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Endlich war ich da! Draußen. Im Dorf. Drei Wegstunden von der Eisenbahn. Endlich Natur! Misthaufen. Windschiefe Giebel. Strohdächer voll Moos. Endlich!
Wie hatte ich mich danach gesehnt!
Ich war krank, als ich ankam. Nicht körperlich. Seelisch geschunden. Alles that mir weh. Wenn einer lachte, konnte ich ihm ins Gesicht speien. Wer weinte, war meiner Verachtung sicher. Für Unglück hatte ich nur Hohn.
Aber das that alles so weh. Mir weh. Jedes Wort ging ätzend von meinen Lippen. Brannte mir die eigene Seele. Ich konnte doch nicht anders. Krank war ich. Die Seele geschunden. Nicht wahnsinnig, aber was dann kommt. Jedenfalls nicht vernünftig.
Nun lag es hinter mir. Endlich! Ich durfte die Manichäer vergessen. Brauchte nicht auf jeden Schritt zu horchen. Fuhr nicht bei jedem lauten Wort zusammen. Lief nicht vor jeder fremden [149] Stimme davon, weil ich den Häscher fürchtete. Ich brauchte nicht überall zu sorgen, daß auch ein Weg zur Flucht offen stand. Ich konnte den schuftigen Kerl vergessen, den ich einst Freund nannte.
Er war es ja nie. Aber ich glaubte es. Narr, der ich war. Sein Lächeln war Betrug. Jedes Wort eine Lüge. Jeder Händedruck eine Gemeinheit.
Um lumpige Silberlinge jagt kein Mensch das Tier zu Tode. Aber der Freund scheucht den Freund um ein paar Mark vom Tisch auf. Hetzt ihn des Nachts aus dem Bett. Jagt ihn von Stadt zu Stadt. Macht ihn heimatlos, friedlos mit dem Gespenst des Schuldturms. Der Name ist abgeschafft. Die Sache blieb dieselbe. Du schwörst Deine Reputation ab, oder Du wirst eingesperrt.
Wehe, wer seinem Freunde Marken schuldig wird! Dann giebt es für ihn nur noch Hunde auf Erden. Hunde, die ihn hetzen. Hunde, die ihn beißen. Hunde, die ihn verraten, ihm die Seele in Fetzen aus dem Leibe reißen. Hunde hinten und Hunde vorn. Nichts als Hunde.
Verhungern ist schwer. Aber als Mensch von Menschen zu Tode gehetzt zu werden, das hat der Satan erfunden. Er nimmt die Gestalt eines Freundes an, leiht Dir etliche Mark, dann hat er Dich. Du wirst an der Seele geschunden. Der Höllenhund und seine Vetterschaft kennt keinen größern [150] Ruhm, als Dich zu hetzen. Schwöre Deine Würde ab, sonst marsch in den Schuldturm!
Das lag nun hinter mir. Endlich! Endlich Ruhe vor den Menschen! Stinkende Misthaufen sind Ambra gegen den Hauch eines Freundes, der Dich hetzt. Eine Herde Ochsen ist eine Gemeinde von Weisen gegen Menschen, denen Zinsen ein Ideal und Schulden einen Makel bedeuten.
Misthaufen gabs im Dorf. Die Ochsen zogen brüllend auf die Weide. Von Freunden hatte ich nichts zu fürchten.
Draußen wogende Felder. Endlose Wiesen. Ich sah sie nicht. Ich fühlte nur die Stille. Sie legte sich wie Balsam auf die geschundene Seele. Draußen lag ich am Busch im Schatten. Ringsumher Sonnenschein. Stille. Frieden. In mir Ruhe. Stille. Frieden. Keine Angst vor dem Häscher.
Die Menschen, die in der Ferne ihre Erde bebauten, waren gar keine Menschen. Eine Art höherer Haustiere. Sie quälten mich nicht. Verfolgten mich nicht. Wußten gar nicht, daß der Mensch ein Satan sein kann. Daß er gehetzt werden darf, erbarmungsloser als das Wild im Forst.
Ich lag im Schatten am Busch und schlief. Wie lange schon hatte ich nicht geschlafen! Man schläft nicht, wenn die Seele auf den Schritt des Häschers horcht die ganze Nacht.
Hier schlief ich den ganzen Tag. Jeden Tag. [151] Je mehr ich schlief, desto schlafseliger wurde ich. Ich sah nichts. Hörte nichts. Fühlte nichts. Nur Ruhe. Hier waren die Hunde Freunde der Menschen. Nicht die Menschen Hunde für ihre Freunde. So ward die geschundene Seele gesund. Langsam. Ohne daß ich es merkte.
Allmählich sah ich die endlosen Wiesen mit den nickenden Blumen. Wenn ich das Dorf hinter mir ließ, fing ich an stillzustehen. Gras. Weite, sonnige Ebene. Darin kleine Stücke Ackerland. Gestern wars wie heute. Morgen wird es nicht anders sein. Wogendes Gras. Endlose Ebene. Weit hinten am Busch der Baum, in dessen Schatten ich schlief.
Wochen vergingen.
