Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Das Charakterlustspiel

Die meisten Leute antworten, ohne daß sie gefragt werden. Ich frage, ohne daß ich eine Antwort bekomme. Wenn ich eine Antwort bekomme, ist es mir auch wieder nicht recht. So sind die Menschen.

Ich habe wiederholt gefragt, warum es kein deutsches Lustspiel gibt. Darauf hat man mir einige zum Lesen gegeben. Einige? Viele. Viele? Zahllose. Diese Antwort war mir nun auch wieder nicht recht.

Warum schreibt man keine Charakterlustspiele? Komische Charaktere gibt es. Es hat sie immer gegeben, und es gibt sie zu jeder Zeit. Sogar in unserer.

Das Charakterlustspiel ist die eigentliche Form des Lustspiels. Es hat die große Tradition. Es ist der unmittelbare Erbe der Comedia dell'arte. Die größten Lustspielbegabungen der Weltliteratur haben Charakterkomödien geschaffen. Shakespeare hat die Falstaff-Figur geschaffen. Molière, Holberg, Goldoni waren die Klassiker der Charakterkomödie. Der »Zerbrochene Krug« ist mehr Charakter- als Situationskomödie. Auch der romantische Raimund, der zynische Nestroy erreichen die höchsten Leistungen ihres Werkes mit Charakterkomödien. Die besten deutschen Lustspiele der letzten dreißig Jahre sind Charakterlustspiele: 118 Hauptmanns »Kollege Crampton« und der »Biberpelz«, Hermann Bahrs »Konzert« und Hofmannsthals »Schwieriger«. Aber sie sind die einzigen geblieben. Und sie sind die einzigen, die geblieben sind.

Das Genre an sich ist zeitlos und ewig: seitdem es Theater gegeben hat, gibt es eine Charakterkomödie. Jedes Exemplar der Gattung ist von seiner Zeit gefärbt: Abbild und unmittelbarer Ausdruck seiner Zeit zu sein, ist die Aufgabe des Theaters. Diese Mischung und Durchdringung von Zeitlosigkeit und Zeitgegebenheit, zugleich das Geheimnis des Theaters überhaupt, wirkt in der Charakterkomödie stilbestimmend und stilbildend.

Sie baut sich um eine Mittelpunktsfigur auf, die Repräsentant eines Typus ist, in seiner schärfsten, auf die Spitze getriebenen Deutlichkeit. Auch darin trifft sie mit einer zentralen Eigenschaft des Theaterorganismus zusammen, mit dessen typisierender, typensammelnder und typenschaffender Natur. Das Theater, das selbst an der individualistischsten aller Künste, der Tragödie, die Umwandlung der Individualität zum allgemeingültigen, vorbildlichen Typus vollzieht, stellt letzten Endes die Tendenz zu einer möglichst vollständigen Sammlung möglichst vollkommener Exemplare der Menschentypen dar.

Der Mittelpunkttypus kann ein ewiger und kann ein Zeittypus sein. Aber auch der ewige empfängt in der Darstellung des Theaters seine Beleuchtung 119 von einer zeitlich bedingten Auffassung, aber auch der Zeittypus wird durch den Stil der Charakterkomödie gewissermaßen monumentalisiert, in eine überzeitliche Ewigkeitsperspektive gerückt.

Ob es sich nun um menschliche, allzu menschliche Schwächen handelt, die uns Erdlinge von Adam her auszeichnen, wie Eitelkeit, Neid, Geiz, Eifersucht, Lüsternheit auf die Eva des Nächsten, oder Schwächen, die wir der lieben Zeit zu verdanken haben, Snobismus, neurasthenische Überempfindlichkeit, Ellenbogenismus, Neureichtum, Infantilität, Politik, Knallprotzigkeit, rauhe Schale, Psychoanalyse, um Schwächen geht es immer. Die menschliche Schwäche ist die Stärke der Komödie. Ein unerschöpfliches Stoffgebiet. Aber leider auch ein unausgeschöpftes. Die Charakterkomödie ist immer eine Komödie der schlechten Charaktere. In der Sprache der Komödie heißt Charakter schlechter Charakter. Eine Komödie der guten Charaktere gibt es nicht. Es liegt offenbar in der Weltordnung, daß es mit den guten Charakteren tragisch ausgeht.

