Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Lustspielstoffe

I.

Aus den besten Lustspielstoffen macht man gemeiniglich die schlechtesten Lustspiele. Und das liegt nicht bloß an den Schneidern. (Womit nicht gesagt sein soll, daß sie aus den schlechten Lustspielstoffen gute Lustspiele machen.)

127 Was sich zum Lustspielstoff eignet, eignet sich noch lange nicht zum Lustspiel.

Da es aber der Heiterkeitsquellen im Leben nur wenige gibt und damit keine verlorengehe, müßte man eigentlich eine neue Literaturgattung erfinden: Lustspielstoffe. Ich erfinde sie mithin.

O weh! Ich habe zuviel versprochen. Ich muß mich dementieren. Lustspiele müßten von Rechts wegen heiter sein. Lustspielstoffe sind es nie.

Figuren, die sich im Leben so unmöglich benehmen, daß sie nur noch im Lustspiel möglich wären, sind eigentlich die traurigsten Gesellen von der Welt.

Mir schwebt das Beispiel eines solchen Phänomens vor. Nennen wir es: das Leben aus zweiter Hand. Ich kenne einen Herrn, der ein Leben aus zweiter Hand führt. Dem Leben ist er nicht gewachsen, für die Bühne ist er zu trübselig, es reicht gerade nur noch für den Lustspielstoff.

Mein Held, mein trauriger Held, paßt natürlich nur in eine Literaturkomödie. In eine Komödie, in der Literatur nicht Subjekt, sondern Objekt ist. Schon das Genre an sich taugt nichts und hat nie was getaugt. Es gibt im ganzen deutschen Schrifttum eine einzige geniale Ausnahme, die nicht wie die Künstlerkomödien sonst den Kredit eines großen Namens zu anekdotischer Kleinmünze ausschrotete, sondern gegen die Literatur an sich als blutlose Seinsform mit Scherz, Satire, Ironie und 128 tieferer Bedeutung anrannte, tapfer nach allen Seiten ausschlug, aus Romantik geboren sich mit romantischem Geiste und romantischen Mitteln gegen die Verführung der Romantik wehrte, gegen schulmeisterlich-jeanpaulesk verkommene Lebensbetrunkenheit, gegen die rousseauisch künstliche Züchtung genialischer Homunculi, gegen Augenblindheit und Zunftaberglauben wissenschaftelnder Fachsimpelei, gegen die menschlich skrupellose Minderwertigkeit egozentrisch eitler Dichterlinge, gegen öde Krafthuberei, gegen teuflische Schnoddrigkeit und Großschnäuzigkeit, gegen den bücherbesessenen Dilettantismus halbgebildeter Schöngeistigkeit. Es ist neben und nach diesem einen, der aus ungeheuren Überschüssen des eigenen Kraftreservoirs schöpfte, weder den Romantikern noch sonst wieder gelungen. Literaturlustspiele (wie übrigens alle Künstlerdramen) kommen nie über die gewisse Apotheose des großen Namens, in Stärken und Schwächen, heraus, die schon daran scheitert, daß jeder unter sich seinen eigenen Begriff als Maßstab mitbringt, je vager, um so unerreichbarer, den keine Verkörperlichung, am wenigsten die des Theaters, auszufüllen vermag; wer sich gar nichts unter Goethe und Schiller zu denken vermag, stellt sich immer noch etwas anderes, erst recht unendlich viel Bedeutenderes vor, als er im »Königsleutnant« oder in den »Karlsschülern« zu sehen bekommt. Oder sie begnügen sich damit, Literateneitelkeit 129 und Künstleregoismus, literarische Moden, die Schlagworte literarischer Gemeinschaften parodistisch zu paraphrasieren. Es ist immer ein Leben aus der zweiten Hand: das Theater, selbst ein Leben aus der zweiten Hand, kann nur Leben aus der ersten Hand darstellen. Darum passen Literaturkomödien nicht auf die Bühne, paßt mein Mann, der ein Leben aus zweiter Hand führt, nicht auf die Bühne, wohl aber in die Literaturkomödie.

