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Sie erinnern sich noch an die Wahlhalle?
Walhalla? Gewiß!
Nein Wahlhalle. Eine Halle, wo man wählt. Der Kaufmann sagt Musterlager. Im Weingeschäft heißt es Probierstube. Wer was braucht, geht hin, sucht aus, bestellt ganz nach Gefallen. Herr Lehmann nannte sein Bierlokal eben Wahlhalle.
Schön! Also Wahlhalle.
Einige Jahre ist es immerhin schon her. An Fenstern und Thüren große Plakate, daß die Leute stehen blieben und zu lesen anfingen. Dreißig schneidige, junge Kellnerinnen sorgten mit rühmlichem Eifer für die Unterhaltung und Bedienung der Gäste. Das sagten die Plakate. Nach der Lektüre gingen die Damen weiter. Sie thaten, als ob sie die Sache nicht verständen. Die Herren sahen nach der Uhr, ob sich ein Viertelstündchen zu einem Besuch noch erübrigen ließ. Jedenfalls merkten sie sich die Adresse der Wahlhalle, um sich gelegentlich von der Güte des Gebotenen zu überzeugen.
[120] Marie gehörte zu den erwähnten Dreißig. Sie verstand ihr Geschäft schlecht. Leider darf das nicht verschwiegen werden. Halbwegs, aber nur halbwegs, ließ sichs freilich entschuldigen. Marie trug die kleidsame Livrée der Wahlhalle zum ersten Mal. Blauen Sammet ohne Ärmel. Ein schmales Bändchen über die Schultern verhinderte das Hinunterrutschen. Weiter unten modellierte der Sammet die Hüften und ihr Hinterland. Beim Schreiten lag er prall auf den Lenden. Am Knie hörte das Kostüm ganz auf. Wozu Stoff verschwenden? Die Gäste der Wahlhalle verlangten Anregung. Sie wollten keine Katze im Sack. Waden sind bloß unanständig, wenn einer keine hat. Marie brauchte in dieser Hinsicht nichts zu fürchten. Wahrhaftig nicht! Dennoch setzte sie sich knapp auf den vorderen Rand ihres Stuhles … steckte die fortschrittlichste Hälfte ihrer Gliedmaßen so weit als möglich unter den Sitz … unterschlug den Augen der Gäste ein schönes Stück ihrer Weide.
Herr Lehmann, der Inhaber der Wahlhalle, bemerkte solches Gebahren höchst mißfällig. Was fiel dem Frauenzimmer eigentlich ein? In seinem Lokal gab es keine Heimlichkeiten. Anstand? Was heißt Anstand? Sind Röcke anständiger als Strümpfe? Wenn die Strümpfe bis unter den Spitzenrand der weißen Hosen hinaufreichen, das genügt, sollte man meinen. Die feinsten Familien lassen ihre Töchterchen [121] mit nackten Waden auf die Straße laufen. Den ganzen Sommer lang. Ein paar Jahre älter macht doch keinen Unterschied. Beine sind Beine.
Aber das Mädel, die Marie, verstand ihr Geschäft nicht. Deshalb machte sie auch keine Kasse.
Der Biedermann schüttelte verständnislos den kahlen Schädel. Der dicke Fettwulst, welcher ihm vom Kinn auf die Brust hing, geriet dabei wabbelig ins Schunkeln. Alles that er, seinen Damen das Fortkommen zu erleichtern. Aber alles! Der blaue Sammet war extra darauf zugeschnitten, ihre Bildung ins rechte Licht zu setzen. Wo der Anzug fehlte, waren sie doppelt anziehend. Grade die Unzulänglichkeit desselben unterstützte die Sprache der nackten Thatsachen. Jeder unlautere Wettbewerb war ausgeschlossen. Aber diese Marie! Sie verstand die Vorteile ihrer Proportionen nicht auszunutzen. Sie machte keine Kasse. Sie verdiente Herrn Lehmanns Wohlwollen durchaus nicht.
Und dabei hatte er dem Mädchen sein gefühlvolles Herz zugewendet. Gleich als sie sich mit dem Zettel des Agenten zum Dienstantritt meldete, fingen seine wässrigen Augen Feuer. Sie war noch jung. Siebzehn Jahre mochte sie zählen. In ihrem Gesicht lag etwas – – – etwas – – – oder vielmehr der Abglanz von etwas, das die Mädchen nur einmal und oft nicht sehr lange haben. Die Damen, welche in der Wahlhalle bedienten, brachten [122] es meist nicht mehr mit. Herr Lehmann hatte ein Urteil darin. Darum rieb er sein feistes Kinn, als Marie sich ihm am Morgen vorstellte. Er war entschlossen, sie zu protegieren, bis sie ihren Weg allein machen konnte.
