Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Heimweh nach der Schmiere

Ich war leider nie an einer Schmiere engagiert; denn Schmieren pflegen sich keine Dramaturgen zu halten. Aber ich habe als Zuschauer Schmieren kennengelernt. Ich meine nicht Schmierenvorstellungen in Wien, Berlin und München, die freilich auch, sondern richtige Schmieren, wo richtig gut Schmiere gespielt wird. Und ich werde nie meine Theatereindrücke in Guntramsdorf vergessen oder jenes Wirtshauslokal in einer ähnlichen Weltstadt, in der die Familie Mick Heinrich Ibsens »weltberühmtes, erschütterndes Lebensbild: Gespenster oder die Sünden der Väter« zu grauenhaft eindrucksvoller Darstellung brachte.

Aber das ist schon lange her, und in meiner ganzen Berliner Zeit ist mir Derartiges nicht mehr zu Gesicht gekommen. Vielleicht gibt es die Schmiere überhaupt nicht mehr. Es sind verdienstliche Unternehmungen entstanden, Wanderbühnen und Theaterbünde und Bühnenvolkskunstverbände aller Art und Gesinnung, die sich bemühen, die Wirkung klassischer und anderer populärer Bühnenwerke in anständigen Aufführungen von 219 mittlerem Provinzniveau in die Dörfer zu tragen. Haben sie die Schmiere verdrängt? Ersetzen können sie sie nie.

Vielleicht hat sich mittlerweile auch die Schmiere modernisiert, und es gibt bereits eine Stilschmiere, und sie spielt vor schiefen Pappendeckeln, auf Treppen (an der plebejischen Schmiere sind es natürlich nur Hintertreppen) oder in (den Geldverhältnissen entsprechend reduzierten) winzigen Erdkugeln mit eckigen Marionettengesten und dem »aufs Wort« gestellten und der Schmiere ja von früher wohlvertrauten, neupathetischen Tiradengebrüll Bronnensche Exzesse und ähnliche Rasputinaden. Arme Schmiere! Wie hättest du dich verändert! Ich will's aber nicht glauben: denn die Schmiere ist konservativ und hat sich lange ein uraltes Repertoire lebendig erhalten, das von den regulären Bühnen seit Jahrzehnten verschwunden war. »Der geschundene Raubritter« und »Der Räuber von Maria Kulm«, »Die beiden Waisen« und »Jane Eyre, die Waise von Lowood«, »Das Schloß am Meer« und »Verlorene Ehre«, Mosenthals »Sonnwendshof« und »Deborah«, »Marianne, ein Weib aus dem Volke« und der »Turm von Nesle«, und des alten Holtei unverwelkbarer »Lorbeerbaum und Bettelstab«. Herrlich! Aber wer kennt das alles noch außer Karl Etlinger und mir!

Raupachs berühmter »Müller und sein Kind«, in meiner Jugendzeit noch vom Ensemble des 220 Wiener Burgtheaters alljährlich am Allerseelentage als traditionelles Benefizgastspielstück verwendet, Mitterwurzer und Lewinsky spielten abwechselnd den Müller Reinhold, ist längst zu den Schmieren abgewandert, zu deren eisernem Spielplanbestande es gehörte.

Alle spielten mit einem heiligen und unerschütterlichen Ernst, mit einer rührenden Hingabe, daß die Kulissen wackelten, die dramaturgische Bearbeitung hauste mit der rabiaten Kühnheit der Ahnungslosigkeit und strotzte von Überraschungen, der Souffleur (die vielseitige Gattin des Direktors) beherrschte den Text besser und lauter als jeder Schauspieler, der Text bestand nur noch aus improvisierten Extempores, von denen eines komischer als das andere ausfiel, die Verse wälzten sich zerrissen auf dem Boden, die Kostüme waren von einer tollen Freiheit vager Zeitandeutung, die Masken waren noch toller als die Kostüme, der technische Apparat versagte tadellos, es passierten die drolligsten Zwischenfälle, und zum Schluß gab es bengalische Beleuchtung und Apotheose, jedes primitive Herz weinte und war erschüttert, jeder kultivierte Geschmack lachte und war erschüttert, Kritik verstummte beschämt, und es war nicht eine Vorstellung, die nicht wenigstens eine gute Anekdote gezeitigt hat, von der noch die spätesten Geschlechter zehren werden. Es ist nicht wahr, daß sich die Klassiker in ihren Gräbern umgedreht haben, denn 221 sie haben ihr Stück ebensowenig erkennen können, wie sie es heute in den berühmtesten modernisierten Aufführungen erkannt hätten.

