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Helene war krank. Sie wußte es. Nicht bettlägerig … Ein schleichendes Leiden. Außer ihr selbst ahnte kein Mensch etwas davon, am aller wenigsten ihr Vater. Sie wollte es ihm nicht sagen.
Der Gute! Den ganzen Tag saß er im Bureau. Er plagte sich mehr als nötig, arbeitete wie ein Jüngling, alles für Helene, nur für sein liebes Töchterchen. Seit ihm die Gattin gestorben, war Helene der Mittelpunkt seines Lebens, ihr Dasein heiter zu gestalten, das einzige Ziel seiner Gedanken. Ihr Glück war sein Glück.
Helene wußte das alles. Sie wußte noch mehr. In der Blüte der Jahre war ihre Mutter dahingewelkt. Der Vater verbarg ihr, daß sie die Schwindsucht gehabt. Sie erfuhr es doch. Wie hätte sie ihn jetzt erschrecken dürfen mit der Nachricht, daß sie an derselben Krankheit litt! Früh genug würde er es merken, wenn es nicht mehr zu verheimlichen war. Viel zu früh!
Sie sah es nahen, das Gräßliche. Unabwendbar [39] stand es vor ihr. Ein Fatum. Das Knochengerüst streckte die Hand aus, drohte die Knospe vom Baum zu reißen, bevor sie aufgeblüht war.
So jung noch. Kaum achtzehn Jahre, und schon den Tod vor Augen! Immer. Unablässig daran denken müssen! Vor Monatsfrist war sie noch ein übermütiges Menschenkind. Zu übermütig beinahe. Sie strotzte von Gesundheit und Kraft. In den Adern prickelte die Lebenslust. Wangen hatte sie so rot, daß sie sich ihrer schämte. Sie sah so robust damit aus, so gewöhnlich. Grade wie eine Köchin. Nicht die Spur blaß und interessant. Gelegentlich nahm sie einen Schluck Essig, um der Sache abzuhelfen. Da kam das Verhängnis. Es hielt sie fest. Ließ sie nimmer wieder los. Vielleicht war's die gerechte Strafe, weil sie frevelnd über ihre roten Backen gescholten. Vielleicht! Es konnte aber auch das Erbteil ihrer Mutter sein.
Traurig betrachtete sie ihre Hände. Wie weiß sie waren! Beinahe durchsichtig. Nun hatte sie's. Aber so war's nicht gemeint gewesen. Sie stellte sich vor den Spiegel … lange … lange. So blaß die Wangen, so bleich! Nur in der Mitte zwei rote Flecke. Blühende Rosen … Todesrosen. Die Schwindsucht zeichnete sie ihr ins Gesicht. Sie blühten dem Grabe entgegen.
Helenens Herz klopfte banger und banger. Es ist so traurig, mit achtzehn Jahren den Tod im [40] Spiegel zu sehn. Und niemand hatte sie, ihm ihr Leid zu vertrauen. Allein, ganz allein mußte sie's tragen.
Sie wandte sich ab. Ihre Augen füllten sich mit Thränen. Die Lippen zitterten vor Weh und Herzeleid. Sie weinte … weinte über sich, über ihr junges Leben, über das grausame Geschick, das sie abrief, bevor sie den Becher an den Mund gesetzt. Während ihre Augen überflossen, wurde allmählich auch die Nase feucht. Sie schneuzte sich … kräftig, nachdrücklich.
Das weiße Taschentuch färbte sich rot. Der Quell des Blutes war wieder aufgebrochen. Es tropfte … rieselte … floß. Helene schnupfte kaltes Wasser. Umsonst! Sie mischte Essig bei. Vergebens! Das Blut floß ohne Unterlaß aus ihrer Nase. Rosige Punkte spritzten an die Wände des weißen Porzellangefäßes. Erst nach einer guten Stunde hörte es auf. Da war Helenens Haupt wüst und schwer, ihre Arme wie gelähmt. Sie streckte sich auf dem Sofa aus um zu schlafen.
So ging es beinahe täglich. Wenn ihr Vater heimkam, heuchelte Helene Heiterkeit. Wie lange würde sie's noch können? Schon einmal hatte der alte Herr ihre Wangen geklopft. »Du bist so blaß, Luwise!«
Helene war viel allein. Oft versenkte sie sich in die Zeit, wann sie nicht mehr sein würde. Auf [41]gebahrt sah sie sich liegen … bleich … mit geschlossenen Augen, in duftigen, weißen Kleidern, wie eine Braut. Ringsumher die Freundinnen. Alle in Schwarz. Mit rotgeweinten Augen. Das Zimmer voll Kränze, voll Blumen, voll Palmen. Obgleich sie tot war, hörte sie jedes geflüsterte Wort. »Wie schön sie ist!« … »Die liebe Helene!« … »So jung zu sterben!« … »So jung und so gut und so schön!« …
Das war so unendlich rührend, daß Helene Thränen der Wehmut darüber vergoß. Dabei mußte sie sich natürlich wieder schneuzen. Dann wickelte sich die ganze Reihe ab. Nasenbluten … Wasser … Essig … wüster Kopf … schwere Glieder … Mittagsruhe auf dem Sofa.