Und nun saß sie da und steckte die hübschen Strümpfe unter ihren Stuhl, daß kein Mensch das feine Gewebe bewundern konnte. Wenn ein Herr ihren Arm zu tätscheln versuchte, machte sie ein Gesicht wie eine Wildkatze, die sich im Schwanz gezwickt fühlt. Herr Lehmann fuhr mit beiden Händen nach seinem Kopf. Er hätte sich die Haare gerauft, wenn er welche gehabt hätte. Dieses Mädchen! Das ganze Lokal könnte sie verrückt machen in diesem Kostüm. Die Wahlhalle war doch sozusagen die Börse der Venus. Die Speis'- und Trankopfer, welche von den Gästen dargebracht wurden, dufteten keinen Vestalinnen zu. Weshalb hatte das Frauenzimmer nicht Subscriptionsbälle besucht, ehe sie zu ihm kam? Dann wären ihre Schultern an die Ausstellung gewöhnt, und sie machte der Wahlhalle keine Schande. Was mußten die Gäste von ihrem Verhalten denken? Sollte sein Geschäft leiden, weil sie ihr Geschäft nicht verstand?
So durfte es nicht weitergehn. Trotz seines guten Herzens fühlte Herr Lehmann eine zornige Regung. Das Mädchen brachte ihn um seinen Verdienst. Undankbar war sie. Drei Tische in seinem [123] Lokal stellte er ihr unentgeltlich zur Verfügung, daß sie sich mit den Besuchern anfreunden konnte. Selbst für das Kostüm berechnete er nur eine Mark Leihgeld den Tag. Kein Herr und Gebieter, nein Freund und Wohlthäter war er seinen Damen. Nicht umsonst hieß sein Lokal Wahlhalle. Jede einzelne konnte gewählt werden, ohne daß er Prozente dafür verlangte. Wenn eine morgen nicht wiederkam, forschte er ihrem Verbleib nicht nach. Er störte keine in ihrer Karriere. Bei ihm verkehrten nur gutgekleidete Herren von Bildung und Besitz. Einzig um diesen die Freude des Bezahlens nicht zu schmälern, versagte er sichs, selbst für die Beköstigung der Bedienungsjungfrauschaft zu sorgen. Für sich brauchte er die vielen Damen nicht. Die Herren wünschten Auswahl. Gemütsmensch durch und durch, hätte er am liebsten jedem eine besondere Gesellschafterin serviert. Dafür rechneten sie es sich zur Ehre, ihre Partnerin in Speise und Trank freizuhalten. Nur etwas animiert mußten sie werden. Den Damen war dabei Gelegenheit geboten, über unterhaltende Nebenbeschäftigungen in den dienstfreien Zeiten Rücksprache zu nehmen. Und was verlangte Herr Lehmann für so viel Gunst? So gut wie nichts. Weniger als nichts. Die Damen hatten nur über Hunger und Durst zu klagen, wenn ein Herr in ihrem Wirkungskreis ansässig wurde. Essen und trinken sollten sie auf fremde Kosten. War das [124] ein unbilliges Verlangen? Er richtete die Portionen schon so ein, daß keine Dame Beschwerden davon hatte. Aber diese Marie! Keinen Schluck Bier, nicht ein Glas Wein wußte sie sich zu erliebeln. In solchem Kostüm! Mit diesen Waden! Arme hatte sie wie die Würste so mollig. Ein paar Schultern – – Venus in Person wäre stolz darauf gewesen. Und noch kein Beefsteak bestellt! Kein einziges! Das mußte anders werden.
Er schlug mit der Faust auf die Büffetglocke.
Marie wurde an den Schenktisch befohlen.
»Betragen Sie sich anständig in meinem Lokal!« schnauzte Herr Lehmann sie an.
Marie schwieg zitternd still.
»Können Sie nicht hören?«
»Ich bin doch anständig, Herr Lehmann.« Sie wagte nicht, den Gewaltigen anzuschauen.
