so steigert das mein Gegensatzgefühl zum Publikum, mein Verlangen, es in meine Macht zu bekommen, und damit mein konzentriertes Persönlichkeitsbewußtsein in einem unglaublichen Grade. Oder stellen Sie sich gar vor, was es für einen Schauspieler bedeutet, im Mittelpunkt der Arena zu stehen, allein, fünftausend Zuschauern 261 gegenüber, von allen Seiten gesehen, von Scheinwerfern beleuchtet! Das ist der Höhepunkt des Lebens. Wenn sich daran kein großes Pathos entzünden soll, woran denn? Es ist Wirkung. Und darauf ist's im Theater immer angekommen. Die Wirkungen steigern, die Wirkungsmöglichkeiten erweitern, heute durch Natürlichkeit, morgen durch Pathos, heute nach innen, morgen nach außen, das ist der alte ewige Turnus des Theaters, derselbe regelmäßige Stilwechsel wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter.

Und was, Sie Eigensinniger, sagen Sie zu dem Fall Curt Bois?

W.: Der ist eben auch eine Natur.

Und die spürbare Gemeinsamkeit aller dieser Jüngeren?

W.: Aber worin besteht diese Gemeinsamkeit? Daß sie nebeneinander stehen, miteinander spielen, aneinander gewöhnt, aufeinander eingespielt sind? Da ist ja kein Wunder, da sie alle in denselben Stücken spielen, sie wohl auch alle lieben und dieselben Gedanken- und Gefühlsinhalte darzustellen haben. Da müßte es ja mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nicht mit der Zeit eine gewisse Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit einstellen sollte, und sogar, was mich am meisten ärgert, eine gewisse Ähnlichkeit.

Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Da lassen Sie den Gott des Theaters walten, der für 262 Abwechslung und die Reichhaltigkeit seines Tiergartens sorgt, und, noch immer nach dem Prinzip der Arche Noah, für jeden Typ und jedes Rollenfach sich ein Pärchen, Männchen und Weibchen, auswählt. Im übrigen habe ich Sie dort, wo ich Sie haben wollte. Etwas anderes habe ich auch nicht behauptet. Und so wird es wohl auch sein. Wie immer haben beide recht. Stil, das sind die Menschen, die ihn machen. Nichts anderes. Nicht ihr Programm. Nicht ihre Absicht. Die Menschen selbst.

W.: Lassen Sie mich das so sagen: Stil ist die Summe von repräsentativen Naturen der Zeit.

Ja, und Stil ist ihre gemeinsame Geschichte. Stil ist Geschichte. Der Stil ist das Schicksal einer Zeit. Da kann es nicht anders sein, als daß in ihm die Gedankeninhalte der Zeit Form werden, aber diese Form ist anders als die kleinen Zeichen, die sie begleiten und verraten, diese Form, gewachsen wie organisches Leben, ist vielgestaltig und mannigfaltig wie die Menschen selbst und ihr Leben. Uns Mitlebenden bleibt nur übrig, sich dieser Buntheit und Fülle schauend und genießend hinzugeben. Nur die Nachwelt ist imstande, die Form und den Stil einer Zeit als Einheit zu sehen und zu begreifen. Und so lange werden wir uns auch gedulden müssen, um zu erfahren, was der neue Stil eigentlich ist.

W.: Ich warte. Und freue mich, daß heute, ohne 263 daß Sie es gemerkt haben, nicht Sie mich, sondern ich Sie interviewt habe.

Gespräch über das Starwesen

Diesmal war Freund W. kaum zu erkennen. Er war ernstlich empört. Der sonst so ruhige, reife, besonnene und längst über die kleinen Eitelkeiten und Empfindlichkeiten des Berufes lächelnd hinausgewachsene Mann schien aus dem Häuschen. »Pfui Teufel!« fluchte er. Ja, er sagte »Pfui Teufel!« und »Am liebsten schmisse man den ganzen Krempel hin.« Und behauptete, daß er ihn »bis daher« habe.

»Bis wohin?« fragte ich besorgt.

Er überhörte die Frage. »Weil es nicht mehr zu ertragen ist. Gut, sollen sie die bessere Gage haben! Ich gönne sie ihnen. Die lächerlich, unverhältnismäßig und unverdient höhere Gage. Mag das Theater daran zugrunde gehen. Es hat kein besseres Schicksal verdient. Aber der Unterschied in der Behandlung. Der Fettdruck auf dem Zettel. Die Hervorhebung in den Notizen. Die Lobhudelei in der Öffentlichkeit. Wie komme ich dazu, mir das gefallen zu lassen? Wer sind sie denn, daß ich hinter ihnen zurückstehen soll? Sind sie besser als ich? Mehr wert? Können sie mehr? Sagen Sie mir das, bitte!«

»Wer?« fragte ich naiv. »Wen meinen Sie eigentlich?«

264 »Die Prominenten, natürlich. Die sogenannten Prominenten. Ich möchte nur wissen, wer sie zu Prominenten ernannt hat? Wer die Kompetenz hat, die Grenzen zu ziehen: hier sind die Prominenten und dort die dii minorum gentium? Zum Henker, ich will kein deus minorum gentium sein! Ich bin nicht deshalb zum Theater gegangen und ich habe nicht deshalb dreißig Jahre lang die größten Rollen gespielt.«

»Und wie gut gespielt! Und mit welchem Erfolg gespielt!« warf ich ein.

