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Eine geistesgeschichtliche Untersuchung
Die Bestimmung einer modernen Operette aus dem geistigen Leben der Gegenwart stellt den streng wissenschaftlichen Forscher, der in freiwilliger Askese auf den ganzen Apparat von biographischem und anekdotischem Material verzichten muß, vor geradezu unüberwindliche Schwierigkeiten.
Wir haben uns die Aufgabe gesetzt, die Kunstform der Operette, von allem persönlichen Klatsch und Wust befreit, so groß auch die Verführung dazu, schon allein durch die Mittelpunktsfigur der Operettendiva sein mag, in ihrem reinen intellektuellen Sosein darzustellen, in aller gebotenen Bescheidenheit ähnlich, wie es großen Vorbildern mit Goethe und Rembrandt gelungen ist.
Wir wissen, in aller Bescheidenheit, daß es nicht gelingen kann. Denn Goethe, Rembrandt, Bismarck in ihren geistigen Inhalten darzustellen, ist ein Kinderspiel dagegen, nicht als ob die geistigen Inhalte der Operette um so vieles reicher wären, sondern weil wir es bei jenen Großen mit nur je einer Persönlichkeit zu tun haben, wer aber zählt die geistigen Väter einer Operette! Da sind zwei Librettisten, innig gesellt und gleicherweise bewandert in der französischen Schwankliteratur, wie gründlich belesen in den älteren Jahrgängen der »Fliegenden Blätter«, und diese zwei gesellen sich meistens einen dritten für die Couplettexte zu und mitunter 151 noch einen vierten, nur für die Refrains der Couplettexte; und ein Komponist, der seinerseits eine stattliche, allerdings ungenannte, wenn auch nicht unbekannte Reihe geistiger Väter in Anspruch zu nehmen nicht umhin kann. Da nehme ich's doch lieber mit dem einen Goethe auf als mit dieser kleinen Armee von Arbeitsteilern und Fließarbeitern.
An dem Kunstgebilde, das moderne Operette heißt, sind bekanntlich alle Wissenschaften beteiligt, freilich in einer eigenen Art. Ihr Assoziationsmaterial ist ungeheuer, man kann schon sagen, enzyklopädisch, aber sie apperzipiert es, verwandelt es aus der spezifischen Natur der ihr eigenen geistigen Kräfte. Es gibt eine Geographie der Operette, eine ganz eigene Geographie der Operette, und sie ist ganz anders als jede andere Geographie. Für sie ist die Erde eine Ellipse, mit den zwei Brennpunkten auf dem Balkan und in Paris und in tangentialer Berührung mit Amerika, Nord und Süd, das einen Onkel oder sonstwie milliardenschweren Herrn zu liefern hat. Der Balkan ist ein Operettenbalkan, Paris ist ein Operettenparis, und die amerikanischen Dollars sind leider Operettendollars. Auf diesem Balkan, der nicht so sehr unter Breitegraden wie unter den weniger geraden Breiten einer komischen Alten zu schwitzen pflegt, hat sich die Operette, ganz wie Napoleon, aus dem Nichts ein nie dagewesenes, ideales Illyrien geschaffen, das in der Operette dieselbe Rolle spielt wie die 152 Utopia des Thomas Morus, der Sonnenstaat des Campanella, das Phalansterium des Charles Fourier und Bellamys Zukunftsstaat in den Träumereien der Staatsutopisten, ohne daß ich eine direkte Beeinflussung nachweisen könnte; wir wollen lieber eine Ideenfiliation annehmen. Illyrien hat eine durchaus friedlich gesinnte Räuberbevölkerung, die aber nicht wie in der balkanischen Wirklichkeit in Komitatschis, sondern in Chören mit der gleichen Anzahl männlicher und weiblicher Chormitglieder organisiert ist und sich vom rechtzeitigen Erscheinen bei Aktschlüssen nährt. Sie zeichnet sich durch tadellose Disziplin und gymnastisch-rhythmisch exakte Uniformität der Armbewegungen beim Halten und Schwenken leerer Trinkbecher zum Zwecke der Absingung von Trinkliedern aus (Sitten, wie sie die moderne Ethnographie in ähnlich unverminderter Reinheit bei den Papuas von Neuseeland wohl kaum beobachtet haben dürfte). Die einzige Industrie Operettenillyriens ist der schwunghafte Prinzenexport nach Paris. Allerdings scheint sich diese auch sonst durch pädagogische Strenge vielfach berühmte Stadt ganz auf die Erziehung von Balkanprinzen konzentrieren zu wollen, die sich, im Sinne moderner Austauschprinzipien, vorwiegend vermittels der Verwechslung professionell zuverlässiger Kokotten vollzieht.
In ihrer staatsrechtlichen Haltung steht, wie man sieht, die moderne Operette furchtlos und treu auf 153 dem Boden einer streng monarchistischen Gesinnung. Man darf sich dadurch nicht täuschen lassen, daß sie, wie auch andere monarchistische Gruppierungen unserer Zeit, mitunter zu dem listigen Auswege eines Scheinbekenntnisses zur republikanischen Staatsgesinnung greift, das aber meist an den unauffälligeren Stellen der Coupletsrefrains versteckt wird, wo es nur von einem, allerdings dem entscheidenden Teile der Presse entdeckt werden kann. Wenn also die Operette in ihren komischen Partien auch scheinbar die Auswüchse einer liebedienerischen Servilität geißelt, so ist sie doch als die letzte Zufluchtsstatt streng legitimistischer Anschauungen anzusehen, die mit Vendeer-Kühnheit das dynastische Vorrecht auf die weiblichen Teile der unteren Volksschichten verfechten, und wirkt so erhebend und erzieherisch zugleich.