»Sitzen Sie nicht da wie ein Spatz ohne Schwanz! Sie graulen mir die Gäste fort mit solchem Gesicht.«
»Was soll ich denn machen, Herr Lehmann?«
»Weshalb sind Sie hergekommen, wenn Sie das nicht wissen? Die Herren sollen Sie unterhalten. Lachen sollen Sie. Und trinken. Jawohl, trinken. Warum sagen Sie nicht einem, daß er Ihnen was zu essen kommen läßt? Die Damen haben beinahe alle schon ein Beefsteak gehabt. Bloß Sie nicht. Sie sind die einzige, die keine Kasse macht. Gar [125] keine Kasse. Verstehen Sie mich? Vorhin der junge Mann an Ihrem Tisch – – –«
Herr Lehmann unterbrach sich plötzlich. Er bemerkte daß Marie die Augen aufschlug. Dabei blinkte es hell in ihren Wimpern. Über die Wangen rollte es blitzend zur Erde. In zwei dunkeln Fleckchen blieb es auf der grauen Diele liegen.
Herr Lehmann fühlte den Schlag seines guten Herzens. So deutlich wie jetzt regte es sich selten. Das Mädchen war noch so jung … Offenbar aus besserer Familie. Sie schien guten Lehren zugänglich. Er erinnerte sich an den kleinen Raum hinter der Schenke. Kontor wurde derselbe genannt. Auf dem breiten Schlafsofa lag eine getigerte Decke. Man war daselbst ungestört. Wenn eine seiner Damen das Leihgeld für das Kostüm nicht bezahlen konnte, pflegte er ihr dort ins Gewissen zu reden. Natürlich nur solchen, deren Gliederbau seiner und der Wahlhalle würdig war. Augenblicklich fehlte ihm die Zeit. Aber nach Schluß des Geschäfts. Er hatte es schon am Morgen geahnt, Marie besaß etwas, das für seine Kellnerin überflüssig war. Mehr als überflüssig. Seiner Einnahme und ihrer Laufbahn geschah dadurch Abbruch. Wenn die andern fortgingen, konnte er ihr mit Muße Anleitung geben, wie man Herren unterhält und Kasse macht.
»Gehn Sie an Ihren Platz und betragen Sie sich vernünftig!« sagte er unwirsch.
[126] Während seine glasigen Augen ihr folgten, strich er schmunzelnd mit der Hand über den Fettwulst unter seinem Kinn. Der Gedanke, die Kleine in die höhere Unterhaltungskunst einzuweihen, war wirklich nicht übel. Was er so von ihr sah … allerhand Hochachtung! Es freute ihn ordentlich, daß sie sich wieder in eine Ecke drückte und die Strümpfe unter dem Stuhl versteckte. Wenn ihm jetzt einer zuvorkommen sollte, das wäre ärgerlich. Einmal ließ sich der Ausfall in der Kasse schon tragen. Morgen brachte sie es doppelt wieder ein.
Inzwischen überlegte Marie zum zehnten Mal im Lauf des Tages, ob sie nicht doch besser gethan hätte, ihre Bemühungen um Näharbeit noch eine Zeitlang fortzusetzen. Zwar war sie wochenlang allen Annoncen vergeblich nachgelaufen, aber der Beweis, daß es nicht schließlich glücken könnte, war damit nicht erbracht. Von den hundert Mädchen, welche mit ihr auf gleichen Wegen wandelten, gelang es immerhin einigen, zum Ausbessern alter Wäsche zugelassen zu werden. Auch ihre frühere Erfahrung mit den Klavierstunden sprach für endliches Gelingen. Weil sie damals nicht nachließ, fand sie einen Kellerwirt, dessen Tochter sich übte, ein altes Piano zu prügeln, daß es fortissimo heulte. Zwei Mal die Woche dreißig Pfennige für eine Stunde mit fünf Vierteln ist immerhin Geld. Marie hätte den Verdienst sicher nicht fahren lassen. Aber als ihre [127] Schülerin begriffen hatte, daß man die kraftvollsten Töne mit dem Pedal erzeugt, wurde sie abgelohnt. Der Verlust traf sie schmerzlich, und doch lebte sie zu jener Zeit noch in sozusagen bürgerlichen Verhältnissen.
Als sie mit der Mutter in die Hauptstadt kam – der Vater hatte sich den Weitläufigkeiten des Konkursverfahrens mittels des Revolvers entzogen – brachten sie einige Goldstücke mit. Ihre Habseligkeiten zeigten noch nicht die blauen Flecke, welche die Finger des Gerichtsvollziehers zurücklassen. Es gab Brot im Hause, wenn auch nichts drauf war.
