Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Nausikaa

Bitte, das soll keine Aufforderung sein. Es ist durchaus nicht nötig, daß die Nausikaa noch einmal geschrieben wird. Weil sie schon zweimal sehr schön geschrieben wurde, einmal von Homer und einmal von Goethe, und besser würde es Zuckmayer auch nicht treffen.

Es liegt auch gar kein Bedürfnis vor, Nausikaa auf die Bühne zu bringen. Nicht als ob der Stoff etwa nicht dramatisch wäre: Unsinn! An sich ist kein Stoff dramatisch oder nicht dramatisch, der Dramatiker ist dramatisch, und wenn einer als Dramatiker geboren ist, sieht er in allem das Drama und wird ihm jeder Stoff zum Drama. Nein, sondern weil ein jeder seine Nausikaa als das Urbild einer so vollkommenen Schönheit in sich trägt, daß keine Wirklichkeit es erreichen kann, und weil wir sie alle hundertmal auf der Bühne gesehen haben, weil in jeder Mädchenfigur, die eine gute und mädchenhafte Schauspielerin spielt, unbewußt, unmittelbar etwas von der Nausikaa-Natur mitschwingt.

Denn Nausikaa ist das Mädchen an sich.

Es geht mir seltsam: immer wenn ich die Dorsch sehe, und wenn ich Helene Thimig sehe, und sogar bei Elisabeth Bergner, deren künstlerisches Klima zunächst ein anderes zu sein scheint, und selbst bei 172 der so klaren und besonnenen, so heutigen Grete Mosheim finde ich Züge der Nausikaa.

Und wie es nur dem absoluten Theatermenschen geht: immer wenn ich mir Nausikaa vorstellen will, muß ich an die Dorsch, an die Thimig, an die Bergner und an die Mosheim denken, und mir ist, als hätte ich sie alle schon einmal als Nausikaa gesehen.

Denn das, was sie spielen und was sie uns so süß und geheimnisvoll macht, das ist das Nausikaaschicksal. Es ist nur ganz selten in den Stücken und nicht viel häufiger in den Gelegenheiten der Rollen, aber um so stärker in ihrem schauspielerischen Da-Sein auf der Bühne.

Daß eine von ihnen, und auch sie nur wie in einem traumhaft flüchtigen Gruße des Schicksals, das erleben darf, was alle andern Mädchen nur träumen, ist damit nicht allen Mädchen ein Glückstraum von Erfüllung als Teil und Möglichkeit des eigenen Mädchenschicksals geschenkt?

Des Mädchenschicksals, das Warten ist.

Auch heute noch. Wenn es auch nicht mehr Warten auf die Versorgung durch den Mann ist. Aber das Warten auf die Erlösung durch den Mann, den einen Mann, wird nie aufhören, das Schicksalsgefühl des Mädchens zu sein.

Das vergessene Mädchenlied eines Dichters geht mir durch den Kopf. Es begann: »Wir Mädchen sitzen hinter goldnen Gittern.«

173 Der ruhige, regelmäßige Gleichtakt des täglichen Lebens in Haus und Wirtschaft, behütet und umfriedet zwischen Eltern, Brüdern und Hausgenossen, mit dem unentrinnbaren Bild der verhängten Ehe, gefürchtet und erhofft zugleich, der nächtliche Traum, unschuldsvoll und erregend zugleich, die Gespielinnen, die Vertraute, und das fröhliche Ballspiel, lärmend, lachend, ausgelassen und so wohltuend harmlos, fast als gälte es, Ahnungen zu verscheuchen und sich noch einmal als Kind zu fühlen: und dann, mit einem Male, das Wunder: erschreckend zuerst in seiner nackten Wirklichkeit, und dann so unglaubhaft groß und schön und göttlich, mit einem Male das völlig andere mitten im Leben, der völlig andere als alle andern. Und das Weib ist erwacht, mit allen weiblichen Regungen: das Kind ist weg, Scham meldet sich, verwirrend und beglückend zugleich, und weibliche Fürsorge, weibliche Klugheit, weibliche List nimmt, mütterlich bereits, den Fremden, nicht mehr Fremden, an der Hand und weist ihm die Wege des Taktes und der Besonnenheit, ganz bereits auf seiner Seite gegen die Eigenen, aber in gelassener Scheu das Geheimnis hütend. Und dann die erfüllte Ahnung und der Augenblick des höchsten Frauenstolzes, den einen über alle andern erhöht zu sehen, und dann noch ein kurzer Augenblick des schmerzlichen Glücks, mit diesem einen sein Geheimnis zu teilen und vor allen andern 174 verbergen zu dürfen, und dann Resignation und Verzicht, und dann der Abschied.