»Ah scharmant!« Nun hatte ich meinen alten W. wieder. Aber nicht lange. »Gewiß. Wenigstens mit dem Erfolg der Kenner. Und auf die kam es mir immer an, nicht auf den Beifall der Gründlinge im Parterre. Denn das sind die, die nur den großen Namen, den Stars, den Prominenten zujubeln. Als ob wir nicht auch große Rollen gespielt hätten! Und ebensogut gespielt hätten, mit ebensoviel Talent, mit demselben Können, mit demselben Einsatz an Persönlichkeit! Wer darf es wagen, den Strich zu machen! Das Theater? Die Direktion? Wenn die Direktion nicht an mein Talent glaubt, hätte sie mich nicht engagieren dürfen. Aber sie glaubt an mich, denn sie braucht mich. Sie weiß ganz wohl, daß wir der feste Grundstock jeder guten Aufführung sind. Wir, nicht die Prominenten. Die Prominenten wechseln, wir bleiben. Wir sind die Güte der Aufführung, der Erfolg der Aufführung ist 265 unser Werk, nicht das der aufgesetzten Glanzlichter. Auf unserer gekonnten, soliden Arbeit beruht die Kraft der Ensemblewirkung, des Ganzen, das doch immer die Hauptsache bleibt. Und das ist dann der Lohn! Wir, die wir nur an das Ganze denken, werden zurückgesetzt, und die, die nur an sich denken, werden bevorzugt, verwöhnt, kajoliert, mit Notizen überfüttert und mit den fettesten Lettern zuerst auf den Zettel gesetzt, damit nur ja kein vorübergehendes Auge den zum Überdruß oft genannten Namen übersehe.«

»Aber, mein lieber W., das kann doch Ihr Ernst nicht sein. Können diese Dummheiten Sie ernstlich kränken? Ich denke, Ihr künstlerischer Wert steht doch über dem Fettdruck!«

»Lachen Sie mich, bitte, nicht aus! Ich weiß, daß es nur Kleinigkeiten sind: aber diese Kleinigkeiten sind symptomatisch für die Einschätzung. Und sie wirken sich auch beim Publikum aus. Woran soll sich denn das Publikum halten? Ich kann nicht zu jedem einzelnen im Publikum hingehen und sagen: liebes Publikum, meine Direktion druckt zwar den X. fetter, aber mich schätzt sie mehr. Halten Sie mich nicht für ein Kind! Ich weiß natürlich, warum es die Direktion tut und tun muß. Ich unterschätze den Ernst und das Gewicht der geschäftlichen Erwägung gewiß nicht. Schließlich leben wir ja alle vom geschäftlichen Wohlergehen des Theaters. Ich weiß, daß es gewisse Namen gibt, die 266 Publikum ins Theater ziehen. Diese Namen spielen aber auch die Rollen, die das Publikum ins Theater ziehen. Oder vielmehr, sie spielen die Rollen nicht, die das Publikum nicht ins Theater ziehen. Da haben Sie den ganzen Zauber!«

»Den ganzen?«

»Ja, den ganzen. Da es doch die größere Künstlerschaft nicht ist, wie Sie selbst zugeben. Und die größere Persönlichkeit auch nicht. Oder glauben Sie am Ende doch, daß Prominenz die Auslese der größeren Persönlichkeit ist? Oder wenigstens der stärkeren?«

»Der größeren gewiß nicht. Und der stärkeren auch nicht. Vielleicht der robusteren. Das ist beim Theater nicht viel anders als sonst im Leben. Dem einen, der – sagen wir –: die Ellenbogen hat, sich als eine Besonderheit hinzustellen, darzustellen, dem glauben es, nach einer Weile, erst einige, und wenn er's durchhält, schließlich alle, und das dauert so lange, bis der Schwindel aufkommt.«

Ein dankbarer Blick. »Schwindel! wundervoll. Ich kann nicht sagen, wie wohl mir dieses erlösende Wort tut!«

»Ja, aber das ist gar nicht das Entscheidende. Es ist durchaus nicht alles Schwindel, was glänzt. Und es sind nicht immer die Prominenten, die sich selbst in den Prominentenstand erheben. Sondern: wer? Es läßt sich nicht leugnen. Das Publikum. Das Publikum selbst. Das Publikum, das vielleicht 267 wirklich nicht immer das Gefühl für die Qualität einer Persönlichkeit hat, aber immer das Gefühl für den Glanz einer Persönlichkeit. Und so sind es wohl nicht immer die stärkeren Persönlichkeiten, denen das Publikum unterliegt, aber die romantischeren; die legendarischeren; die, die am stärksten auf die Phantasie des Publikums wirken, seine Phantasie am meisten und am nachhaltigsten beschäftigen, mit immer neuer Nahrung, die seinen vagen Vorstellungen von einer romantischen und genialischen Künstlerschaft am nächsten kommen und nicht aufhören, sie zu reizen und aufzuregen. Die Prominenz ist ein Surrogat für die Wunscherfüllung eines immer noch bestehenden, allgemeinen Bedürfnisses nach Heroenkult. Und einem Heroenkult werden Sie doch als magerste Nahrung das bißchen Fettdruck konzedieren müssen.«

