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Hie Kunst! hie Handwerk! – – sagen die einen. Entweder das eine oder das andere! Entweder Künstler oder Handwerker! Was hat die Kunst mit dem Handwerk zu schaffen? Wo das Handwerk beginnt, hört Kunst auf. Kunst ist Intuition, Eingebung, Gnade. Den Seinen gibt's der Herr im Schlafe.
Es gibt keine Kunst ohne Handwerk, sagen die andern. Die großen Künstler sind die, die ihr Handwerk am besten verstehen. Die großen Maler kommen alle vom Handwerk her. Die schlimmsten Zeiten der Kunst waren es, denen das Handwerk verlorengegangen ist. Was hat das Kunstgewerbe so ruiniert? Daß es von Ästhetikern gemacht wurde, die vom Handwerk nichts verstanden. Der Bildhauer, der Architekt, der Musiker müssen jahrelang in der Lehre stehen und Griffe klopfen, bis sie reif sind, aufs Produzieren losgelassen zu werden. Selbst der Schauspieler muß sich sprachtechnisch drillen lassen, muß regelgerecht atmen und reden lernen, weil er sonst Gefahr läuft, sein wichtigstes Handwerksmaterial, seine Stimme, zu ruinieren. Nur durch das Handwerk wird der Künstler mit seinem Material und dessen Gesetzen vertraut und lernt es beherrschen. Und nur dem Dichter, dem Dramatiker sollte es erspart bleiben? Wie haben 45 Sophokles und Shakespeare ihr Handwerk verstanden!
Gegen Axiome kämpfen Götter selbst vergebens.
Es sind Axiome geworden: das deutsche Drama hat Gipfelleistungen, das französische hat Niveau. Der deutsche Dramatiker hat eine Weltanschauung, aber er versteht sein Handwerk nicht; der französische Dramatiker versteht sein Handwerk, aber es fehlt die Weltanschauung.
Das alles sind Generalisierungen, und Generalisierungen haben irgendwo immer recht.
Ums deutsche Theater steht's wirklich so: es gibt ein paar Handwerker, die keine Künstler sind, und die Künstler verstehen nichts vom Handwerk.
Das wissen alle. Das merken alle. Das sagen alle. Nur daß kein Mensch genau weiß, was eigentlich das Handwerk im Drama zu bedeuten hat.
Man hat ganz vage Vorstellungen. Wenn man fragt, was verstehen Sie unter Handwerk, antworten die meisten: »Also zum Beispiel gute Aktschlüsse.« Das imponiert ihnen am meisten; sie bewundern als gutes Handwerk das Geschick, wirksame Aktschlüsse aufzubauen oder vielmehr nicht aufzubauen, sondern sie unvermutet knallen zu lassen. In der benachbarten Operette ist das Finale so wichtig. Etwas ähnliches erwartet man vom Drama. In die Handlung ein Geheimnis hineingeschmuggelt, dessen Lösung sich auf der Bühne erst am Schlusse einstellt, dem gescheiteren Publikum aber 46 schon längst, und zwar fast ganz klar geworden ist; Verwirrungen, je toller, um so besser, und so geführt, daß auch der Minderbemittelte sie gerade noch zu übersehen vermag, und mit einer Entwirrung, die erst die eigentliche Überraschung bringt; mit einem Wort: für das Publikum ist gutes Handwerk eine Sammlung von Taschenspielerkunststücken, auf die Düpierung des Publikums als Wirkung berechnet.
Das gute Handwerk ist das Gegenteil der Tricktechnik: eine so solide Grundierung des Stückes in seiner architektonischen Struktur, daß ihm auch die Taschenspielerkunststücke in seiner inneren Glaubhaftigkeit nichts anhaben können. Selbstverständlich auch auf Wirkung berechnet, aber so, daß ihr das Publikum unbewußt erliegt.
Innerhalb des dramatischen Schaffensprozesses bedeutet das Handwerk jenen Teil, der sich bewußt mit den (empirisch gewonnenen) Gesetzen der Publikumswirkung befaßt.
Die geheimnisvollen und in ihm geheimnisvoll schöpferischen Kräfte des Dramatikers – seine tragische Weltanschauung; sein dramatischer Lebensrhythmus; sein schöpferischer Kunstverstand im höheren Sinne – bauen eine kleine in sich geschlossene Gotteswelt, von Menschen bevölkert, von Leben durchblutet, Gleichnis des großen Lebens und ein kleines Leben selbst, das geheimnisvolle Tempo des Weltgeschehens im Schicksal 47 seiner Menschen wiederholend. Sein Handwerk – zum Teil ihm wohl auch als Talent eingeboren, ohne das geht es nicht –, zum Teil aber auch seinem Willen erreichbar, erlernbar, ermöglicht es ihm, die innere Wirklichkeit seiner Welt nach außen spürbar und greifbar zu machen.