Stundenlang träumte Helene für sich allein mit offenen Augen. Für die jugendliche Ausgelassenheit ihrer Freundinnen hatte sie nur ein schwermütiges Lächeln. Die mochten lachen und fröhlich sein! Die standen noch mit beiden Füßen im Leben. Aber sie … Helene! Und kein Mensch wußte darum! Um des Vaters willen mußte sie stark bleiben bis zur letzten Minute. Traurig war es doch. Nicht ihrethalben. Was lag ihr schließlich am Leben? Was sollte es überhaupt noch bringen? Sie hatte die Schwindsucht. Wer so viel Blut verliert, muß die Schwindsucht bekommen. Eines Tages würde der letzte Tropfen dahinfließen. Dann lag sie da, starr [42] und tot. Alles aus und vorbei. Wenns nur erst so weit wäre! – – –
Da kam Leo.
Er war Helenens Verwandter. Vor sechs Jahren hatte sie ihn zum letzten Mal gesehn. Er Student, sie eine halbwüchsige Hummel. Nun stand er wieder vor ihr. Ein wohlbestallter Mann in Amt und Würden. Ein Mann ohne Fehl und Tadel. Ein vollkommen korrekter Mann.
Helene erkannte ihn im ersten Augenblick gar nicht. Dann kam es über sie wie holder Zauber. In reizender Verwirrung senkte sie die Augen. Leo nickte befriedigt mit dem Kopfe. So hatte er sich's gedacht. So war es korrekt. Die Jungfrau verhüllte sich schamvoll vor dem Mann, wie Rebekka that, als Isaak sie anschaute. Nur immer korrekt! Leo haßte alles Unkorrekte.
Leo wohnte im Hause.
Selig unselige Zeit für Helene. Schon am ersten Tage erriet sie, daß er ihrethalben gekommen. Nicht viel länger, da wußte sie auch, die Prüfung fiel zu ihren Gunsten aus. Und nach abermals kurzer Zeit fühlte sie in sich selbst die Gewißheit, der letzte Tropfen Glück auf Erden müsse ihr von Leo kommen.
Selig unselige Zeit! Qualvolle Lust! Äußerlich stand der Verbindung nichts entgegen. In Helene selbst lag die trennende Schranke. Durfte die Todesbraut weiblichen Regungen nachgeben? das Geschick [43] des geliebten Mannes mit dem ihrigen verknüpfen? Sünde wäre das und Frevel. Sünde und Frevel grade wegen ihrer Leidenschaft für den Mann, der in allem so korrekt war. Glücklich sein ist gut; glücklich machen ist besser. Sie konnte das nicht. Sie mußte entsagen. Nicht ins Brautgemach führte ihr Weg. Ihr Ziel war ein stilles Kämmerlein tief unter der Erde.
Das Herz voll heißer Glut und dann Verzicht! Korrekt sein, wenn die Pulse pochen! Selig unselige Zeit mit jedem Tage mehr!
Helene war fast immer mit Leo zusammen. Während der Bureauzeit des alten Herrn blieben die jungen Leute auf sich angewiesen. Auch dann zeigte der Freier sich in allem korrekt. Nicht um Haaresbreite wich sein Verhalten von der ehrbaren Linie ab. Er schwärmte nicht von der Schönheit des Lebens und der Liebe. Noch viel weniger von Helenens persönlichen Vorzügen. So etwas steht nur minderwertigen Männern an. Es lag ihm auch fern, durch geistreiche Aussprüche zu blenden und zu bestechen. Dagegen verbreitete er sich gern über die Pflichten einer christlichen Ehefrau, die ihr Hauswesen führt zur Freude ihres Herrn und zur Erbauung der Gemeinde.
Helene hörte das alles mit wehmütigem Ernst. Für sie kam so etwas natürlich nicht in Frage. Eines Tages pries Leo den jungen Tobias, der [44] Sara, Raguels Tochter, zum Weibe nahm. Nicht böser Lust halber, sondern daß er möge Kinder zeugen. Drei Nächte enthielt er sich ihrer mit Ermahnung und Gebet, bevor er sich zu ihr that. Indes briet die Fischleber auf glühenden Kohlen in ihrer Kammer.
Helene wurde rot, was gar nicht nötig that. Die Sache war vollkommen korrekt. Über die Fischleber im Brautgemach mußte sie doch lachen. Leo sah sie verwundert an. Dieses Lachen ging ihm etwas gegen den Strich. Es war gar nicht korrekt. Er verhehlte es Helene nicht. Sie wurde denn auch gleich wieder ernst.
Leo nahm Veranlassung, seine Gedanken über den Fall des weitern zu entwickeln. Das Wohlgefallen der Sinne ist ein starkes Parfüm. Der Mensch wird dadurch benebelt. Je stärker der Reiz, desto eher stumpft die Gewohnheit ihn ab. Korrekte Leute gehn dem aus dem Wege. Also belehrte Leo die Jungfrau mit dem flammenden Herzen.
