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Trägts nicht länger mehr.

Schneiderin war Alma. Sechs und dreißig Jahre. Vermutlich fehlte es ihr nicht an mancherlei körperlichen Reizen. Gesehn hatte sie keiner. Sicher vorhanden war gute Mittelgröße. Dazu langes, wunderschönes, aschblondes Haar. In der Leibesmitte jene Beschränkung des eigenen Selbst, die eben so gut eine schlanke Taille wie ein enges Korsett bedeuten kann. Darüber und darunter Ausbuchtungen für hervorragend Weibliches. Glaubensartikel, garniert mit allem Reiz der jeweilig neuesten Modebilder. Ob den Andeutungen Thatsachen entsprachen? Du lieber Gott, wer die Nuß knackt, findet den Kern. Für Alma hatte sich noch kein Nußknacker gefunden. Trotz ihrer sechs und dreißig Jahre saßen die Schalen fest auf einander.

Ich weiß nicht, was es dabei zu lachen giebt. Zu erotischen Leibesübungen gehört Gelegenheit und freie Zeit. Daran fehlte es Alma. Wo in aller Welt soll ein eingesperrter Storch die Kinderchen hernehmen?

[93] Theorie …. natürlich. Alma war Schneiderin. Wenn die Kundschaft zur Anprobe zu ihr kam, sah sie vieles, was gar nicht da war. Sehr viel. Ist der Hügel im Garten zu klein, karrt der Gärtner Sand drauf. Alma verstand ihr Geschäft. Kleider machen Leute, aber die Kleider machte Alma. Was die Kundinnen nicht mit in die neuen Kostüme hineinnahmen, fanden sie bereits darin vor. Bei der Anprobe sind die Damen gesprächig. So erfuhr Alma das Nötige über Nutzen und Gebrauch der Dinge, die monumental zu gestalten Aufgabe ihrer wattierenden Hand blieb.

Also Theorie, die hatte Alma. Aber in der Praxis, da haperte es. Weder abends im taufrischen Grase, noch im Dunkeln auf dem Treppenabsatz war sie jemals gefallen. Sie wußte, wo der Baum der Erkenntnis rauscht. Ein Privatissimum unter seinen Zweigen … nicht rühr an.

Ob es Alma an Lust fehlte? Gott bewahre! Warum soll eine Schneiderin anders geartet sein als die übrigen Auch-Jungfrauen? Sie war nicht blödsinnig. Im Gegenteil, ein ganz kluges Mädchen zwar sie. Sie kannte ihre Anlagen ganz genau. Mit Wonne hätte sie davon Gebrauch gemacht bei passender Gelegenheit. Aber da lag es. Weil sie noch gutherziger als klug war, durfte sie weder Kasino- noch Kutscherbälle besuchen. Die häuslichen Verhältnisse brachten das so mit sich.

[94] Da war erstens Almas Vater, Herr Braack. Ein würdiger Mann. Groß. Schneeweißes, kurzgeschorenes Haar. Es fehlte noch keins. Er sagte das oft. Rundes, rotes Gesicht ohne Bart. Embonpoint … aber wirklich sehr stattlich. Und vor allen Dingen die Haltung! Ohne Scherz. Es lag etwas Imponierendes in der Art, wie Herr Braack sich trug. Das datierte noch aus der Zeit, als sein Name auf der Liste zur Stadtratswahl stand. In allen Kommunalvereinen hieß es: »Wählt Braack!« Öffentliche Versammlungen wurden gehalten mit dem Kriegsruf: »Wählt Braack!«

Als Almas Vater zum ersten Mal auf der Rednertribüne erschien, zeigten sich die Anfänge der erwähnten großartigen Haltung. Nach Schluß seiner Ansprache schrie wieder alles: »Wählt Braack!« Das gab seinem Rückgrat einen weiteren Zug ins Erhabene. Er hatte es beibehalten.

An dem Ergebnis der Wahl bestand kein Zweifel. Herr Braack begann mehr und mehr seine stadträtliche Begabung zu fühlen. Hinfort wollte er nur noch im Interesse seiner Mitbürger thätig sein. Nichts sollte ihm dabei hinderlich sein. Mit Hülfe des Konkursverwalters zog er sich so schnell als möglich von seinem Privatgeschäft zurück.