Ich fühlte nicht mehr den brennenden Haß gegen alles, was Mensch hieß. Wunschlose Gleichgültigkeit kam über mich. Ich wollte nichts. Hoffte nichts. Alles, was ich brauchte, war mein. Ruhe. Einsamkeit. Vergessen schmutziger Niedertracht.
Jeden Tag führte mein Weg durch die Wiese. Ein geschlängelter Pfad leitete meine Schritte. Zuweilen fiel mir ein weißer Punkt ins Auge. Fern in der Wiese lag er vor mir. Der Fußsteig führte wohl in der Nähe vorbei. Anfangs beachtete ich ihn gar nicht. Es war etwas Weißes. Nichts weiter. Ein Baum, eine Blume. Ich dachte nicht weiter darüber nach.
[152] Ganz allmählich weckte er doch meine Aufmerksamkeit. Ein weißer Fleck mitten in der grünen Ebene. Ich sah ihn, wenn ich den Fußweg betrat. Ich vergaß ihn, wenn ich in seine Nähe kam. Nein, ich vergaß ihn nicht. Er war dann nicht da. Lag ich am Busch und blickte zurück, glänzte auch der weiße Fleck wieder im Grünen.
Meine Neugier ward rege. Was wars mit dem weißen Fleck? Ich fing wieder an, Interesse an Dingen zu gewinnen. Meine Seele begann zu gesunden. Ich nahm mir vor, das Geheimnis des weißen Flecks zu ergründen. Ich begann zu beobachten.
Als ich den Fußweg betrat, war er da. Ich schritt lebhaft vorwärts. Mein Gang war ordentlich elastisch. Ich staunte selbst darüber. Als ich den halben Weg zurückgelegt hatte, richtete der weiße Fleck sich auf. Er bewegte sich eine Strecke seitwärts. Ward schwarz. Kehrte an seinen Platz zurück. Sank wieder in sich zusammen.
Nun wußte ichs. In dem Ackerstück arbeitete ein Mensch.
Was kümmerte mich ein Mensch! Wenns noch ein Tier gewesen wäre! Oder ein Baum. Oder sonst etwas. Aber ein Mensch! …
Tage vergingen.
Ohne daß ichs wollte, begann mich der Mensch zu beschäftigen. Wenn ich ihn aus der Ferne sah, [153] war er weiß. Kam ich näher, wurde er schwarz. Lag ich unter dem Busch, war er wieder weiß. Seltsam! Wie ging das zu? Was sollte das? Hatte es überhaupt einen Zweck?
Meine Neugier wuchs. Ein Zeichen fortschreitender Gesundung.
Ich sah mir den Menschen an. Es war ein Weib. Sie arbeitete zwischen den Rüben. Wenn ich näher kam, zog sie die Jacke an. War ich vorbei, legte sie das Kleidungsstück wieder ab. Der Hitze halber. Der weiße Fleck war ihr Hemd, das den Oberkörper von den Hüften aufwärts umschloß.
Wie mich das berührte! Ich hatte sie noch gar nicht angeschaut, aber ich war die Ursache, daß sie die Jacke anzog. Sie wollte nicht von mir gesehen sein in der bloßen Leinwand. Sie verhüllte sich meinethalben.
Inwendig lachte ich. Was ging mich dieses Weib an? Was gingen mich die Menschen überhaupt an? Auf einige Tage quoll der Widerwille gegen Gottes Ebenbild mit dem Herzen des Teufels wieder auf. Ich hatte genug davon. Fürs ganze Leben. Für die Ewigkeit sogar. Meinethalben mochte das Weib mit oder ohne Jacke ihre Rüben hacken.
Eines Tages blieb ich dennoch stehen und sah ihr zu. Sie arbeitete fort, ohne sich um mich zu kümmern. Im Gleichtakt schlug die Hacke das Erdreich. Dann war sie drüben. Sie richtete sich auf. [154] Die beiden unteren Knöpfe der Jacke waren noch offen. Sie schloß dieselben. Dann kam sie herüber. Wo ich stand, mußte sie von neuem beginnen.
Ein jugendliches Gesicht. Aus dem Schatten des breitrandigen Hutes blickten mich zwei dunkle Augen groß und ruhig an. »Guten Tag! Das Wetter ist heute wieder schön.«
Ich gab das zu. Noch einige nichtssagende Worte, dann trollte ich mich. Als ich zurückschaute, hatte sie die Jacke wieder ausgezogen.
Ich lag im Schatten am Busch und träumte. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit träumte ich wieder. Von dem Mädchen träumte ich.
Dieses ruhige, milde Kindergesicht! Sechzehn Jahre mochte sie zählen. Keinenfalls mehr. Diese offenen, klaren Augen! Bis in die Seele hinein konnte man schauen. Hinter dieser Stirn hatte noch kein häßlicher Gedanke gewohnt. In dieser …
Was wußte ich eigentlich davon? Doch wußte ichs. Es war so. Diese junge, schwellende Brust hatte noch keine Leidenschaft beherbergt. Und schön war das Mädchen. Ja wohl! Schön, weil sie rein war.