Helene gab ihm Recht, aber sie glaubte ihm nicht. Solche Schrullen würde sie ihm schon abgewöhnen, wenn … Dann erschrak sie. Was hatte sie sich um derartige Dinge zu kümmern? Sie würde nie in die Lage kommen, im Brautgemach Fischleber zu braten, um die bösen Geister zu vertreiben.
Oder …? Gewiß, es konnte gar nicht anders sein. Leo erzählte das alles nur zu ihrem Trost. Er war doch ein gesunder, jugendstarker Mann. [45] Wenn es in ihr, in dem schwindsüchtigen Mädchen, so begehrend flammte, wie mußte er dann kämpfen, um korrekt zu bleiben!
Helene fühlte es, der Tag der Entscheidung war nahe. Sie rang mit sich. Sie zitterte vor Bangen und vor Lust. Das Weib in ihr war aufgewacht. Sie sah aber auch das Schwert vor der Thür zum Paradiese. Täuschen durfte sie den Geliebten nicht über ihren Zustand. Das wäre Frevel gewesen. Sie mußte entsagen …
Entsagen! … So jung, so heißen Fühlens voll! Helene weinte bittere Thränen. Noch saß der Tod nicht im Mark ihres Lebens. Noch war sie ihres Körpers mächtig. Ein verlangendes Weib. Sollte sie von hinnen gehen, ohne die köstliche Frucht der Liebe zu schmecken? Wars nicht am Sterben genug? Weshalb sich selbst begraben vor dem Tode?
Einen Augenblick vom vollen Becher schlürfen! – Nicht hinsterben, ohne den holdesten Rausch zu kennen!
Im Garten stand ein Bäumchen. Eine Blüte trugs im Frühling. Jetzt waren seine Zweige dürr. Der neue Lenz rief es nicht wieder zum Leben. Aber die Blüte war dagewesen. Die Blüte mit all ihrem Duft.
Nur einmal blühen! Ein einziges Mal in dieser Welt! Auch um Leo. Ihre Weigerung, sein Weib zu werden, mußte ihn tödlich betrüben. An ihrer [46] Liebe würde er zweifeln. Wenn sie ihm angehörte … nur einmal schrankenlos … ihm alles, alles gab … er würde sie verstehen und um so heißer lieben. Vielleicht bliebe sie gleich in seinen Armen tot. Im höchsten Glück an seinem Herzen sterben! Dann wäre ihr Leben nicht verloren.
Der Abend kam, der sie mit Leo allein fand. Nicht ja, nicht nein sagte sie zu seiner Werbung. Sie zog ihn an ihre Brust. Glücklich sollte er sein … Leben wollte sie … Was dann kam, kümmerte sie nicht.
Helene ruhte auf dem Sofa. Die Augen geschlossen. Die Brust wogend in langen Zügen. Sie hatte sich ein Denkmal gesetzt durch hingebende Liebe. Nun war ihr Herz voll Seligkeit.
Leo stand vor ihr. Er dachte an den jungen Tobias und an die gebratene Fischleber. Scheu blickte er auf Helene. Ein schuldbeladener Sünder. Dann wurde er zornig. Alles, was korrekt in ihm war, empörte sich. Das Weib hatte ihn verführt. Er hätte sie prügeln können.
* * *
Die Geschichte kann so nicht aus sein? Weshalb nicht? Es geschah wirklich nichts mehr von Belang. Was aus Helene geworden ist? Gestorben ist sie nicht. Sie hat auch gar nicht die Schwindsucht gehabt. Das bißchen Nasenbluten?! Stoffüberfluß! [47] Als ihr Geschick sich erfüllt hatte, blieb es aus. Sie blühte auf wie eine Rose. Schwindsucht?! Das sind solche Ideen. Ich habe sie auch gehabt, als ich jung war.
Leo? Was der that, möchten Sie wissen? Er benahm sich auch ferner als korrekter Mann. Am nächsten Morgen reiste er heimlich ab. Dann kam ein Dankbrief für freundliche Aufnahme an Helenens Vater. Die Tochter ließ er grüßen.
»Und dann?«
Ja das ist doch selbstverständlich. Als Helene sich gesund fühlte, rief sie den Geliebten zurück. Drei Tage später zerknitterte ihre Hand seine Antwort. Sie hätte ihm die Freude an der Brautnacht verdorben. Ein Mädchen, das sich vor der Hochzeit vergißt, thät's auch später in der Ehe. So Eine könne seine Frau nicht werden. Niemals. Er war eben ein korrekter Mann, Leo. Einem korrekten Mann darf ein Mädchen ihr Kleinod nicht anvertrauen. Erst schriftlichen Kontrakt. Amtlich unterstempelt.
»Und dann?«
Ach was, und dann! Lassen Sie mich mit Ihrem »Und dann« in Ruhe!