»Mit andern Worten: dann ist es nicht die Künstlerschaft, die zur Prominenz berechtigt, sondern eine private Ausstrahlung, Ausstrahlungen des privaten Lebens, die auf die primitive Neugier des Publikums berechnet sind.«

»Mein lieber W., damit tun Sie beiden unrecht: den Prominenten und dem Publikum. Sie legen den Prominenten als Absicht aus, was vielleicht nur Not und eine oft als bitter gefühlte Not ist: im Scheinwerferlicht einer Öffentlichkeit zu stehen, die man aus Existenzgründen braucht und die man zugleich als entwürdigende Unfreiheit, als 268 belästigenden Eingriff in die Heiligkeit des Eigenlebens empfindet. Sie lächeln? Sie glauben nicht recht an die Unfreiwilligkeit dieser Publizität? Um so trauriger, wenn man sich daran gewöhnt hat! Aber sie ist unentrinnbar. Menschen, deren Beruf es ist, allabendlich große Leidenschaften auf der Bühne zu zeigen, die haben sie auch im Leben, und wenn sie sie nicht haben, dann traut man sie ihnen wenigstens zu. Und wenn sich das Publikum für große Leidenschaften und Menschen mit großer Leidenschaft interessiert, so ist das doch eigentlich gar kein so primitiver Zug des Publikums, durchaus nicht bloß Neugier auf Theaterklatsch, sondern vielmehr ein Beweis, daß immer noch Persönlichkeit auf alle am stärksten wirkt und das Bedürfnis nach Persönlichkeit vorhanden ist, das sich dort, wo Persönlichkeiten fehlen, Persönlichkeiten aus dem Nichts aufbaut. So wird das Publikum auf seine Art produktiv.«

»Indem es sich Götzen aus dem Nichts schafft. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben's angebetet und gesagt: das sind deine Götter.

»Immerhin, sie müssen anbeten. Sie müssen verehren. Sie können lieben. Ist das gar so schlimm? Ist das nicht besser als kritisieren? Sie suchen sich Lieblinge aus und vergolden sie sich. Und ist ihre Wahl denn wirklich immer eine falsche? Wenn Menschen nur diese eine Gabe haben, den 269 Menschen zu gefallen, bedeutet das so wenig? Und haben die Prominenten, wie Sie ein wenig geringschätzig die erkorenen Lieblinge des Publikums unter Ihren Kollegen nennen, wirklich nur diese eine? Nicht vielleicht doch noch manche andere? So ganz blind wählt das Publikum nie. Sie wählen nicht alle, die gut sind, aber fast alle, die sie wählen, sind gut. Die Hauptsache aber ist, daß sie wählen. Schließlich kommt es ja doch dem Theater zugute. Die Wirkung einer Persönlichkeit beruht zur Hälfte auf der Leistung. Zur andern Hälfte aber auf dem Kredit, den man bereitwillig einer Persönlichkeit einräumt. Ohne diesen Kredit kann man nicht Theater spielen. Romeo und Julia können vielleicht – vielleicht nur – auf den Kredit zur Not verzichten: daß zwei Menschen jung, schön, verliebt und leidenschaftlich sind, das sieht man, auch wenn sie unbekannt sind. Aber Hamlet! aber Faust! aber Wallenstein! aber Napoleon! aber Cäsar! Wie spielt man Genie, mit welchen schauspielerischen Mitteln, wenn's einem die Leute nicht von vornherein zutrauen? Auch dann muß es noch erst gespielt werden, aber die Leute bemerken es nur, fassen es nur, wenn sie mit der genialen Gesamtpersönlichkeit des Schauspielers vertraut sind, wenn sie mehr von ihm wissen oder zu wissen glauben, als was sie auf der Bühne von ihm sehen. Genie, großes Schicksal, große Leidenschaft traut man keinem zu, von dessen Genie, Schicksal und 270 Leidenschaft man noch nie etwas gehört hat. Das ist nun einmal die Magie des großen Namens. Und daß ein Publikum so bereit ist, dieser Magie zu erliegen, scheint mir nicht seine schlimmste, sondern seine beste Eigenschaft zu sein. Wie öde wäre die Welt, wenn es keine großen Persönlichkeiten gäbe! Und mit den großen Persönlichkeiten die Freude an der großen Persönlichkeit, die dazugehört, wie zur Stimme das Echo, wie zum Buch der Leser, wie zum Theater das Publikum. Und, glauben Sie mir, wie öde wäre der Theaterhimmel, wenn nicht die Sterne daran glänzten!

»In Fettdruck«, bemerkte Freund W. resigniert.

 


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