Was ist an diesem Schicksal, das nicht jedes Mädchen kennt? Und das nicht jedes Mädchen, in der Wirklichkeit der Wirklichkeit oder in der Wirklichkeit des Wunsches erlebt?

Nicht jede findet den einen. Fast keine gewinnt ihn. Aber jede träumt ihn. Jede sucht ihn. Jede kennt ihn. Jede erlebt ihn.

Und wie verschieden sie auch sonst sein mögen, in der ganzen wundervollen Mannigfaltigkeit ihrer Mädchenart, die Schwester Nausikaa würde keine verleugnen.

Es ist nicht ein Zug an ihr, dessen Möglichkeit sich nicht in jeder fände.

Auch in derselben Schönheit? Ja, in derselben Schönheit. Denn in der Echtheit und Innerlichkeit seines Mädchenerlebens erreicht jedes Mädchen den höchsten Grad von Schönheit. Blumen, die nicht schön sind, wenn sie aufblühen, gibt es nicht.

Wird nicht die Hausbackenste, die Nüchternste von einem Schimmer von Poesie verklärt, wenn sie zum erstenmal erlebt? Die Hemmungsloseste schamhaft vor der Wirklichkeit des erfüllten Geheimnisses? Wird nicht die Törichteste klug, die Verspielteste ernst, die Selbstsüchtigste zu jedem Opfer bereit, wenn es darum geht, dem einen zu raten, zu helfen? Und gibt es ein Mädchengesicht, das 175 Erwartung, Ahnung, Traum und Geheimnis nicht verschönte?

An den Nausikaas der Bühne erscheint jeder der Nausikaa-Züge besonders intensiv verkörpert und Erlebnis geworden.

Am festesten vielleicht die Dorsch, heller im Lachen und elementarer im Weinen, und am meisten das erwachte Weib und das mütterliche. Am schamhaftesten die Thimig, den traurigen Verzicht von Anfang an vorgezeichnet in die verhalten schmerzlichen Züge des edlen Gesichts geschrieben; sie wird am scheuesten und am tiefsten das Geheimnis ihres Mädchenerlebens in sich verschließen. Am rührendsten vielleicht die Bergner, in der die hilflose Lebensangst des kleinen Vogels, der sich geborgen in die schützende Hand schmiegen möchte, den so seltsam klugen Blick der durch Warten Wissenden Lügen straft. Und am mutigsten die Mosheim, in aller Mädchenhaftigkeit klarer und besonnener der Wirklichkeit gegenüber und, noch im Abschiedsschmerz, ruhiger und undurchsichtig.

Was brauchen sie den Nausikaa-Text zu sprechen, wenn sie, immer wieder, die Nausikaa-Gestalt und das Nausikaa-Erlebnis spielen?

Unsere lieben jungen Mädchen aber, die sie widerspiegeln und die sich in ihnen widerspiegeln – haben sie sich wirklich so geändert? Ob Don Juan oder Casanova, fliegender Holländer oder 176 Jack der Aufschlitzer, ist's nicht immer wieder ein und derselbe »umgetriebne, vielerfahrne Mann«?

Fast jede von den armen Kleinen glaubt Lulu zu sein, und ist etwas viel besseres: Nausikaa.

 


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