Aber schon damals, als sie mit den letzten drei verdienten Nickeln von der Stätte ihrer musikalischen Lehrthätigkeit im Keller Abschied nahm, händigte ihr ein zufällig anwesender Agent seine Adreßkarte ein, für den Fall, daß es ihr später, oder auch schon früher, wünschenswert scheinen würde, ihr mühsames Brot als Klavierlehrerin mit der Stelle einer Kellnerin zu vertauschen, welch letztere nach seiner Behauptung für Töchter gutgewachsener Familien ebenso amüsant wie einträglich sein sollten. Aber damals aßen Marie und ihre Mutter sich noch jeden Tag in Kartoffeln satt, und ein voller Magen macht hochmütig. Als Marie aufhörte, wählerisch in ihrem Beruf zu sein, hatte der Agent sie in der Wahlhalle plaziert.
Kellnerin sein ging schließlich noch an. Sie [128] brauchte nicht hinzuhören, wenn die Männer zärtlich wurden. An Trinkgeld waren ihr bereits fünfundvierzig Pfennige zugeflossen. Auf etliche Groschen durfte sie während des Abends noch rechnen. Aber das Kostüm! Siedend heiß lief es ihr über den Rücken, wenn sie an ihrer Figur hinuntersah.
Mit dem Eintritt der Polizeistunde stellten die Damen alle Stühle auf die Tische. Marie machte nach, was sie die andern thun sah. Wer fertig war, ging an die Schenke, um sein Verhältnis zu Herrn Lehmann zu regeln. Marie kam zuletzt an die Reihe.
»Eine Mark,« sagte Herr Lehmann geschäftsmäßig.
»Ich habe alles gleich bezahlt,« stotterte Marie.
»Eine Mark für das Kostüm, dumme Gans!«
Marie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
»Dafür soll ich bezahlen?«
»So gut wie die andern. Sie bilden sich wohl Schwachheiten ein? Die teuren Sachen umsonst ruinieren. Das fehlte grade!«
»Aber ich habe keine Mark.«
»Zeigen Sie mal Ihr Trinkgeld!«
Mariens Finger krallten sich um die Nickelstücke in ihrer Tasche. Der Mann verlangte den Schatz, wofür sie sich den Tag über bloßgestellt, für den sie ihrer Mutter Brot kaufen mußte. »Bloß fünf und achtzig Pfennige,« kam es heiser aus ihrer Kehle.
Herr Lehmann streichelte die Fettwamme unter [129] seinem Kinn. »Sie verstehn Ihr Geschäft nicht. Ihr Kleid hängt im Kontor. Gehn Sie hinein! Wollen mal sehn, was sich machen läßt.«
Marie verschwand in der Richtung nach dem Schlafsofa mit der getigerten Decke.
Während der Unterredung des Wirts mit ihrer jüngsten Kollegin drückte sich eine Anzahl der Damen in der Nähe des Schenktisches herum, um ja kein Wort zu verlieren. Herr Lehmann jagte sie hinaus.
»Was habt Ihr hier noch zu schnüffeln? Macht, daß Ihr fortkommt, dummes Pack!«
Kichernd stiegen die Mädchen die Treppe zum Keller hinab, um hinter einem Bretterverschlag die Sammet-Livree mit ihrer Privatkleidung zu vertauschen. Die Mehrzahl kannte das Kontor aus eigener Erfahrung, die andern hatten genügend darüber gehört, um auf die Rückkehr ihrer Genossin gespannt zu sein.
Marie stand inmitten des kleinen Raumes, als Herr Lehmann eintrat. Er drehte den Gashahn soweit auf, daß der Lichtschein überall hinfiel.
»Zieh Dich aus!«
»Ausziehn, Herr Lehmann?«
»Na ja! Kannst doch das Kostüm nicht anbehalten.« Er deutete mit der Hand auf die Wand. »Dort hängt das Kleid. Ich habs heraufholen lassen. Nachher ziehst Du es hier an. Der Keller wird dunkel gemacht.«
[130] »Aber hier kann ichs doch nicht!«
Der biedere Wirt lachte gutmütig. »Wo denn sonst, Närrchen? Raum ist in der kleinsten Hütte.« Ordentlich poetisch wurde Herr Lehmann.
