Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Happy end

Das happy end, der unter allen Umständen glückliche Ausgang, gilt als die unkünstlerische Konzession des Künstlers an den Philistergeschmack, an das philiströse Behagen, das sich nicht durch unbequeme Zuspitzungen stören lassen will, an die philiströse Angst vor der konsequenten Tragik. Der Philister zahlt nicht teures Geld für Theater und Kino, um beunruhigende Probleme zu Ende zu denken, er verlangt vom geistigen Genuß eine gesunde Förderung seiner Verdauung, mit diesem Anspruch sitzt er da, in der getrosten Zuversicht, daß in seiner zu seinem Glück kapitalistischen Welt, in dieser vorläufig besten aller denkbaren Welten, es nicht anders als gut enden kann, genau so zufriedenstellend, wie es in seinem Leben zugeht und auch weiterhin zugehen soll, und daß Probleme, Gegensätze, Verwirrungen, Verwicklungen, kurz, die komischen Sorgen der weniger gutgestellten geistigen Arbeiter unmöglich so ernst sein können, um sich nicht schließlich in einer alle Teile befriedigenden Weise gütlich beilegen zu lassen. Und der Künstler, um seine breite Wirkung und den materiellen Erfolg besorgt, bringt, in unverzeihlichem Kunstverrat, ihm das Opfer seiner Überzeugung, indem er die düsteren Wahrheiten des grausamen Lebens zum tröstlichen Abschluß noch schnell mit rosenfarbener Seligkeit verschminkt 26 und alles in Frieden, Glück und Butter enden läßt.

Gewiß, so tut der unkünstlerische Künstler und so denkt der unkünstlerische Philister. Aber in diesem Gedanken, der heute die Empörung und den Spott aller Intellektuellen, aller Eiferer für den unerbittlichen Ernst der Probleme in der Kunst weckt, begegnet er sich, ohne es zu ahnen, mit dem tiefsten Sinn und Wesen der Kunst. Das happy end befriedigt nämlich nicht bloß die Bequemlichkeit der Philister, sondern eine metaphysische Sehnsucht der künstlerischsten unter den Künstlern, in einem gewissen Sinne sogar der tragischen Künstler.

Um es zu beweisen, müßte ich bei Adam anfangen. Mit dem Augenblick, da das erste Menschenpaar sein Paradies verlor, setzte die Problematik des Menschen ein. Mit der Loslösung von seinem Schöpfer (wie ein Kunstwerk sich vom Künstler löst, um sein eigenes Leben zu leben), mit der Bewußtwerdung des eigenen Lebens im Gegensatz zu ihm, mit dem ersten Trieb zur Erkenntnis, die Auflehnung bedeutet, mit dem Bewußtwerden des Geschlechtsunterschieds, mit dem Erwachen der Scham aus dem Stande der Unschuld, mit der Unterscheidung von gut und böse: und schon entsteht die Verschiedenheit der Charaktere, Differenzierung, und schon tritt, mit all seiner Tragik und in allen seinen Formen, das Übel in die Welt; Neid, Haß, Kampf und Tod. Aber wer einmal im 27 Paradies gelebt hat, kann es nie mehr ganz verlieren. Und so ist im Menschen dunkel auf dem Grunde seines Bewußtseins das Paradies geblieben: die dunkle Erinnerung an das Paradies, als Heimweh nach dem Paradies, als Sehnsucht nach dem Paradies. Die Sehnsucht, wieder eins zu werden mit seinem Schöpfer, eins zu werden mit der Welt, mit Erde und Himmel, Baum und Tier, die Sehnsucht nach dem paradiesischen Frieden und paradiesischer Versöhnung mit der Welt, nach Unschuld und Harmonie. Der Ausdruck dieser Sehnsucht, der dem Menschen gegeben ist, heißt Kunst. Kunst ist Heimweh des Menschen nach dem Paradies. Auch die tragische Kunst. Tragik ist nicht Kampf, sondern Überwindung des Kampfes durch den Tod, Tragik ist nicht Tod, sondern Verklärung des Todes, Versöhnung mit dem Tode durch Vollendung im Tode. Der Tod ist ein tragisches happy end. Denn der letzte Sinn auch der Tragik ist Harmonie mit dem Weltganzen, wie Harmonie der letzte Sinn aller Kunst ist.

(Ich komme zu dieser Anschauung nicht vom Glauben an das Paradies her, sondern von meiner Anschauung der Kunst aus: weil ich alles in der Welt für ein Gleichnis, also für Kunst halte, weil ich die Welt für ein Gleichnis, also für ein [gelungenes] Kunstwerk halte, weil ich den Schöpfer für ein Gleichnis des schöpferischen Künstlers halte.)

