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Tragik ist der Kampf zwischen dem prätendierten Freiheitswillen des Ich und dem notwendigen Gange des Ganzen.
In diesem Goethischen Satz ist mit einer beglückend genialen Selbstverständlichkeit und Lückenlosigkeit das Wesen des Tragischen auf seine endgültige und unumstößliche Formel gebracht. Sie ist seither für alle, die sich mit der Definition der Tragik beschäftigten, zu einem Axiom geworden, dem, wie einer mathematischen Identitätsgleichung, nichts hinzuzufügen und nichts wegzunehmen ist. Von Aischylos bis zu Barlach, Brust und Brecht ist damit das Problem jedes tragischen Dramas in seinem innersten Kern bloßgelegt.
Vier Faktoren sind nach dieser Formulierung am tragischen Geschehen beteiligt. Drei von ihnen ändern sich, als Repräsentanten des wechselnden Zeitbegriffes, der dadurch zu einem immanenten Element des Dramas, zum lebendigen Gegenspieler wird, von Periode zu Periode, von Weltanschauung zu Weltanschauung, von Generation zu Generation. Einer bleibt durch alle Jahrhunderte unverändert und unzerstörbar: das ewige Ich.
Der Kampf zwischen dem ewigen Ich und der zeitlichen Welt, der wechselnden Zeit ist das tragische Grundproblem von Anbeginn und wird es immer bleiben.
17 Es gibt eine eingeborene Weltanschauung des Tragikers, und sie ist individualistisch. Sie glaubt an das Ich, an das starke, bewußte, ungeteilte und unzerstörbare Ich: an die Individualität. Es gab Individualitäten, lange bevor es den Begriff der Individualität gab, lange bevor es einen Individualismus als Postulat einer Weltanschauung gab, bevor die Renaissance die Individualität entdeckte, sogar bevor Burckhardt die Renaissance als das Zeitalter der entdeckten Individualität entdeckte. Und es wird Individualitäten geben, auch wenn Mach und seine Schule die selbstherrliche Unteilbarkeit des Ich zerstört haben, wenn die Psychoanalyse seine schizophrene Natur dekuvriert, wenn die neueste Biologie es in eine republikanische Gemeinschaft gleichberechtigter Zellen oder Pilze aufgelöst haben wird.
Alle Tragik ist ein Hohes Lied auf das Ich. Alle Tragik ist optimistisch: sie bejaht das Ich; sie verneint die Welt. Im Zeitlichen siegt die stärkere Welt über das Ich; im Ewigen siegt das stärkere Ich über die Welt. Die Tragik besiegelt den Sieg des Ewigen über das Zeitliche. Tragik ist die Erlösung des Ich von der Welt durch die Welt zu sich.
Das Ich ist ewig und hat, in seiner zeitlichen Gebundenheit, ewig so gehandelt, als ob es sich frei fühlte. Denn Ichsein, sein Ich wollen und dieses Als ob sind identisch. Tragisch ist: sein Ich und dessen Freiheit im Ewigen nur dadurch erreichen, daß es 18 an den Gegebenheiten des Zeitlichen zerschellt. Darum müssen die Gegebenheiten des Zeitlichen mit der wechselnden Zeit wechseln: es wechselt das Bild des Ganzen, die Welt; es wechselt der Begriff der Gebundenheit, der notwendige Gang des Ganzen; es wechseln die Formen des Gegensatzes zwischen Ich und Welt, die Formen des Kampfes. Nur das Ich wechselt nicht, es bleibt unverändert, es bleibt ewig.
In der mythosnahen Welt der Antike heißt Ananke und Fatum, was in der Welt des Mittelalters und der katholischen Kultur der Spanier Gesetz der Kirche und Gebot der Ritterehre hieß. Und wenn in der Renaissancewelt Shakespeares überlebensgroße Träger der menschlichen Passion am immanenten, jedesmal andern Gesetz eines von ihm geschaffenen, jedesmal neuen Leidenschaftsmikrokosmos scheiterten, war es in der Tragödie des französischen Barock der strenge Sittenkodex einer höfischen Welt, der sich feierlich-feindlich dem individuellen Gefühl gegenüberstellte. Das große geschichtliche Trauerspiel der deutschen Klassik statuierte zum erstenmal den Begriff der historischen Notwendigkeit, während in der Nähe der im Übernatürlichen schwelgenden Romantik das Schicksalsdrama entstand, mit der abergläubisch geahnten Macht eines dunklen Verhängnisses als unsichtbarem Motor. Das naturwissenschaftlich und soziologisch eingestellte neunzehnte Jahrhundert zeigte 19 den Einzelnen in seiner Abhängigkeit von Vererbung und Milieu, in seinem Gegensatze zu bürgerlicher Gesellschaft und kapitalistischen Mächten. In allen diesen wechselnden Verkleidungen: Ananke, Fatum, Kirche, Ritterehre, Schranken der Leidenschaft, Sitte, geschichtliche Notwendigkeit, Schicksalsverhängnis, Milieu, Vererbung, Gesellschaft drückt sich, im Wechsel der Weltanschauungen, die zeitliche Gebundenheit des Ich aus. Ebenso ändern sich die Formen seines Kampfes: Hybris, Heroismus, Aufopferung, Martyrium, historischer Wille, historischer Irrtum, Aufruhr, Auflehnung, Resignation, Pflichtenkollision und innerer psychologisch aufgezeigter Kampf mit sich selbst, zwischen dem eigentlichen Ich und dem zeitlich gebundenen.