Da zeigte sich wieder einmal der Undank der Welt. Statt ihren Mitbürger zu bewundern, der sein Privatinteresse auf dem Altar der Bürgerpflicht [95] opferte, strichen die Wähler seinen Namen von der Kandidatenliste. So fand sich Herr Braack eines schönen Morgens ohne Geschäft und ohne Mandat.

Die Bewunderung seiner Familie blieb ihm erhalten, das war sein Trost. Die Seinigen wußten das Opfer zu schätzen, welches er gebracht hatte. Besonders fühlte Alma einen grenzenlosen Respekt vor der Würde, die ihr Vater beinahe erlangt hätte. Der ganzen Welt zum Trotz nannte sie ihn hinfort nur noch »Herr Stadtrat.« Waren die Leute zu dumm, Herr Braacks Größe zu begreifen, seine Tochter Alma verstand ihn. Ihre Bewunderung genügte Herr Braack vollkommen. Er bewahrte die Würde seines Rückgrats und trug sich wie ein Ober-Bürgermeister.

Nach dem Strich, den sein Name auf der Kandidatenliste erfuhr, wurde Herr Braack blind. Vielleicht half ein geheimer Kummer dabei mit. Das wäre thöricht gewesen. Die Schlußrechnung des Konkursverwalters wies deutlich nach, daß jeder Gläubiger drei Prozent seiner Forderung erhielt. Das war ein außerordentlich günstiges Resultat. Wer bedenkt, daß der Konkursverwalter leicht mit viel weniger Vorteil für die Gläubiger hätte abschließen können, sieht leicht ein, wie wenig Grund Herr Braack hatte, sich dieserhalb die Augen auszuweinen.

Die Blindheit kam doch über ihn. Es war [96] keine banale Blindheit, zu der jeder gewöhnliche Mensch kommen kann. Bei groß angelegten Naturen vollzieht sich alles in besonderen Formen. Plötzlich, ohne Vorzeichen, sozusagen aus der Luft flog es Herr Braack an. Eines Morgens stand er auf und war blind. Konnte nicht sehen. Das heißt, das Licht sah Herr Braack noch. Weiter nichts. Über die Größe der sichtbaren Lichtportionen ließ sich Herr Braack weiter nicht aus. Er war eben blind.

Der Doktor kam. Er suchte lange. Schüttelte oft den Kopf. Die Blindheit fand er nicht. Auch keinen Grund dazu. Die Augen zeigten nicht die geringste Veränderung. So ein Fall war dem Doktor noch nicht vorgekommen.

Konnte Herr Braack dafür? Er mußte doch am besten wissen, was ihm fehlte. Der Doktor gestand ja selbst seine Dummheit ein. Herr Braack verzichtete darauf, sich von Ignoranten behandeln zu lassen. Blind war er. Blind blieb er.

Ein blinder Mann kann sich nicht ernähren, selbst wenn er das Licht noch sieht. Ein Geschäft hatte Herr Braack nicht mehr. Sollte er betteln? Ein Mann, der beinahe Stadtrat geworden wäre! Eigentlich war er es schon. Auf die paar Formalitäten, die dran fehlten, kam es am Ende nicht an. Betteln konnte Herr Braack nicht. Das durfte er nicht. Alma hätte das niemals zugegeben. Da er sich nicht selbst ernähren konnte, und da Frau Braack [97] mit seiner Wartung hinreichend beschäftigt war, fiel die Sorge für die Familie auf Alma. Ganz naturgemäß.

Alma lernte schneidern. Arbeitete von morgens bis nachts. Niemals hätte sie geduldet, daß der Herr Stadtrat seine Bedürfnisse um ein Loch zurücksteckte. Er trank kein Bier. Als er noch nicht blind war, genoß er nur Wein. »Polschen« trank man damals. Der bekam gut, und der Mensch blieb bei Verstande, wie der Herr Stadtrat sagte. Alma nähte so fleißig, daß auch »Polscher« dabei herauskam.