Er bezieht sein Leben mit allem, was drum und dran ist, mit allen seinen Motiven, Sensationen, Komplikationen und Verfinsterungen von zwei Dichtern. Schon das wäre für die Bühne um einen zu viel: nichts stört die Wirkung so wie Häufung der Motive. Das Leben kümmert sich nicht darum; es sind eben zwei gewesen, denen nachzuleben er sich entschieden hat. Man muß gestehen, sie sind nicht schlecht gewählt; sein Leben ist sozusagen nicht von schlechten Eltern. Für die Bühne bedeutet diese Wahl nichts, da die beiden Herren aus technischen Gründen nicht vorkommen können; dem Zuschauer gilt nur, wen er sieht: für die Existenz meines Helden war die Wahl lebensentscheidend. Dem einen verdankt er, unter vielem andern, die Religion der kleinen Dinge: sie gibt ihm die Möglichkeit, pietätlos über die großen herzufallen. Vom andern hat er die Schamhaftigkeit der Seele. Seine Seele ist so ungeheuer schamhaft, daß es fast schon schamlos ist, darüber zu reden. Er 130 redet allerdings von nichts anderem. Er lebt von ihrer hautlosen Empfindlichkeit. Sie reagiert mit der Präzision eines Diktaphonapparates, in den abwechselnd von zwei unsichtbaren Stimmen hineindiktiert wird.

Er ist nicht ohne eigene Eigenart, aber aus Eigenart zeigt er sie nicht und aus Schamhaftigkeit versteckt er sie hinter der größeren Eigenart seiner beiden Lebensvorlagen. Ein Peter Schlemihl der Sensitivität, nur kein Herr, der seinen Schatten verloren hat, sondern ein Schatten, der seinen Herrn verloren, aber zwei andere gefunden hat. Und aus Religion der kleinen Dinge begnügt er sich nicht, wie jene zwei zu denken und zu fühlen, sondern er ißt wie sie, er trinkt wie sie und er treibt die andern kleinen Dinge des Lebens wie sie, was nicht bloß sehr mühsam und unbequem sein muß, sondern auch eine große Beherrschung des technischen Rituals der kleinen Dinge voraussetzt.

Natürlich kennt er, da er sehr klug ist, seine mediumistische Veranlagung und rächt sich dafür mit Ironie und witzigen Bosheiten teils gegen sich, teils gegen das Leben und am meisten gegen alle andern. Auf der Bühne wäre das alles viel zu kompliziert, wäre sogar der Dialog allzu fein pointiert, aber in der Wirklichkeit ist es doch eigentlich recht amüsant und amüsanter als viele Lustspiele, wie einer in all seiner Überlegenheit gar nicht er selber ist, sondern gleich zwei andere.

131 Das wäre meine Lustspielfigur. Nun kommt der Lustspielstoff. Mein Held liebt natürlich. Auf der Bühne würde er nur eine Frau lieben. In der Wirklichkeit reicht dazu die Liebesfähigkeit seiner allzu empfindlichen Seele nicht, er liebt alle Frauen. Wenn er eine Frau liebte, würde er sie nach den vorgeschriebenen Hindernissen vielleicht kriegen. Da er alle liebt, kriegt er keine. Da nützen ihm die kleinen Dinge nichts, mit denen er seine Dulzineen religiös umgibt, und die ungeheuren Quanten von Schamhaftigkeit, die er produziert, noch weniger. Auf die Dauer sind die Frauen nicht für das und reagieren sauer. Die Bühne würde nun, mit ihrer Vorliebe für grobe Kontraste, irgendeinen Naturburschen auftreten lassen, mit dicken Waden und Wadenstrümpfen, einen frisch-fromm-feucht-fröhlichen Seemann oder einen Afrikareisenden, der mit dem Faustgriff der ungebrochenen Simplizität dem Komplizierten das Mädchen vor der Nase wegschnappte. In der Wirklichkeit braucht dieser den Kontrastkerl gar nicht; auch ohne ihn kriegt er keine und muß sich, allein oder höchstens mit einem sehr guten Witz, in sein Junggesellenbett legen. Oder gibt es, in einem Leben aus zweiter Hand, auch eine Liebe aus zweiter Hand?