Zu glauben aber, daß, weil in irgendeiner vorübergehenden Periode die Gemeinschaft den Einzelnen vergewaltigt, kollektivistische Tendenzen stärker hervortreten als individualistische, daß deshalb das Ich, die Individualität aus dem Drama verschwinden könnte, daß an die Stelle des individualistischen ein kollektivistisches Drama treten werde, heißt das Wesen des Tragischen verkennen.
Kollektivistische Tragik ist ein Nonsens, eine Contradictio in adjecto.
Selbstverständlich wird der Gemeinschaftsgedanke, als eine zeitliche Gegebenheit, seinen Platz im Drama finden, hat ihn wohl auch schon oft, so 20 oft er auftauchte, gefunden. Unter den zeitlichen Gegebenheiten. Als Gegenspieler des Einzelnen, der sich dem Einzelnen in seinen tragischen Weg stellte, gegen den sich der Einzelne auflehnte.
Will die Gemeinschaftsidee die dramatische Form für sich allein, dominierend, usurpieren, mag sie sich im Film, in der Revue austoben. Das sind Kunstformen, die ihren mechanisierenden Tendenzen, ihren Massenwirkungen, Wirkungen auf die Masse durch die Masse, organisch entgegenkommen.
Es ist eine primitive Auffassung und Anwendung materialistischer Geschichtsmethoden, zu verlangen, daß ein bloßes Vorhandensein von Gemeinschaftstendenzen innerhalb einer Generation stark genug sei, ihnen die innerste geistige Struktur einer gewordenen Kunstform in ihrer Totalität anzupassen. Als ob sich derartige Entwicklungen und Wandlungen auf dem Wege über das Postulat vollzögen! Als ob sich Derartiges von Einzelnen willkürlich oder gar auf Kommando machen ließe! Revolutionieren wir das Drama! Am Ende auf Grund einer mit Stimmenmehrheit angenommenen Resolution in einer Versammlung der angehenden Gemeinschaftsdramatiker? Was wird das Resultat dieser Revolutionsresolution sein? Dilettantismen, Zwitterformen von Eintagsbestand. Selbst wenn man zugibt, das Theater sei als öffentliche Tribüne des geistigen Lebens äußeren Einflüssen am 21 stärksten ausgesetzt und am nächsten, und wenn man annähme, daß die Gemeinschaftstendenzen allgemeiner verbreitet wären, als sie sind, ja daß sie die dominierenden wären, was sie noch lange nicht sind, und daß es ihnen bereits gelungen wäre, den Gesellschaftsbau umzugestalten, selbst dann vollzöge sich ihr Eindringen in die geistigen Formen nicht von außen, sondern von innen, und es dauert Generationen, bis die Umwandlung sichtbar wird; denn es ist selten die Generation des Kampfes, die ihren Kampf zur Form geworden erlebt, sondern meist erst die Generation des durchgesetzten und sich fixierenden Zustandes, für die der Kampf der vorhergehenden Generation zum Kristallisationsprozeß der Geschichts- und Formbildung reif wird.