Ich sehe den Einwand kommen: wenn der Tod 28 ein happy end ist, dann ist jedes Ende ein happy end; dann gibt es kein anderes als das happy end; dann ist auch der Tod in den Schau- und Trauerspielen des bürgerlichen Lebens, der Mord und der Selbstmord, ein happy end; und erst recht der todlose Ausgang, die Verzweiflung, der Verzicht, die Resignation, das Auseinandergehen, der Abschied, die Perspektive auf ein unglückliches Beieinanderbleiben, der in Permanenz erklärte Irrtum, die Unlösbarkeit des Problems, das Fragezeichen.

Hier liegt der Irrtum. Nur der tragische Tod ist ein happy end. Der bürgerliche nicht. Der tragische Tod und der bürgerliche Tod sind nicht dasselbe. Sie sind zweierlei, bedeuten Verschiedenes. Der tragische Tod ist ein Gleichnis, der bürgerliche eine Realität. Der tragische Tod ist erfülltes Schicksal, der bürgerliche ein trauriger Akzidenzfall. Der tragische Tod ist das erreichte Ende des Heldenweges zu sich selbst, des Schicksalsweges über Kampf und Irrtum, ist das Ende von Kampf und Irrtum, ist Selbsterfüllung im Höchstpunkte des Lebens, in dem Augenblicke, um dessentwillen der Held gelebt hat, über den es kein Hinaus mehr gibt, kein Höher, keine Steigerung, keine andere Möglichkeit als das Ende. Er ist Überwindung der Welt durch die Versöhnung des Ichs mit der Welt, durch Harmonie. Der bürgerliche Tod ist ein dem Leben nicht Gewachsensein, ist Unzulänglichkeit, ist Zerstörung, ist Zerfall mit 29 der Welt. Der tragische Tod ist ein Sieg, der bürgerliche eine Niederlage. Der tragische Tod ist heroisch, der bürgerliche bürgerlich. Der tragische Tod ist Lebensbejahung, der bürgerliche Lebensverneinung. Der tragische Tod ist ein seelisch-metaphysisches Phänomen, der bürgerliche eine körperlich-pathologische Angelegenheit. Der tragische Tod ist künstlerische Form, der bürgerliche eine Anekdote.

Dasselbe gilt erst recht von den andern Formen des unglücklichen Ausgangs. Im Grunde sind sie alle unkünstlerisch. Für den Künstler endet nichts auf der Welt unglücklich. Für den Künstler gibt es die Antithese Glück und Unglück nicht. Sie ist ihm unwesentlich, verschiedene Farbennuancen einer und derselben Substanz, deren Gesetz und Notwendigkeit ihm allein wesentlich ist. Wie kann einer, dem alles Notwendigkeit, Notwendigkeit alles ist, sich um die Begleiterscheinungen des Behagens oder Mißbehagens kümmern! Sein Behagen ist die Übereinstimmung der Notwendigkeiten miteinander, das Einswerden und Stimmen alles Gewordenen in sich und mit der Welt. Er hält es nicht aus in der Welt der unlösbaren Probleme. Kunst ist Lösung des scheinbar Unlösbaren, ist Erlösung vom Problem. In diesem Sinne ist alle Kunst Erlösungskunst. Ein Kunstwerk, das mit dem Fragezeichen endet, ist kein Kunstwerk.

Nämlich: Fragen ist Wissenschaft: die Kunst ist 30 Antwort. Nie wird die Menschheit zu fragen aufhören und jede gelöste Frage birgt bereits Stoff und Ansatz zur nächsten. Aber wie könnte die Menschheit leben, wenn sie von Frage zu Frage taumeln muß, ohne die Kunst der Antwort, ohne die Antwort der Kunst? Kann man sterben, mit einem Wust ungelöster Fragen um sich, in einem Labyrinth ohne Ausgang? Einmal muß jedes Rätsel seine Lösung finden, jedes Geheimnis seinen Sinn offenbaren, der Menschheit wie jedem Einzelnen. Jedem Einzelnen vielleicht erst in seinem Tode, die Menschheit aber ist unsterblich. Und auch der Tod des Einzelnen ist nur der Augenblick des Übergangs zu seiner geistigen Unsterblichkeit. Daß wir nicht den schweren Packen unserer ungelösten Geheimnisse mit in unsere geistige Unsterblichkeit herübernehmen, verlangt unsere tief in uns hineingepflanzte metaphysische Ordnungsliebe, auch sie ist eine Abart unseres Triebes nach Harmonie. Fragen heißt auf Antwort warten, im Aufstellen eines Gegensatzes, im Aufwerfen eines Widerspruchs steckt bereits der Wille zur Ausgleichung und Auflösung, in jeder Dissonanz der latente Wille, sich in einer harmonischen Konsonanz auflösen zu lassen. Das Wissen lehrt fragen, lehrt immer weiter fragen, aber das Wissen antwortet nicht, es ist sein Bestes, daß es fragen muß, daß es nichts weiß, und immer unsicher bleibt, die sichere Ahnung der Künstlerseele antwortet. Alle Unsicherheit wird 31 durch die Wirklichkeit widerlegt, und Kunst ist Gestalt gewordene Wirklichkeit. Unser Suchen nach Gesetz und Sinn unseres Lebens wird durch die Form erfüllt und Form ist Kunst gewordenes Gesetz.