Und die Nebenfiguren? Die vielen Vertrauten seiner Schamhaftigkeit, der Reigen der angebeteten Madonnen und Königinnen des Lebens, die, zuerst vom Feuerwerk des Witzes angezogen, 132 enthusiasmiert um sein gedämpftes Licht flattern, bis den Enttäuschten vor der Andacht der kleinen Dinge ebenso flau wird wie vor der Reizsamkeit der großen Seele, und schließlich der schadenfrohe Chorus aller Ironisierten und Bewitzelten. Witwe Bolte, mild und weich, meinte nur: Ich dacht' es gleich, und der gute Onkel Fritze: Ja, das kommt von schlechte Witze!

Ist es nicht ein guter Lustspielstoff? Aber wenn sie's auf dem Theater spielen, wird es langweilig und fällt durch.

II.

Wie gesagt: die besten Lustspielstoffe des Lebens sind die schlechtesten der Bühne.

Ich wüßte einen so reizenden, heiteren, lustigen, sympathischen Lustspielstoff: das Ehepaar, das treu ist. Im Leben lachen sich alle Leute tot darüber; wenn es auf die Bühne gebracht wird, lacht kein Aas oder wie man die Leute, die partout nicht lachen wollen, zu nennen liebt.

Dabei ist das Sujet neu, überraschend, ja geradezu kühn. Wer weiß, was die Zensur dazu sagen würde, wenn es sie noch gäbe! Es entbehrt also nicht einmal der pikanten Nuance der Zensurbedenklichkeit. Es entbehrt nicht einmal der Phantastik, bei der Seltenheit seines Vorkommens in der Natur. Warum also nicht?!

Alle Variationen, Permutationen, Kombinationen 133 des Ehedreiecks sind erschöpft. Es hat schon jeder mit jedem, jede Seite mit jeder Seite etwas gehabt, alle Winkel des Dreiecks sind raffiniert ausgenützt. Das Thesenstück entwickelt Lehrsätze, von denen sich kein Pythagoras etwas träumen ließ, und es gibt keinen goldenen Schnitt, nach dem noch nicht geliebt und betrogen worden ist. Warum ersetzt man nicht das Eheterzett durch das viel harmonischere Eheduett? Zwei Leute sind einander unentwegt treu. Das ist doch sehr schön. Nicht bloß drei Akte lang, nein, das ganze Leben. Das beschäftigt sie so ausgiebig, daß sie zu nichts anderm Zeit haben. Sie sind einander so treu, daß sich keine Versuchung an sie herantraut. Es ist auch kein Platz zwischen ihnen, in den sich ein Dritter eindrängen könnte. Sie spielen Himmel auf Erden und denken nicht daran, mit dem Feuer zu spielen. Sie denken nicht einmal daran, sich scheiden zu lassen.

Was geschieht also? Nichts. Es geschieht nichts. Sie warten umsonst. Im Leben ist dieses Warten auf etwas, das nicht kommt, oder gar auf nichts, das kommt, höchst spannend. Auf der Bühne leider nicht. Für das Theater ist dieses Nichts nichts.

Wie? Nichts? Ist das nichts? Alle Gemeinsamkeit der Welt nichts? Alle Fröhlichkeit der Gemeinsamkeit? Und auch nicht ohne den Schatten, der dazu gehört, ohne den es keine Fröhlichkeit gibt, den jede Sonne wirft, und den man sich nicht bei Dritten und beim Draußen zu leihen braucht, 134 weil ihn jeder in sich hat. Eine gute Ehe schließt das ganze Leben in sich ein, und glaubt mir, das Leben kann sehr fidel sein, auch wenn es nichts zu brechen und zu – biegen gibt.

Es gibt nicht bloß die »surprises du divorce« und die Überraschungen des Ehebruchs, sondern auch die Überraschungen der Treue, und wer weiß, ob es nicht die tollsten Überraschungen sind, und der Ehemann, der in flagranti bei einer Treue erwischt wird, würde nicht die unamüsanteste Lustspielfigur abgeben.