Ich kann mir nicht helfen, ich fand in der rührend willigen, rührend hilflosen Kunst der Schmiere immer noch mehr Kunst, mehr Schönes, mehr echtes Theater als in sämtlichen Verhunzungen der Weltliteratur durch den Film.

Wer das noch einmal sehen könnte, alle die schönen schlechten Rührstücke und richtige, schlechtgemalte Kulissen und die Rampenbeleuchtung durch stinkende Öllämpchen, und die Ritterstiefel, die entweder so hoch waren, daß sie fast den Bauch verdeckten, was nicht immer leicht war, oder so breit, daß sie nur so um die Beine schlotterten, und die ungeheuren Schlapphüte, unwahrscheinlich schief ins wallende Gelock gedrückt, mit mächtigen, wallenden Federbüschen dran, und überlebenslange Schwerter oder Säbel, die locker in den Schärpen staken oder gar nur im bloßen Hosengurt, und wer das noch einmal hören könnte, das prachtvolle Gebrüll der jugendlichen Helden und die uralten und doch immer neu belachten Späße der reichlich schwitzenden Komiker, die saftig-tapfer in die Aktualitäten des Vormärz hineinleuchteten, und alle die Seufzer und Tränen unglücklicher Liebe! Seitdem es die unglückliche Liebe nicht mehr gibt, macht einem die ganze Liebe, inklusive Erotik, nur noch den halben Spaß. Die 222 Mädchen auf der Bühne waren meist nicht schön und lange nicht so schön, wie sie geschminkt waren, sondern sahen oft recht dürftig und nach erwünschtem Abendbrot aus, aber lieben, das konnten sie, daß es nur so krachte.

Ich will's nur gestehen, es gibt heimliche Stunden, in denen ich mich nach der Schmiere zurücksehne. Aus dem Chaos und der Stilverwirrung und der tastenden Zielstrebigkeit des Betriebes weg nach dem Paradiese der theatralischen Unschuld, nach jener gewiß nicht großen, sondern kleinen, aber sicheren und sich ihres Weges wohl bewußten Kunst. Die keine Zweifel und keine Problematik kannte, die nichts wußte von Dynamik und Rhythmus und Mentalität, sondern die nichts anderes als Theater wollte, als das über alles geliebte Theater, Verkleidung, Verstellung. In der noch nichts von Mechanisierung war, sondern der Mann seinen Mann stellen mußte, recht und schlecht. Die sich lächerlich ernst nahm, aber ohne diesen Ernst und Glauben kann das Theater nicht leben. Nach dieser Schmiere sehne ich mich. Ich sag's ja nicht laut, und es bleibt unter uns, und ich denke, um Gottes willen, nicht gar daran, daß von da etwa die Reform über das Theater kommt. Die Zeit läßt sich nicht zurückschrauben, und aus der Wiedererweckung atavistischer Formen wächst kein Heil; vor dieser Reform möge das so arg verarztete Theater wie vor den meisten übrigen Reformen behütet 223 bleiben! Aber ich sehne mich auch nicht, wie einer, der drüber steht, nach der Schmiere, mit dem vornehmen Lächeln der Überlegenheit: mal auch so was wieder, vielleicht als Hautgout! Nein, richtig untertauchen müßte man, als einer, der dazugehört! Vielleicht fände man dort jenes verlorene Tempelgefühl wieder, das man in seiner Jugendzeit hatte, sooft man ein Theater betrat. Es war kindisch, aber göttlich schön. Das hat nur der, der dazugehört. Und wer es nie hatte, der hat beim Theater nichts zu suchen. Jeder wirkliche Theatermensch gehört irgendwie dazu. Denn die Schmiere ist Heimat und Urzelle des wirklichen Theaters.