»Wollen Sie nicht so lange hinausgehen?«
»Hinausgehen? Nanu!« Er kniff ihr mit den schwammigen Fingern in die Schulter. »Du verstehst nicht, mit Herren umzugehen, Kind, deshalb verdienst Du nichts. Na, das lernt sich bald. Sollst mal sehen. Aber nun runter mit der Fahne. Einmal ist immer das erste Mal. Magst nachher die Mark behalten. Ich bin nicht so. Ich wills von Dir nicht umsonst.« Er begann die Knöpfe an dem blauen Sammet aufzumachen.
Endlich verstand ihn Marie. Zorn und Ekel packten sie. Ohne ein Wort zu sagen, stieß sie beide geballte Fäuste nach vorn. Herr Lehmann griff nach seiner Magengegend. Er taumelte rückwärts und kam auf der getigerten Decke zu sitzen.
Blitzschnell riß Marie ihr Kleid von der Wand und eilte hinaus.
Hinter dem Bretterverschlag verstummte das Gelächter der Damen, als sie hereinstürzte. Sie warf die Livree ab. Dann fort. Zum Hause hinaus! Erst unterwegs schloß sie den letzten Knopf an der Taille.
Die andern sahen ihr verwundert nach. So schnell und in dieser Art pflegte man im Kontor nicht zu enden.
[131] »Diesmal ist er an die Unrechte gekommen. Geschieht ihm recht. Das alte Ekel!« bemerkte eine der jüngsten.
»Weshalb hast Du es vor vierzehn Tagen nicht auch so gemacht?« fragte eine andere spitz.
»Schweig Du nur still! Bist selbst lange genug im Kontor gewesen,« versetzte die erste prompt.
»Kinder, regt Euch nicht auf!« vermittelte eine Dritte, während sie den Federhut kokett auf ihrem Haar befestigte. »Zuletzt wirds einem egal, wer es ist. Das ist mal so Geschäft. Die Marie giebt sich auch noch.«
* * *
Marie stand vor dem Bette ihrer Mutter. Das Gesicht derselben unterschied sich wenig von dem Linnen des Kissens. Etwas gelber war die Farbe.
Die Backenknochen traten scharf hervor. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Die eingefallenen Schläfe wurden durch ein paar graue Haarsträhnen verdeckt.
»Hast Du etwas zu essen mitgebracht?«
Mariens Herzschlag stockte. Als sie in der Aufregung aus der Wahlhalle floh, blieb ihr verdientes Trinkgeld in der Tasche des blauen Kostüms stecken.
Sie besaß keinen Pfennig, und seit zwei Tagen war kein Brot im Hause. Gewaltsam gab sie ihrer Stimme Festigkeit. »Ich bin schnell heraufgelaufen. [132] Wie es Dir geht, wollte ich erst wissen. Gleich hole ich etwas für Dich.«
»Hast Du Geld?«
»Ja, Mutter. Ich habe eine gute Stelle gefunden.«
»Danke Gott dafür, liebes Kind, und halte sie fest! Das Leben ist so schwer.«
»Versuche ein bißchen zu schlafen! Ich komme bald wieder. Wir werden keine Not mehr leiden.«
Die Frau schloß die Augen.
Einen letzten Blick warf Marie auf das gelbe Gesicht. Hätte sie Herrn Lehmann angenommen, wäre die Mutter jetzt satt. Thun mußte sie es doch. Einen Tag früher oder später, das machte wirklich keinen Unterschied. Es gab Leute, die so etwas für gemein hielten. Was ging sie die Meinung der Leute an? Früher hatte sie diese Mädchen auch verachtet. Solche Mädchen, wie sie jetzt eins wurde. Das war damals, als sie noch satt war und die Mutter auch. Wems aus vollem Magen aufstößt, der hat gut verachten. Sie lachte laut und hart. Es war gar kein Lachen. Wo der Vater die Familie ernährt, brauchts die Tochter nicht zu thun … Jeder handelt mit dem, was er hat … Nach jungen, frischen Gliedern war Nachfrage … Einmal ist immer das erste Mal … Hoffentlich würde es kein ekelhafter Kerl sein, wie Herr Lehmann aus der Wahlhalle …. Sie biß die Zähne [133] aufeinander. Mochte kommen, wer wollte! Wer verkaufen muß, sieht nicht den Mann, sondern den Beutel … Außerdem … Lieber gleich bis über die Ohren hinein, dann war der Ekel auf einmal überwunden.
Marie stieg hinunter auf die Straße.
* * *
»Nun? … Und …«
»Nichts weiter …«
»Ja aber ….«
»Da ist wirklich kein Aber. Marie stieg auch wieder hinauf …«