Kann man nicht zu zweit viel mehr erleben als zu dritt? Viel Feineres? Viel Komplizierteres? Viel Tieferes? Das ganze amüsante und abwechslungsreiche Spiel von Wahrheit, die Lüge, und von Lüge, die keine ist? Verwirrung und Entwirrung der Gefühle? Die Komödie der Worte, hinter denen sich der eigentliche Mensch versteckt, und der deus ex machina der Ehe, der ihn enthüllt? Ist es wirklich bloß die plumpe Gefahr des Ertapptwerdens, die den Witz in die Sache bringt? Ist Ehe an sich nicht witzig genug? Und gibt sie nicht Gelegenheit zu den saftigsten Pointen, die vielleicht sogar die Kritik entwaffnen, sicher aber die Zensur bewaffnen würden? Eine glückliche Ehe kann mit witzigen und spitzigen Pointen so gestachelt sein, daß der glücklichste Ehemann ein Lied darüber singen könnte. Der Ehebruch ist das Privileg der unverstandenen Frau: aber die verstandenen Frauen sind 135 eigentlich viel pikanter und lustiger als die unverstandenen. Und manchmal sogar gefährlicher!

Der Ehebruch kann allerdings auf eine alte und ehrwürdige Tradition zurücksehen und erfreut sich einer ziemlich allgemeinen Beliebtheit: denen, die's erleben, scheint er einen gewissen Spaß, denen, die zuschauen, das Vergnügen einer gewissen Schadenfreude zu bereiten. Aber vielleicht ist auch die Treue geeignet, nicht minderen Spaß und nicht weniger Schadenfreude hervorzurufen; es fehlt ihr nur noch die Tradition.

Aber was nicht ist, kann werden, und was noch nicht vorhanden ist, muß man erfinden. Es müßte halt einer einen besonders eklatanten und aufreizenden Fall von Treue erfinden, mit allen Heimlichkeiten, Spannungen und Enthüllungen des Metiers: dann wird das Publikum schon Geschmack daran gewinnen, und wer weiß, ob die Treue nicht noch am Ende populär wird! Womit das Theater sich wieder einmal als moralische Anstalt betätigen würde.

Freilich wird es immer Leute geben, die fragen, ob das Leben denn gar keine andern Inhalte hat als das ewige Hin und Her der Liebe und der Untreue, und denen wird auch das Hin und Her der Treue nicht genügen. Aber wenn man diese Superklugen und Allzuernsten Hand aufs Herz fragt, was für andere Inhalte sie eigentlich meinen, fällt ihnen auch nichts Gescheites ein oder höchstens etwas 136 Dummes, wie Geld oder Politik, und sicher nichts halb so Gescheites und Lustiges wie die Liebe und ihre angenehmen Kehrseiten. Es ist nun einmal so, daß den Menschen die kleinen Lustspielstoffe des täglichen Lebens das Wichtigste sind und das meiste Vergnügen bereiten, die menschliche Schwäche ist die force majeure des Theaters, und die menschliche Schwäche kommt nirgends so stark heraus wie in der Liebe und in der Untreue. Daß sie in der Treue noch stärker herauskommt, wird eine neue Entdeckung sein und die Legitimation der Treue zum Lustspielstoff.

III.

Wie andere berühmte Sammler Maikäfer, sammle ich Lustspielstoffe.

Ich habe es bereits auf drei gebracht.

Die drei beliebtesten Lustspielstoffe sind: der Tod, das Testament, die Vereinsgründung.

Die drei kehren, in zahllosen Varianten und Verkleidungen, immer wieder und krabbeln sich, aus den Tüten von Papier, an das erstaunte Rampenlicht, das die Welt bedeutet.

Der gestohlene Paletot gehört bereits in jene höhere Literaturgattung der Komödie, die, nicht nach der Stoffarmut der Autoren, als Diebskomödie bezeichnet wird.

Anders als sonst in Menschenköpfen malt sich in den Köpfen der Lustspieldichter die Welt.