Ich bin ja nicht allein mit meiner Sehnsucht nach der Schmiere. Fast alle Prominenten, dieselben, die für die höchste Wut ihres Probenzornes über ein um zehn Minuten verspätet eingetroffenes Kostüm oder einen Knopf daran, der nicht ganz den prominenten Wünschen entspricht, oder gar über einen nicht sofort bewilligten Vorschuß keine andere Entladung kennen als das in die vollbesetzte Welt hinausgeschleuderte: Verdammte Schmiere!, gestehen es einem in der Vertraulichkeit weicherer Stunden, wie sehr sie sich nach der verdammten Schmiere zurücksehnen. Sie packen gerührt die alten Erinnerungen ihrer Schmier- und Wanderjahre aus und sehen sie verklärt im bengalischen Licht entschwundener Romantik und Jugend. Dann gefällt man sich wohl auch darin, unbehindert durch das Gefühl 224 einer immerhin sichergestellten Prominentengage, mit den tollsten und phantastischsten Projekten einer Edelschmiere zu spielen, die auf Teilung arbeitet, und in solchen Augenblicken wäre jeder sofort bereit, noch einmal mit dem grünen Planwagen über Land zu fahren. Denn es gibt kaum einen richtigen Schauspieler, der nicht bei der Schmiere angefangen hätte, und im Grunde gilt diese Herkunft von der Schmiere als Adelsbrief und Freimaurerzeichen der Prominenz.

Die besten sind es, die am stärksten die Sehnsucht spüren.

Was mag es an der Schmiere sein, daß sie so lockt? Die Arbeit ist mindestens ebenso mühevoll, das tägliche Pensum an Auswendiglernen der Rollen, die Probenhetze viel schlimmer, die Widrigkeiten und Unbequemlichkeiten tausendmal größer, der Erfolg, die Geltung viel kleiner. Geldknappheit und Entbehrungen sind selbstverständlich, die Despotie der Direktoren, die Unzulänglichkeit der Regie werden als ebenso drückend empfunden, und die Rivalität der Kollegen macht sich nicht anders geltend als in der Großstadt, durch die zwangsweise Nähe eher noch lästiger. Und das schließlich erreichte Resultat der flüchtigen und jämmerlich-dürftigen Aufführungen kann doch wohl auch nicht die innere Befriedigung geben, die den Schauspieler glücklich macht. Und doch sehen sie alle wehmütig ihr Schmierenleben wie in 225 einer Gloriole verklärt. Ist es wirklich nicht mehr als ein schüchternes Aufmucken, als eine platonische Reaktion gegen die allzu umfriedete Bürgerlichkeit einer beamtenhaft regelmäßigen Existenz? Aus einer uneingestandenen Angst vor der eigenen Verfettung? Aus Angst, daß einem im täglichen Kontakt mit immer demselben, allzu sicheren Publikum der Auftrieb verrinnt, die Kunst zu Technik, Gewohnheit, Routine erstarrt? Bedürfnis, sich sein Talent, seine Wirkung von einem andern, frischeren, naiveren Publikum bestätigen zu lassen, sich vor neuen Leuten selbst zu erneuern? Oder ist es mehr? Der alte Künstlertrieb nach Freiheit, Ungebundenheit, Schweifen, Ferne? Der alte Wander- und Nomadentrieb aller Künstler? Die uralte Verbundenheit und Solidarität der Schauspieler mit allem, was Zigeuner, Gaukler, fahrendes Volk heißt, mit allem Volk der Landstraße, das gute Vagabundenerbe der Zunft? »Räumt die Wäsche weg, die Komödianten kommen!« Ich weiß, es ist lächerlich, es ist Romantik, es ist ein abgebrauchtes Klischee, es paßt nicht in die Zeit, nicht in die wirtschaftlichen, gewerkschaftlichen, gesellschaftlichen Bestrebungen der Schauspieler, es steht in einem grotesken Gegensatz zu ihren heutigen Lebensformen, zu ihrem Lebensstandard. Aber es ist die eigentliche Natur des Schauspielers. Die viel naiver, viel simpler, viel kindlicher und viel romantischer ist, als man denkt. Darum liebt der Schauspieler 226 die Schmiere. Erstens, weil sie echtes Theater ist, mehr Theater als jedes andere Theater, und zweitens, weil er an der Schmiere Komödiant sein darf, so recht von Herzenslust und ungehemmt Komödiant. Der richtige romantische Komödiant, wie er seit der Thespispremiere im Buche steht.

Warum geht denn der Schauspieler, auch der beste, zum Theater? Nicht bloß um Theater zu spielen, sondern, und vor allem, um den Komödianten zu spielen, die Rolle, die ihm von Gott auf den Leib geschrieben ist.

 


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