Ich paßte die Zeit ab, bis sie nach Hause ging.
Sie hieß Alwine. Ich schämte mich. Wir waren Hausgenossen. All die Wochen schon. Ich wußte es nicht. Wie ich mich schämte! Ich fühlte etwas für dieses Mädchen, das so still und ruhig seinen [155] Gang ging. Das so rein und unschuldig in die Welt schaute. Das niemals mit den Augen funkelte, niemals mit den Blicken zitterte oder auswich. Das keine Schämigkeit heuchelte, weil die wahre Unschuld überhaupt keine Scham kennt. Nur die Jacke zog sie regelmäßig an, wenn ich in der Ferne auftauchte, um sie wieder abzulegen, sobald ich weit genug fort war. Aber das geschah still und ruhig. Ohne jede Ahnung von Herausforderung. Einfach selbstverständlich war es.
Ich sprach selten mit ihr. Stets nur wenige, gleichgültige Worte. Meine Gedanken beschäftigte sie unausgesetzt. Meine Wirtin war ihre Stiefmutter. Ich hörte sie mit Alwine schelten, wenn nicht genug Arbeit beschickt war.
Wenn ich etwas für das Mädchen thun könnte! Die Stiefmutter war sicher froh, wenn sie das Kind der Ersten los wurde.
Ich mußte lachen. Ich etwas thun! Wer war ich? Was hatte ich? Was konnte ich thun? Ich!? Aber die Gesundheit war da. Ich wollte schon beweisen, wer ich war und was ich konnte. Was gings mich an, daß ein zweibeiniger Hund mit seinem Tritt die Erde verunreinigte?
Zu Alwine sagte ich nichts. Zu niemand. Aber in mir selbst machte ich Pläne über Pläne. Einer immer verrückter als der andere. Ich war wieder Optimist vom reinsten Wasser. Die Ruhe, die [156] Stille, die Sicherheit hatten meine Seele gesund gemacht. Die Luft, der Sonnenschein, die derbe Hausmannskost gaben meinen Gliedern ein wohlthuendes Kraftgefühl. Ich fühlte wieder die Wonne des Daseins.
Irgendwo war Schützenfest. Alwine war mit Bekannten hingegangen.
Der Abend kam. Die andern Mädchen kehrten zurück. Alwine war noch nicht da.
Ich begann unruhig zu werden. Die Stiefmutter schmälte im Hause herum. Ich beschloß, in der Nähe zu bleiben.
Unter der dichten Laube vor der Hausthür setzte ich mich auf ein Brett. Es vertrat daselbst die Stelle einer Bank. Der Himmel bewölkte sich. Unter der Laube war es völlig dunkel. Endlich kam Alwine.
Die Stiefmutter hörte kaum ihre Stimme, als sie in der Hausthür erschien. Wahrscheinlich wußte sie nicht, daß ich in der Nähe war. Die Dunkelheit entzog mich jedem Blick. Eine maßlose Scheltrede ging über Alwine nieder. Der späten Heimkehr wegen. Das Mädchen sagte kein Wort.
»Meinethalben brauchst Du gar nicht wiederzukommen,« schloß die zornige Frau. Schmetternd warf sie die Thür ins Schloß.
Alwine blieb draußen. Dicht vor mir stand sie. Ich wußte nicht, ob sie meine Anwesenheit ahnte. Wie mir das Mädchen leid that! Wahrscheinlich [157] weinte sie. Leise stand ich auf und legte den Arm um ihre Taille. Ihr Kopf sank an meine Schulter.
»Alwine!«
Sie regte sich nicht.
Ich fühlte, daß mein Blut zu rasen begann. Meine Hand fand die Knöpfe an ihrem Kleide. Über der jungen, herrlichen Brust. Sie trug kein Korsett.
»Alwine!«
Sie regte sich nicht.
Ich ließ sie nicht mehr los. Einen Schritt zurück. Langsam ließ ich mich niedersinken auf die Bank. Auf das Brett. Ich zog sie mit mir. Zog sie an mich.
Ich fühlte die jungen Glieder durch die Kleider. Ohne Kleider. Sie hing an meiner Brust. Sie sprach nicht. Sie regte sich nicht. Ihre Arme lagen auf meiner Schulter. Ihre Wange berührte mein Gesicht. So stand sie vor mir. Die Füße auf der Erde.
Immer wärmer zog ich sie an mich. Immer fester. Sie widerstrebte nicht. Ich fühlte es, sie war mein.
Aber die Bank. Das verdammte Brett. Mit ihren Knieen stieß Alwine dagegen. Die Bank war zu lang. War kein Stuhl. Immer kamen ihre Kniee dagegen.
»So geht es nicht. Die Bank …« flüsterte Alwine leise. Dicht an meinem Ohr.
[158] Ein Eisberg hätte mich nicht anders berührt. So ging es wirklich nicht. Das wußte Alwine! Das unschuldige, reine Kind! Sie belehrte mich. Alwine mich!
»So geht es nicht.« Sie sagte es noch einmal. Ungeduldig.
Ich stieß ein Hohngelächter aus und lief davon.
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