In der köstlichen ersten Phase des Schöpfertaumels will, eingesponnen in die träumende Gotteinsamkeit seiner inneren Welt, der Dramatiker von der äußeren Welt nichts wissen: da entwird ihm, aus tragischem Weltverstehen, tragischer Grundeinstellung: Revolte des Ichs gegen Welt und Gesetz, sein vom dramatischen Kampf und Leben chaotisch durchflutetes und bewegtes Gleichnisbild des typischen Menschengeschicks. In der zweiten Phase tritt der tektonische Kunstverstand dazu, ordnend, schlichtend, schichtend und steigernd, und füllt, mit Gegensätzen und Kontrasten, mit Polaritäten und ihren Auflösungen, die Vision zu Leben aus, stellt es in Maßen und Proportionen in den Raum, schafft, Lichter und Schatten verteilend, Atmosphäre darum und baut das Einzelgeschehen zu einer kleinen abgegrenzten Welt, mit seinen Geschöpfen und seinen schöpferischen Kräften einsam allein. Erst das Handwerk schlägt ihm die Brücke des Verständnisses zum Draußen, zu einer letzten Wirklichkeit, die nicht bloß im Raume, sondern auch in der Zeit, in der Gegenwart steht.
Menschen schaffen, die leben, wie wenn sie aus 48 Fleisch und Blut wären – dieses unerklärliche Wunder ist Gnade und Sache der geheimnisvoll schöpferischen Dichterkraft. Menschen so charakterisieren, daß sie dem Sinn des Ganzen dienen und aus dem Ganzen eines Stückes das Ganze gerade dieser bestimmten kleinen Welt machen, ist Sache des ordnenden Kunstverstandes. Menschen so gegeneinander stellen, daß sie nicht bloß dem Sinne der Handlung dienen, sondern ihn einem jeden verständlich machen, ist Sache des Handwerks.
Der Dichter hat Atmosphäre. Der Kunstverstand findet tausend Mittel, sie zu variieren. Aber das Handwerk weiß, daß kein Mensch von der schönsten Atmosphäre etwas spürt, wenn sie nicht schon in der ersten Szene angedeutet, richtig serviert und so dem Publikum ins Bewußtsein suggeriert wird. Dadurch kommt auch das Publikum zu dem Gefühl einer in sich geschlossenen Einheit des Kunstwerks, die dem Dichter schon durch die Kontinuität seines Schaffensprozesses selbstverständlich ist.
Kunstverstand und Handwerk sind nicht identisch, obwohl sie einander nicht entraten können. Der Kunstverstand stammt aus dem Wissen um die Gesetze der Kunst, das Handwerk aus der praktischen Erfahrung, der Kunstverstand dient der inneren Form, das Handwerk der äußeren Wirkung. Der Kunstverstand ist das ästhetische Gewissen des Dramatikers und kann seine metaphysische Herkunft nicht verleugnen, das Handwerk 49 spielt ein wenig die Rolle des gesunden Menschenverstandes, es antizipiert die Einwände des Publikums. So arbeiten sie einander in die Hände als gute Kameraden, jeder an seiner Stelle, der eine konstruktiv, der andere kontrollierend. Aber manchmal tauschen sie auch die Rollen: das Handwerk sieht streng auf saubere Motivierung, im Dienste der Wahrscheinlichkeit, der Kunstverstand verwischt sie wieder und verhütet die gefährliche Übermotivierung, weil er weiß, daß es eine höhere Wahrheit und Wirklichkeit gibt als die Wahrscheinlichkeit.
Die höchste Wahrheit ist es, durch die bloße Kraft der Form das Gleichnis der Welttotalität im kleinsten Ausschnitt transparent werden zu lassen.
Die Wirklichkeit der Bühne ist nicht die Wirklichkeit des Lebens. Damit die Vorgänge einer Handlung geglaubt werden, brauchen sie nicht wirklich wirklich zu sein, sie brauchen nur wirklich zu scheinen: und das wird dadurch erzielt, daß sie in derselben Wirklichkeitsebene liegen, in allen Teilen dieselbe Distanz zur Wirklichkeit haben. Das gute, das beste Handwerk, dessen auch der größte Dichter nicht entraten kann, sorgt dafür, daß dieses dimensionale Verhältnis aller Teile zum Ganzen und damit zur Realität an sich konstant bleibt.
Das ist die Welteinsicht der großen Dichter, daß 50 Wirklichkeit durch Ahnung nicht unwirklich, sondern wirklicher wird. Ein Weltbild wird wirklich, wenn es Totalität ahnen läßt. Und zum Weltganzen gehört alles: Himmel und Hölle, das Oben und Unten, Geist und Dreck. Immer gehört auch das andere dazu. Darum wird Tragik durch die scheinbar disparate Form der Komik gesteigert und gelockert zugleich.