137 In der Lustspielwirklichkeit geht es folgendermaßen zu:

Wenn ein streng sittlicher Mann stirbt, stellt sich nach seinem Tode heraus, erstens: daß er ein Filou gewesen ist; zweitens: daß ihn seine Frau betrogen hat; drittens: daß er noch nicht gestorben ist.

Wenn der Verstorbene ein Filou war, stellt sich heraus, erstens: daß er der weitaus anständigste in seiner ganzen Umgebung war; zweitens: daß ihn seine Frau betrogen hat; drittens: daß er nichts weniger als tot ist.

Streng sittliche Menschen pflegen durch ein Testament in den Besitz eines Bordells zu kommen, mit welcher Tatsache sie sich schließlich angenehm abzufinden wissen. (Während in der Wirklichkeit streng sittliche Menschen sich auch ohne Testament mit derselben Tatsache angenehm abzufinden wissen.)

Der Lustspielautor gründet einen Verein (Schule, Siedlung, Gemeinschaft, Partei), über den er sich lustig macht, mit Schlagworten, die er in Gänsefüßchen setzt, offenbar, weil sie seinen eigenen Gänsefüßchen entgegengesetzt sind. Der Verein (Schule usw.) ist literarischer, pädagogischer, ethischer usw. Natur, jedenfalls irgendeiner Natur, die nur in Verbindung mit dem Worte: neu vorkommt, weil das Lustspiel, in treuem Andenken an den Ahnherrn Aristophanes, der auch reaktionär war, etwas gegen das Neue hat. Darum ist auch die 138 Seele des Vereins usw. jedesmal ein Heiratsschwindler oder sonstiger Hochstapler, weil sich ja diese minderwertige Menschensorte mit nichts anderm als mit der Gründung literarischer usw. Vereine abzugeben pflegt. Seine Gegenspielerin ist eine höchst emanzipiert aufgeschminkte Naive, ein radikales Mädchen, das entschlossen bis an die vorletzte Grenze geht, grundverdorben, aber doch nicht so verderbt, daß sie nicht zum Schluß von einem kerngesunden Leutnant (es gibt sie noch im Lustspiel) oder sonst welchem Afrikareisenden gehappyendet werden könnte.

Ja, ja, so ist das Leben.

Aber dann ist das Leben auch so, daß ein junger Mann der ihm von seinem Vater (Onkel, Vormund, Vorsehung) zugedachten Braut, die er nie gesehen hat und unbesehen ablehnt, zufällig – unter sämtlichen Mädchen und Frauen der Welt ausgerechnet dieser einen – und dazu noch in der allgemein üblichen Verkleidung als Zofe begegnet, in die er sich »oder in keine!« glühend verliebt. Man kennt die bei jungen Herren der bessergekleideten Stände verbreitete Tendenz, mitgiftlose Zofen zu heiraten, und ahnt das Ende. Auf der Tatsache, daß in der Lustspielwirklichkeit junge Leute einander nie oder nur unter falschem Namen vorgestellt werden, bauen sich abendfüllende Mißverständnisse auf, die nur ein letzter Aktschluß gordisch zu lösen imstande ist.

139 Backfische, die sich in die unbekannten Autoren ihrer Lieblingsromane oder Lieblingspsychoanalysen verliebt haben, lernen diese regelmäßig kennen und heiraten, auch wenn sie ihrer ursprünglichen Idealvorstellung nicht entsprechen. Gerade deshalb, behauptet die dem tief schürfenden Lustspiel eigentümliche Auffassung eben dieser psychoanalytischen Methoden.