Jeden Morgen führte Frau Braack den Herrn Stadtrat ins Freie. Im Stadtpark gab es Bänke genug. Dort blieb Almas Vater bis zum Mittag. Konnte er die Welt nicht sehen, mußte er wenigstens etwas davon hören. Das war nur billig. Auch die frische Luft that ihm gut.

Im Stadtpark pflegten sich junge und alte Damen zu ergehen. Der blinde Mann mit den dichten, weißen Haaren und der imponierenden Haltung erregte bald Aufsehen. Seine tastenden Bewegungen weckten den Mut zu Hilfsleistungen. Bald hatte Herr Braack einen großen Kreis junger Freundinnen, die ihm gern den Arm boten, wenn er etwas Bewegung haben wollte. Sie plauderten und lachten mit ihm. Erleichterten ihm sein Geschick auf jede Weise. Gabs einen hinuntergerutschten Strumpf in die Höhe zu ziehen, vor Herrn Braack brauchte sich [98] die keuscheste Seele nicht zu genieren. Er war ja blind, der arme Mann. Auch vermied er, darüber zu reden, daß er das Licht noch sah, und welcher Art dieses Licht war.

Da gaben sich denn die jungen Damen in harmloser Natürlichkeit. Sie bewunderten Herr Braacks Augen, die trotz aller Blindheit so klar waren, daß selbst ein Doktor kein Fehl dran fand. Sie freuten sich über seine launigen Worte. Herr Braack war witzig und sprach gut. Die Blindheit hatte seinen Humor nicht zu trüben vermocht.

Oft erzählte Herr Braack seinen hübschen Zuhörerinnen, wie Alma sich für ihn plagen mußte. Er bedauerte sein armes Kind, das niemals ins Freie kam. Die jungen Mädchen wurden gerührt. Sie wurden allesamt Almas Kundinnen.

Das Geschäft blühte. Alma mußte sich Gehülfinnen nehmen. Der »Polsche« floß wieder reichlich für Herr Braack. Alma sah vollkommen ein, daß ihr Vater eigentlich das Geschäft machte. Trotz seiner Blindheit. Herr Braack wurde in Haltung und Embonpoint immer stattlicher.

Zum Mittag wurde der Herr Stadtrat nach Hause geholt. Das gehörte zu den Obliegenheiten seiner Frau. Nach dem Essen blieb er daheim. Dann kamen Almas Kundinnen. Sie unterhielten sich gern mit ihm. Vor dem blinden Mann brauchte man sich beim Anproben gar nicht zu genieren.

[99] Alma schneiderte Tag ein, Tag aus. Wurde sechs und dreißig Jahre und blieb trotzdem eine ungeknackte Nuß. Dafür sorgte ihre Mutter. Wenn Alma heiratete, hätte ihr Mann am Ende ein Wort mitreden wollen. Das idyllische Familienleben erhielt dann einen Stoß. Es gab jetzt nur einen Herrn im Hause, Herr Braack. An der Würde der Hausfrau trug Almas Mutter noch nicht zu schwer.

Sie empfing die Besucher an der Thür. Nahm dem Postboten die Briefe ab. Las alles durch, was Almas Adresse trug. Kein rendez-vous. Alma mußte genau berichten, wo sie gewesen, mit wem sie gesprochen. Bei erster Gelegenheit wurden die betreffenden Personen ausgefragt, ob sich auch alles so verhielt. Ob Alma es sich anders wünschte, kam gar nicht in Betracht. Den Hausschlüssel bekam sie niemals. Sie wurde behandelt wie ein Baby, dem man die Versuchung ersparen muß. Und deshalb, ich wiederhole es, war Alma mit sechs und dreißig Jahren eine ungeknackte Nuß. Die Propädeutik der Ehe lag für sie in den böhmischen Dörfern. Nicht einmal ein Vorpostengefecht hatte sie erleben dürfen. Nun gar ein ernster Fall! Keine Ahnung! Alma war ein Baby, das ans Heiraten gar noch nicht denken durfte. Herr Braack sagte das. Frau Braack sagte das. Wer sollte es besser wissen als die maßgebenden Eltern?