Es widerspricht also dem eigentlichsten Wesen der Kunst, wenn am Schlusse das anklagende oder verzweifelte Warum? steht. Ein Kunstwerk, das mit einem Fragezeichen schließt, negiert sich selbst. Das Kunstwerk entläßt nicht unbefriedigt. Noch aus seiner tiefsten Not, aus seiner melancholischsten Verzweiflung, aus seiner schmerzlichsten Gespaltenheit findet der Künstler den Weg zur Einheit, ja die bloße Tatsache, daß er künstlerisch schafft, daß er seinen Schmerz gestaltet, die bloße Tatsache Kunst ist Wille zum Ausweg, ist Ahnung seiner Möglichkeit, ist Gewißheit, daß es ihn gibt. Was macht denn einen Menschen zum Künstler, zum Dichter, als daß er dieses als ihm aufgegeben in sich trägt: ich ahne die Lösungen, von denen die andern, die Wissenden, nicht wissen können? Die allergrößten, Shakespeare, Cervantes, Molière, Goethe, haben in den Jahren ihrer tiefsten Verdunkelungen, in den Jahren eines schmerzlichen Sichalternfühlens unter Menschenverachtung und Weltflucht in reifer Selbstgestaltung die erlösende Antwort gefunden, bis sie in harmonischen Prosperofrieden und westöstliche Seligkeit landen konnten; alle romantische Ironie und Zerrissenheit war 32 nichts anderes als schamhafte Maske für die Sehnsucht nach verlorenen Paradiesen der Unschuld, für die Sehnsucht, wieder ganz und wieder ganz eins zu werden mit dem All; und selbst Balzac, Dostojewskij, Hamsun, die durch alle Höllen des Lebens und der pessimistischen Anschauung des Lebens durchgegangen sind, sagen letzten Endes ja zum Leben: denn wer, wie diese, selbst eine Welt aufbaut, der bejaht die Welt.

In diesem Sinne ist es wahr, daß jedes künstlerische Ende gewissermaßen happy ist. Eine Sache zu Ende bringen, heißt bereits sie zu einem glücklichen Ende bringen.

Im Leben mag es vorkommen, daß die Dinge wie das Hornberger Schießen auslaufen. Jede Verwicklung ruft neue Verwicklungen hervor, jede Beziehung führt zu neuen Beziehungen, ein Schicksal wird von andern abgelöst, setzt sich in andern Schicksalen fort, alles geht ineinander über, ohne Einschnitt, ohne Unterbrechung, auch der Tod ist keine, die Kette reißt nie ab, das Leben geht weiter, immer weiter. Das Leben ist amorph. Die Kunst aber gibt dem amorphen Leben erst seine Form, und damit Anfang und Schluß. Wer das Leben, ob das Leben der äußeren oder seiner inneren Welt, in ein Kunstwerk verwandelt, in dem entsteht mit dem Anfange schon das natürliche Bedürfnis, es bis zum Ende zu führen, Schluß zu machen, einen deutlichen Schlußpunkt zu setzen. Dieses 33 Bedürfnis wächst aus dem künstlerischen Zwange zur Abrundung, aus der künstlerischen Freude an harmonischer Abrundung. Wie könnte er mit seinem Werke innerlich fertig werden, wie könnte er es bis zum äußerlichen Abschlusse bringen, wenn er alle die Fragen und Zweifel, die es weckt, zuerst in ihm geweckt hat, um sie dann in andern zu wecken, in der Schwebe ließe? Ein Werk beenden heißt es in Harmonie ausklingen lassen. Weil das Geheimnis der Form bereits den Willen zur Harmonie in sich schließt.

Das tiefste Geheimnis der Form ist die Proportion, ist das harmonische Verhältnis aller Teile eines Kunstwerkes zueinander, und so bedeutet der goldene Schnitt vielleicht ebenso ein happy end wie die erfreuliche Tatsache, daß der Hans seine Grete kriegt.

Es ist aber gar nicht so gleichgültig, ob der Hans seine Grete kriegt. Für den Hans nicht, weil ihm das Kriegen der Grete ein Lebensglück bedeutet; für die Grete nicht, weil ihr der Hans nun einmal nicht gleichgültig ist; für die Menschheit nicht, weil sie aus lauter Hänsen besteht und in Hansens Greteschicksal die einzige Garantie ihres Fortbestandes sieht; für den Philister nicht, denn in jedem Philister steckt ein Heiratsvermittler; und für den Künstler nicht, der in der Verlobung von Hans und Grete vielleicht die platonische Idee von der Wiedervereinigung des einst getrennten 34 Zusammengehörigen feiert. Für den Künstler ist im Grunde jede Liebe eine glückliche Liebe und wird in jedem Hans, der seine Grete küßt, das verlorene Paradies noch einmal wiedergefunden.

 


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