Tief eingewurzelt ist dem Lustspiel ein rousseauischer Haß der reinen und gesunden Natürlichkeit gegen die verderbte und komplizierte Zivilisation. Dieser wird es gegeben, und oh, wie grob! Natur verkörpert sich außer in den genannten Leutnants und Afrikaforschern gern in wohlhabenden Gutsbesitzern von erdhaft erquickender Frische und Simplizität der Diktion, die sich allerdings den Besuch der bei der sittlich so unverdorbenen Landbevölkerung sonst beliebten Unterhaltungslokalitäten nicht anmerken läßt. Sehr beliebt ist auch Amerika und die unbeschreiblich naive und herzgewinnende Art dollarschwerer Amerikaner, die bekanntlich immer die Wahrheit sagen oder wenigstens radebrechen müssen, auch dort, wo sie nicht hingehört – aber sie gehört natürlich überall hin, besonders ins Lustspiel und besonders gegen das Ende des dritten Aktes –, und sie sagen sie, nicht des Applauses wegen, der dem galant radebrechenden Bonvivant sicher ist, sondern weil dem Amerikaner außer Geld auch Herz, Mund, Faust 140 und andere Dinge auf dem rechten Flecke sitzen. Während als Vertreter der minderwertigen Zivilisation mit Vorliebe Angehörige der sogenannten geistigen Berufe entlarvt werden.

Liebe führt im Lustspiel ausnahmslos zur Ehe, Ehe ausnahmslos zum Ehebruch, dessen Vollziehung bei Hauptfiguren im letzten Augenblick unterbleibt, Nebenfiguren als abschreckendes Kontrastbeispiel dagegen gestattet ist.

Die Scheidung wird im Lustspiel durchaus mit Wiederversöhnung der geschiedenen Eheteile bestraft.

Ich glaube, in dieser Aufzählung die wichtigsten und repräsentativsten Lebensprobleme zusammengefaßt zu haben, die das Lustspiel in unermüdlicher und unerbittlich scharfer Beobachtung der brausenden Gegenwart abgewonnen hat, ein wundervolles und erschöpfendes Gesamtbild aller geistigen und seelischen Kräfte der Nation.

IV.

Lustspieldichter sind meist in Verlegenheit. Um jedes Mißverständnis abzuschneiden: ich meine natürlich in Stoffverlegenheit. Man rät ihnen von allen Seiten: Greifen Sie nur hinein ins volle Menschenleben. Sie greifen. Und wo sie's packen, ist es uninteressant. Liegt das am vollen Menschenleben?

Sie möchten gern ihre Stoffe einmal wechseln. Aber es gelingt ihnen nicht. Der Stoffwechsel 141 bekommt ihnen nicht. So bleibt denn jeder bei seinem alten bewährten Stoffe und begnügt sich damit, ihn, wie ein sparsamer Lebemann, zu wenden.

Wo ist ein Gesellschaftslustspiel? Man hat einen Preis auf ein Gesellschaftslustspiel gesetzt. Man hätte vorher einen Preis auf die Gesellschaft setzen sollen. Wo ist eine Gesellschaft? Ohne Gesellschaft kein Gesellschaftsstück.

Die meisten der eingereichten Gesellschaftsstücke spielten in der Gesellschaft von Verbrechern. Womit kein Rückschluß auf die gesellschaftlichen Zustände der Zeit geschlossen werden soll.

Eines spielte in Bankkreisen. Aber man merkte den Unterschied nicht.

Der Verbrecher ist salonfähig geworden. Und der Salon, wenn's das noch gibt, vice versa. Wallace auf der ganzen Linie!

Aber das kann doch nicht das ganze volle Menschenleben sein. Die Gentleman-Einbrecher in allen Ehren: aber es muß doch noch andere Einbrecher und vielleicht sogar andere Gentlemen geben.

Man möchte den Lustspieldichtern gern helfen. Erstens, weil man allen Menschen helfen soll, und zweitens, weil es die Ärmsten der Armen sind. Es ist schwer. Man traut sich nicht recht. Es sind ja auch meistens zwei gegen einen.

Sie suchen sich am liebsten die beliebtesten Schlagworte aus und glauben damit aktuell zu sein. Sie halten die Aktualität an sich bereits für einen 142 Witz. Das ad absurdum geführte Schlagwort ist kein Lustspielstoff. Der Kampf gegen Gänsefüßchen reicht gerade für einen Artikel. Die Opfer von Schlagworten sind keine Menschen, weder typische noch individuelle, sondern bestenfalls Leser. Lesen ist keine Bühnenfunktion.

Die Schlagworte sind immer wieder literarische Schlagworte und die Schlagwörterlustspiele immer wieder Literaturlustspiele. Und das Literaturlustspiel, das abgebrauchteste von allen, interessiert Literaten am wenigsten und das andere Publikum, das angeblich zahlende, gar nicht.