* * *

[100] Alma konnte nicht schlafen. Für den nächsten Tag war sie zu einer Landpartie eingeladen. Von einer Kundin. Frau Braack hatte nicht nein sagen dürfen.

Fahren! … Ins Grüne! … Stundenlang im Kremser sitzen! So etwas war noch gar nicht dagewesen. Alma schlief nicht aus Angst, die Zeit zu verschlafen.

Plötzlich richtete sie sich auf im Bett. Sie hatte ein Geräusch gehört. Ein leises, schlürfendes Geräusch. Jemand schlich vorsichtig durchs Nebenzimmer.

Diebe! Das war Almas erster Gedanke.

Ihr Vater blind. Die Mutter alt. Was thun?

Sie horchte.

Ein eigentümlicher Laut schlug an ihr Ohr.

Grade als wenn der Kork aus dem Hals der Flasche mit »Polschen« gezogen wird.

Was war das?

Alma sprang aus dem Bett. Die Neugier überwog plötzlich die Furcht. Leise öffnete sie die Verbindungsthür. Blickte durch den schmalen Spalt.

Vor dem Schrank mit »Polschen« stand der Herr Stadtrat im Hemde. In einer Hand hielt er das gefüllte Weinglas, in der andern ein brennendes Licht!

Der blinde Mann … Licht!

Alma war starr.

Der Herr Stadtrat brachte das Glas zwischen [101] seine Augen und die Flamme. Schaute prüfend hindurch. Sein würdiges Haupt nickte befriedigt.

Mit sichtlichem Behagen ließ er den funkelnden Wein über die Zunge laufen. Bis zum Tropfen.

Er schwenkte das Glas aus und hielt es noch einmal gegen das Licht.

Wie ein Spuk war alles verschwunden.

Alma lag im Bette und dachte … dachte … Seit zehn Jahren! Ihre ganze Jugend hatte sie deswegen geopfert …

Ein feines Rot stieg in ihre Wangen. Beinahe jugendlich sah sie aus. Leben! … Leben! …

Sie war ja erst sechs und dreißig Jahre.

* * *

Ein wunderschöner Tag im Jahr. Sommer überall.

Wir hatten gut gefrühstückt. Im Kremser ging es weiter.

Alma und ich waren die einzigen Ehelosen von der Partie. Sie saß mir gegenüber im Wagen.

Die Kniee berührten sich. Almas Augen verließen mich keine Sekunde. Wie eine Rose sah sie aus. Nachblüte. Über Nacht war sie gekommen.

Der Wagen rüttelte und hüpfte. Überall Sommer. Immer weiter! Hinein in den Wald!

Plötzlich wurde Alma blaß. Sie hatte beim Frühstück ein paar Gläser Wein getrunken. Von [102] den guten Dingen reichlich gegessen. Sie vertrug das Fahren nicht.

Ich stieg mit ihr aus.

»Fahrt zu! Wir nehmen den Richtweg durchs Holz.«

Der Kremser verschwand.

Wie war es heimlich unter den Bäumen! In den Büschen piepsten Vögel. Wir gingen hindurch. Allein. Ganz allein. Und so heimlich wars unter den Bäumen!

Alma hing an meinem Arm. Sie preßte ihn fest gegen ihre Brust. Ihre Augen schauten unverwandt zu mir auf. Feucht. Bittend. Ihre Wange berührte meine Schulter.

Ich drückte die zuckenden Finger. »Alma!«

Ihre Brust wogte stürmisch. »Die Welt ist so schön! … Laß uns ein wenig ruhen im Schatten! Ich feiere Geburtstag heut … Ich … ich … ich weiß nicht, was ich will … Ich bin alt genug …«

* * *

»Ist das Seligkeit?«

* * *

»Aber Mädchen, wo bleibst Du so lange!« schalt Frau Braack.

Alma sah ihr ruhig in die Augen. »Ich bin [103] alt genug, um zu wissen, wann ich nach Hause gehe. Sorge lieber für Vater! Für mich ist die Komödie aus!«

»Komödie!?«

»Es kann leicht ein Unglück geben, wenn blinde Leute bei nachtschlafender Zeit mit Licht durchs Haus gehen.«


[104]


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