Aber es kann sein, daß ein noch höherer, der höchste Kunstverstand selbst die Form noch zersprengt. Durch eine andere, neue, ganz gelöste Form. Wenn die Shylockgefahr, die wie ein ungeheurer Alpdruck über dem Stücke liegt, sich in einem Sturme entladen hat und der Sturm sich verzieht, dann bleibt eine Leere zurück, eine Stille zurück, es gibt kein Darüberhinaus, es wird alles zu klein, zu schwach sein, man fühlt, daß Worte versagen werden, menschliche Beziehungen lächerlich und nichtig erscheinen müssen neben dieser Unbegreiflichkeit des Ungeheuren. Und da kann ein Letztes, die Lösung, die Erlösung nur von anderswoher kommen, aus einer neuen Form, aus einer ganz andern, jenseitigen Welt, aus der Sphäre der Musik. Hier sprengt, im letzten Akte des »Kaufmann von Venedig«, aus Kunstverstand, das Drama selbst seine eigene dramatische Form. Aber das geht über die Reichweite des Handwerks weit hinaus, denn wenn er auch die Publikumswirkung einer Befreiung zum Harmonischen zum bewußten 51 Ziele hat, so ist doch dieser Formwechsel unmittelbar und organisch aus einem Weltgefühl des Dichters herausgewachsen.
So grenzen sich die Funktionen des Handwerks nach oben ab. Aber es bleibt ihm genug zu tun. Das Handwerk kennt die beschränkte Aufnahmefähigkeit des Publikums. Es nimmt den Rotstift in die Hand und streicht. Es streicht das Überflüssige, das um seiner selbst willen Schöne. Es kennt sein Material. Das Material des Dramatikers ist das Wort. Das Wort des Dramatikers ist voll Magie. Es hat die Kraft, Handlung, Bewegung, Verwandlung, Charakter und Stimmung vorzuzaubern. Aber das Handwerk kennt auch die Verführungen dieser Circe: Wort. Ein jedes, das nicht dem Zweck des Ganzen dient, sprengt schon den Eindruck der Wirklichkeit, hebt, durch tote Abstraktion, das Leben auf. Das Handwerk beseitigt, unerbittlich, die Längen. Kürze an sich ist bereits Wirkung, ist Lebenstempo, ist Leben. Die Todfeinde, die das Handwerk am leidenschaftlichsten bekämpft, sind Langeweile und Ermüdung.
Das Handwerk kennt sein Material, das Wort. Es weiß, der schönste Gedankengang gilt auf der Bühne nichts, bleibt unverstanden, ungehört, verpufft, wenn er nicht sinnfällig wird. Dem Worte muß, plastisch einprägsam, Geste oder Bild vorangehen.
Das Handwerk kennt sein Material, das Wort. 52 Das Wort auf der Bühne wirkt anders als das Wort im Leben. Die Bühne verändert seine Bedeutung, gibt oder nimmt ihm sein spezifisches Gewicht. Die Stelle, an der es gesprochen wird, gibt ihm erst sein spezifisches Gewicht. Wer sein Handwerk versteht, wird ihm die Stelle zu finden wissen. Du sagst, etwa am Anfange eines Stückes, vor Zuschauern, die unvorbereitet, die mit den Figuren noch nicht vertraut sind, das Wort: Mord, oder du tust es, und der Zuschauer denkt nichts, fühlt nichts dabei, es geht ungehört, unverstanden vorüber, ein Wort wie alle andern. Kein Mensch glaubt ihm seinen Ernst, ein leeres Wort, eine leere Geste; und wirkt, wenn es als letzte, schwere Folge in einer Kette kommt, von Menschen, deren Seele man gesehen, für deren Kampf und Schicksal man sich interessiert hat, mit allen Schauern einer ungeheuren Wirklichkeit, wie wenn man es selbst erlebte, als eigene Tat oder eigenes Erleiden.
Auch die Überraschung wirkt nur als Überraschung, wenn sie vorbereitet wird. Die unvorbereitete fiele aus dem Rahmen des Stückes. Das nennt man gutes Handwerk, den Zuschauer glauben zu machen, daß er überrascht wird, während im Grunde doch nur der auf der Bühne überrascht wird, mit dem der Zuschauer miterlebt, und er selbst längst schon alles weiß, ohne zu wissen.
Das gute Handwerk achtet darauf, daß es nur 53 ein Hauptmotiv gebe, allerdings mit mehreren Nebenmotiven und diese sorgfältig und sauber nebeneinander und gegeneinander gestellt und abgelöst; es weiß, daß ein Motiv mehr ist als zwei und daß nichts so verwirrt wie Häufung der Motive. Das, worauf es immer wieder ankommt, ist Einheit des Stückes, bei aller Mannigfaltigkeit, und Klarheit des Zuschauers.
Gutes Handwerk ist es, auch den Schauspieler und die ungeheure Unterstützung nicht zu verkennen, die der Reiz des Schauspielerischen für die dramatische Wirkung bedeutet; denn auch der freudig helfende Schauspieler gehört zum Material des Dramatikers.
Gutes Handwerk ist Kenntnis und Beherrschung des Materials; Kenntnis und Beherrschung der Publikumspsyche; Kenntnis und richtige Berechnung der Wirkungen; saubere Arbeit, saubere Verteilung. Der Rest ist Dichten.