Das Grundschema des Charakterlustspiels ist einfach. Ein Mensch wird gezeigt, in der ganzen Monomanie seiner Schwäche. Sie fällt seiner Umgebung lästig. Man versucht ihn zu ändern, indem man ihn prellt oder seine Schwäche ausnutzt. Es gelingt nicht oder es gelingt scheinbar. Aber zum Schluß stellt sich heraus, daß der Mensch derselbe bleibt, der er immer war.

120 Die Zeit hat kein besseres Mittel, sich charakteristisch auszudrücken, als indem sie ihre Typen fixiert. Nichts ist so charakteristisch für eine Zeit, als ihre typischen Schwächen. Jede Zeit, die etwas auf sich hält, und auf ihr Fortleben in der Nachwelt, müßte sich eine solche Sammlung, eine Raritätenkammer ihrer Eigentümlichkeiten anlegen. Das bietet die Charakterkomödie, dieses Spiegel- und Lachkabinett charakteristischer Typen. Situationen sind nicht charakteristisch: es gibt nicht viele und sie wiederholen sich. Die Requisiten der Situation ändern sich mit der Zeit, die Situation bleibt die gleiche. Ob ein Rendezvous am Balkon oder telephonisch verabredet wird, ob eine Entführung per Karosse, Auto oder Aeroplan sich vollzieht, ob der Onkel aus der Provinz im Hotel oder in der Bar von seiner eifersüchtigen Frau erwischt wird, es ist doch immer Rendezvous, Entführung, Ehebruch. Ebensowenig variabel, ebensowenig zeitcharakteristisch ist das ewige Fragenspiel: wer mit wem?, die Algebra der Kombinationen: es gibt nur eine beschränkte, mathematisch errechenbare Anzahl von Kombinationen, aber wenn sie erschöpft ist, ist das Interesse des Publikums längst erschöpft. Natürlich wird alles gut, die bekannteste Kombination neu, die verbrauchteste Situation amüsant, wenn sich Psychologie, Geist und Scharm hineinmischen. Aber wo sind Psychologie, Geist und Scharm, und wo ist das Lustspiel?

121 An die Charakterkomödie wagen sich zum Glück nur Psychologie, Geist und Scharm heran, denen das Aushecken und Kombinieren von Situationen ein zu minderes Geschäft ist. Das überlassen sie den Lustspielroutiniers. Denen wieder das Charakterlustspiel zu einfach in der Linienführung, nicht genug knallig in der Wirkung und zu schwierig in seinen Ansprüchen an Weltkenntnis und Menschenkenntnis ist. So ganz ohne Weltanschauung läßt sich das nicht machen.

Es gibt nämlich eine eingeborene Weltanschauung der Charakterkomödie. Sie ist pessimistisch. Sie glaubt an die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur, an die Indelebilität der menschlichen Schwäche. Im Vademekum eines Dramaturgen ist der Unterschied zwischen tragischer und komischer Weltanschauung folgendermaßen versifiziert:

Die Tragik sieht das Ich mit Ja und Hoffnung an
Und glaubt dran, daß es sich noch fortentwickeln kann,
Und geht es auch zugrund', und ist das Spiel schon aus,
Dann wächst es erst zu sich und über sich hinaus.
Die Komik aber schaut verzweifelt auf das Ich
Und hält es für verfehlt und unverbesserlich.
Und was ihm auch geschieht, die Komik meint: im Grund
Bist du, o Mensch, und bleibst derselbe Schweinehund.

122 Paßt auf, das Publikum hört sich das gerne an und sagt ja. Es teilt die Meinung. Wenigstens soweit die dargestellten Charaktere in Frage kommen.

Warum also gibt es so wenig Charakterlustspiele?

 


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