Wie wäre es, wenn die Lustspieldichter einmal statt des Lesens auf eine andere Quelle des dichterischen Schaffens kämen? Zum Beispiel auf das Sehen. Wie wäre es, wenn sie einmal auf den Einfall gerieten, sich das Leben, statt es zu lesen, mit eigenen Augen ein wenig aus der Nähe zu besehen?

Machen wir, lautet die Antwort. Gehe ich nicht alle Abende, natürlich nur zu Studienzwecken, in alle Bars? In alle Tanzdielen? Fragen Sie meine Frau, die sich darüber aufregt und bereits anfängt, eifersüchtig zu werden! In die Kabaretts, Gott sei's geklagt? Zum Sechstagerennen? Sehr interessant, direkt psychologisch, aber keine Handlung. Bin ich nicht Stammgast in allen Strafprozessen in Moabit? Oh, was das Leben anlangt, das kenne ich. Aber Lustspielstoffe habe ich noch keinen darin entdeckt.

Aber das ist es nicht, was ich meine. Das Leben, 143 das heißt nicht: die Bar. Und heißt auch nicht: Moabit; oder das Sechstagerennen. Sondern alles, was den ganzen Tag über rings um einen in der Nähe geschieht, in der Straße, im Nachbarhaus, in der Nachbarwohnung. Und wenn es die eigene Frau wäre. Wenn man einmal anfängt, die Augen aufzumachen, dann besteht das ganze Leben aus nichts als aus Lustspielstoffen.

Es gibt nämlich nur einen Lustspielstoff: die Schwächen der Zeit. Die Zeit hat doch welche? Oder nicht? Man sieht ja die Zeit vor lauter Schwächen nicht. (Was, nebenbei bemerkt, von allen Zeiten gilt.) Das Beste an der Zeit sind ihre Schwächen. Wenigstens für den Lustspieldichter. Sie müssen es sein, denn er lebt ja davon. Und es handelt sich nur darum, die repräsentativsten herauszufinden.

Eine ist die Politik. Die Politik ist eine Schwäche der Zeit. Die schwache Politik ist wieder eine Schwäche der Politiker. Jedenfalls muß die Ansammlung so vieler Schwächen kräftigste Lustspielwirkungen hervorrufen. Leider nur selten ausgenutzte. Volle Häuser und nicht nur ihre Balken würden sich biegen, wenn das »Hinter den Kulissen der Politik« sich vor den Kulissen des Theaters abspielte. Und dabei wäre eine Gelegenheit, alle die guten Komödianten, Versteller und Brunnenvergifter der ältesten Schule wieder einmal ausgiebig zu beschäftigen.

144 Eine andere Schwäche der Zeit ist die allgemeine Automobilbesessenheit. Eine abendfüllende Modenschau der lächerlichsten Eitelkeiten und Snobismen. Dabei die erregendsten Situationen, eine Handlung voll von Spannungen und Pannen. In der Automobilindustrie vermute ich ungeheure Kräftereservoire aller menschlichen Schwächen. Gibt es ein klassischeres Lustspielmotiv: man glaubt zu schieben, und es wird geschoben? Ich finde, die Automobilindustrie ist überhaupt nichts anderes als ein Lustspielstoff.

Aber ein Lustspielstoff ist noch kein Lustspiel. Und so sind auch Politik und Automobilindustrie noch keine Lustspiele, sondern die Politik ist ein Geschäft und die Automobilindustrie die heilige Sache des Volkes – nein, ich habe schon wieder die Begriffe verwechselt, die Politik ist die heilige Sache und die Automobilindustrie ein Geschäft –, wenigstens halten wir alle, die wir keine Automobilfabrikanten sind, sie dafür. Und erst der Lustspieldichter, der auto- und autoritätslose Autor, dieser verwegene, frivole und frechwitzige Bursche, der so respektlos ist, keinem Lügner seine Lüge zu glauben, wäre imstande, aus dem Geschäft ein Lustspiel und aus dem Lustspiel sogar ein Geschäft zu machen.