Privatrechtlich ist die Operette nach dem Grundsatze: Pater semper incertus schwer zu fassen und entzieht sich mit Hilfe des berühmten § 51 allen Paragraphen des BGB.
Inwieweit sich in der inneren Struktur der Operette, im Schichtenbau ihrer geistigen Agglomerate die analoge Entwicklung der Geologie widerspiegelt, ist unschwer zu erkennen. Auch hier stehen sich neptunistische und plutonistische Anschauungen, Evolutions- und Katastrophentheorie gegenüber. Wer je die elementare Eruption tenoristischer Leidenschaft im Alluvium des zweiten Aktfinales 154 erlebt hat, der wird, wenn er nicht gerade geistig selber in der Kreide sitzt, über die vulkanische Natur dieser anorganischen Formation nicht im Zweifel sein, woran auch die antediluvianische Herkunft der Komiker-Extempores nichts ändern kann.
Der Weltgeschichte, die es sich zu ihrer vornehmsten Aufgabe gemacht zu haben scheint, die Operette mit Stoff zu versorgen, wohl weil sich hier der gangbarste Weg bot, zur Kenntnis auch der breiteren Volksschichten zu dringen, steht der historische Librettist mit einer bewunderungswürdigen Souveränität und Freiheit gegenüber. Er beharrt darauf, daß sich Napoleon in die Tochter des Papstes verliebt hat, und läßt sich das nicht ausreden. »Erstens«, sagt er, »könnt ihr mir viel erzählen! Wie soll ich das denn kontrollieren? Zweitens: wenn Napoleon sich nicht in sie verliebt hat, so hätte er sich eben in sie verlieben sollen; es ist sträflich von ihm, ja sogar politisch höchst unklug, daß er sich nicht in die Tochter des Papstes verliebt hat; zwischen zwei solchen Weltmächten muß doch auch menschlich eine Beziehung hergestellt werden. Und wenn Napoleon das unterlassen hat, tue ich's eben, weil mir sonst der Tauber die Partie nicht singt. Und drittens: wozu ist denn die Musik da? Man hört's ja doch nicht.« Wer weiß, ob er nicht recht hat! Ob nicht doch Napoleon die Tochter des Papstes geliebt hat! Wenn er's so hartnäckig glaubt, werden es ihm 155 auch die Leute glauben, und zum Schlusse behält er recht, und der Librettist denkt, in einem höheren Sinne, historischer als die Weltgeschichte.
Die Operette hat natürlich eine Weltanschauung. Ich zweifle nicht, daß jeder Librettist und jeder Komponist seine eigene Philosophie hat, aber die meine ich nicht. Ich meine die eingeborene Philosophie der Operette. Sie ist sittlich. (Die Ausnahme des ehelichen Seitensprungs bestätigt die legitime Regel der sittlichen Weltordnung.) Sie ist idealistisch. Sie ist optimistisch. Sie glaubt an den Sieg des Guten und Wohlhabenden. Sie glaubt an die Versöhnung der sozialen Klassen durch das Sakrament der Verlobung. Ihre weltanschauliche Einstellung ist des ferneren konservativ. Sie typisiert immer noch, durchaus dualistisch, in den uralten Kontrasten und ewigen Antithesen: des langen mageren und des kleinen dicken Komikers; der sentimentalen Liebhaberin und der, immer noch, munteren Soubrette; des seriösen und des Buffo-Liebespaares. Sie zeichnet schwarz und weiß, gut und böse. Das Gute ist immer bildschön, schon durch sein Kostüm, das Böse immer komisch; das Gute singt, und das Böse ist verurteilt, die Prosa zu sprechen.
Es ist der strenge Formwille der Zeit, der sich die Kunstform der modernen Operette gebaut hat, und eine stilanalytische Untersuchung müßte ergeben, daß hier nicht die Willkür einzelner Großen, sondern die Zeitpsyche selber subkutan am 156 Werke war, sich aus ihrer tiefsten metaphysischen Notwendigkeit das ihr organische Gehäuse zu bilden. Wie wir oben gezeigt haben, sind es nicht die Zeitinhalte, die äußerlich sich in die Operette ergießen, sondern ihr tanzendes, charlestontanzendes, jazzbegleitetes Unterbewußtsein. Spiralig entwickelt es sich aus der Gemeinschaftsgesinnung der Anfangschöre durch die Kette individualistischer Tanzduette zur erhöhten Gemeinschaft der Aktschlußchöre, und der dritte Akt steigert dionysisch-verwirrend alle Entwirrungen zur wundervollen Sinnlosigkeit einer allgemeinen Tanzerei. Keine gotische Kathedrale drückte Sehnsucht ihrer Zeit unmittelbarer und symbolischer aus.
Textkritisch wird das Operettendeutsch wohl weniger den Germanisten als die vergleichende Sprachforschung inklusive die Orientalisten interessieren, weil sich hier allmählich eine babylonische Sprachverwirrung aus den Jargonen aller Bars und Sportplätze der Welt entwickelt hat. Doch wird auch der Psychoanalytiker nicht ganz daran vorübergehen können und namentlich in den witzigen Partien manchen Stoff zu ergiebigen Studien über Infantilismus finden. Das bloße faszinierende Vorhandensein des Operettentenors als inspirierendes Fluidum genügt wohl nicht zur Erklärung.
Was sonst noch etwa an Musik vorhanden sein sollte, muß der älteren Musikgeschichte und Neumenforschung überlassen bleiben. 157