Aber auch dann wird die Idee der Gemeinschaft nicht zum Mittelpunkt des Dramas werden, das immer, aus seiner innersten Natur, Gesetzmäßigkeit und Gewordenheit heraus, die Oase der individuellen Persönlichkeit in ihrem Kampfe gegen die Welt bleiben wird. Auf der Seite der Welt findet die Gemeinschaft ihren Platz in diesem Kampfe. Sie wird nie eine andere Rolle im Drama spielen als die Stimme, der Repräsentant und der Exponent der Zeit zu sein. Ihre Aufgabe ist: Zeitfarbe, Hintergrund, Komparserie, Chorus; der feindliche Gegensatz zum Einzelnen. Feindlich sogar dann, wenn der Einzelne kollektivistisch denkt; er 22 empfindet sich als Kollektivisten, seine Tragik macht ihn zum Individualisten; er kämpft für die Gemeinschaft, um an einer andern Gemeinschaft zugrunde zu gehen. Bestenfalls ist die Gemeinschaft der Inhalt und Gegenstand des Kampfes, das Kampfobjekt, nie der Held des Kampfes. Selbst dort, wo es den Anschein hat, als ob Dichter eine Gemeinschaft zum Helden machen wollten, wie im »Wilhelm Tell«, wie in den »Webern«, mußten sie Einen, mußten sie Zwei aus der Menge herausgreifen und sie abseits, sie an die Spitze setzen. Das Theater verlangt es so; es empfindet in diesem Falle individualistischer als die Dichter.
Gab es denn nicht schon Zeiten der Gemeinschaft und war das Drama solcher Zeiten darum weniger individualistisch? War es denn nicht in der Blüte der Polis, daß Gestalten von so furchtbarer Einsamkeit geschaffen wurden wie Prometheus, wie Ödipus und Philoktet, wie Herakles? Gab es wohl je eine so ungeheure Gemeinschaft wie die katholische Kirche, eine, die sich ihrer Gemeinschaftsidee so bewußt war, sie mit einer so geschlossenen und ausschließlichen Kraft betonte? Und mußte nicht auch sie, wenn sie ihren dramatischen Ausdruck fand, wider ihren Willen segnend, wo sie fluchen wollte, den tragisch-individuellen Ausnahmecharakter ihrer Helden bezeugen? wie in den religiösen Tragödien Calderons, im »Polyeucte« des Corneille? Endet nicht jedes Revolutionsdrama 23 auch der revolutionärsten Dichter mit der Isolierung, mit einer Loslösung des revolutionären Helden von der Gemeinschaft? Alle geschichtlichen Perioden, deren gesellschaftliche Struktur, wirtschaftlich, politisch und geistig, sich auf einer Gemeinschaft aufbaute, waren entweder außerstande, eine Tragik hervorzubringen, oder die Tragik, die sie hervorbrachten, war Auflehnung gegen die Gemeinschaftsidee und die herrschende Gesellschaft.
Wenn's bis jetzt nicht war, sagen sie, so wird's eben sein. Es hat sich soviel geändert in der Welt, warum soll sich das Drama, sollen sich die Formen des Dramas nicht ändern können? Warum soll an die bisherige Stelle des Ich im Drama nicht einfach die Gemeinschaft treten? Das Drama ist von Menschen gemacht: was Menschen gemacht haben, können Menschen ändern. Es gehört nur ein bißchen Phantasie dazu, sich das vorzustellen.
Es wird auch der kühnsten Phantasie nicht gelingen. Vielleicht wird es ihr gelingen, dem allzeit willigen Theater noch ein paar neue Wirkungen der Schaukunst abzugewinnen, in denen die Gemeinschaft zu ihrem Ausdruck kommt mit Tänzen, Chören, mit Tiraden, Reden und aktuellen Couplets und vielleicht auch mit Formen, die wir heute noch nicht ahnen, weil sie von den Fortschritten der Technik und Mechanisierung herkommen dürften, wie sie sich im Kino und Radio auswirken. Aber 24 diese Entwicklung wird sich nur an den Peripherien der Kunst abspielen. Ins Innere der Kunst dringt nur der schaffende Geist, die unmechanisierbare Persönlichkeit. Die Kunst der Persönlichkeit ist das Drama. Im Laufe von Jahrtausenden hat sich das Drama in seinem Wesen nicht wesentlich geändert. Nicht aus Konservativismus, sondern aus einer metaphysischen Notwendigkeit. Daran werden alle Prophezeiungen der Gemeinschaftspropheten scheitern. Das Drama werden sie nicht ändern. Weil sie in allem unrecht haben. Weil das Drama nicht von Menschen gemacht ist, sondern vom Genius der Menschheit. Weil es das unmittelbare Werk des Ichbegriffs ist. Und solange sie das Ich nicht abschaffen können, solange sie das nicht abschaffen können, daß ein Ich die Augen aufschlägt und draußen die Welt erblickt, solange sie die Welt nicht abschaffen können, solange sie das Du nicht abschaffen können und das Anderssein, solange sie den Tod nicht abschaffen können und die einzige Überwindung des Todes durch das Ich, solange wird es das Drama geben und als seinen Mittelpunkt das tragische Ich.
Das Drama wird nicht sein oder es wird individualistisch sein. Und der letzte Dramatiker wird der letzte Individualist sein. 25