Wenn er dazu imstande wäre!

Die Schwächen der Zeit allein genügen nicht. Aus ihnen muß der Autor seine Stärken ziehen. 145 Der unbeteiligte Beobachter seiner Zeit ist gerecht, ist milde, aber nicht stark. Mit der dichterischen Objektivität schafft man die satirische, aggressive Zeitkomödie nicht. Dazu gehört Angriff, Ingrimm, Impetus. Wer allzuviel versteht, verzeiht zuviel. Noch gibt es zuviel Unverzeihliches in der Zeit. Es gibt noch Richter in Preußen, rechtsgewandte, rechts gewendete, ein Reichsgericht im Reich: warum schweigt das Gericht auf der Bühne? Ein Autor muß die Schwächen seiner Zeit kennen; gründlichst, wie wenn sie seine eigenen wären; aber er muß sie nicht bloß kennen, er muß sich ehrlich über sie ärgern; wie man sich nur über Schwächen ärgert, unter denen man persönlich leidet. Aber dann doch auch wieder nicht so ärgern, daß ihn der Ärger schwach macht. Er darf die richterliche Überlegenheit oder, was dasselbe ist, seinen Humor nicht verlieren. Denn nur der Angriff des Humors ist produktiv. Aber auch der geht ohne eine gewisse monomane Besessenheit nicht, die einem jedesmal die eine Schwäche der Zeit als ihre eigentliche erscheinen läßt: diesmal hab' ich's; diesmal habe ich die repräsentativste von allen Schwächen entdeckt, die aller Übel Wurzel ist. Beim nächsten Lustspiel wird ihm dann, mit derselben monomanen Besessenheit entdeckt, schon eine andere repräsentativste Schwäche einfallen. Denn die Zeit ist, Gott sei Dank! unerschöpflich an Schwächen.

Beides: die gereizte Besessenheit des 146 persönlichen Erlebens und der weltüberlegene Humor war in allen großen Meistern des Lustspiels, Kennern der menschlichen Schwächen und Geißlern ihrer Zeit, gleich wirksam: so war Aristophanes, so war Molière, so war Nestroy und so war Courteline.

Also die Schwächen wären das wenigste, erwidern die immer noch verlegenen Lustspieldichter; die wissen wir. Aber was uns fehlt, ist der eigentliche Lustspielstoff: die Handlung.

Das ist nämlich der große Irrtum: daß jene Schwächen, die ihr Hauptthema sind, und die Handlung zweierlei seien; daß man unbedingt das Hauptthema in irgendeine Handlung hineinstellen muß, die man dazu erfindet und die im Grunde mit dem Hauptthema nichts zu tun hat.

So machen sie es alle, und das ist der Grund, warum wir nur Situationslustspiele, aber keine Charakterkomödie und keine Zeitsatire haben. (Mit wenigen Ausnahmen.)

Schwächen und Handlung sind eins. Die Schwächen sind schon, sind eben die Handlung.

Eine wirkliche Handlung läßt sich nicht erfinden,. braucht nicht erfunden zu werden, kann nicht erfunden werden. Sie ist da, muß sich aus der jedesmaligen Besonderheit der menschlichen Schwäche, um die es sich handelt, mit zwingender Logik, in einfachster Notwendigkeit von selbst ergeben.

Es gibt nur eine Lustspielhandlung: das Mißglücken des Versuchs, die menschliche Schwäche, 147 die menschliche Natur zu ändern. Sie läßt sich nicht. Der Mensch ist unverbesserlich. Und wenn er auf alles verzichten muß, auf seine Schwäche verzichtet er nicht. Er hat offenbar nichts Besseres.

Er weiß es nicht immer. Je weniger er darum weiß, um so reicher und amüsanter die Handlung, ihn zu ändern, und um so mehr freuen sich die als Publikum organisierten Andern, daß er unverbesserlich ist.

Leider gilt dasselbe von den Lustspieldichtern. Nur wissen sie es auch nicht. Trotzdem rate ich, aus den oben angeführten Gründen, davon ab, sie als Lustspielstoff zu verwenden. 148



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