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Morgens acht Uhr.
Gertrude schlug die Augen auf … dehnte sich unter der Daunendecke … streckte sich … lag wieder still …
Köstliches Erwachen! … Die jungen Glieder erquickt vom langen, gesunden Schlaf. Der Geist unbeschwert von Sorgen. Keine Furcht. Keine Gedanken. Nur unendliches, warmes Behagen. Das Dasein eine einzige Lustempfindung. Wonnig fühlen den Körper, die Jugend, das Leben … Ohne Wunsch. Sich selbst genug …
Gertrudens Blicke hingen an der Decke. Sie sah nichts. Sie horchte in sich hinein … Ein Lüftchen haucht die spiegelnde Fläche des Sees dunkel an … Über die sonnige Wiese huscht der Schatten einer Wolke …
In Gertrudens Wohlbehagen mischte sich eine leise Unruhe. Das Gleichgewicht der Seele war gestört. Die Unruhe wuchs … weckte eine unbestimmte Sehnsucht … gebar die Ahnung ungekannter Wonnen … wurde zum heißen Verlangen.
[30] Gertrude fühlte, daß sie ein Weib war. Es flutete heiß durch die Adern. Die Pulse gingen schneller. Die Wangen glühten. Sie schloß die Augen. Ungestüm schlang sie die Arme um die Daunendecke … preßte sie an die wogende Brust. Brünstige Wünsche und Vorstellungen wirbelten durch ihr Haupt.
Nur einen Augenblick. Gertrude erschrak vor sich selbst … floh vor den brennenden Sinnen. Mit einem Ruck warf sie die Decke ab … sprang aus dem Bett. Die kleinen Füße sanken tief in den weichen Teppich. Dort blieb sie stehen … minutenlang … zitternd … abwesenden Geistes …
Sie erschauerte leise. Hastig eilte sie ins Badezimmer … unter die kalte Douche.
Nach dem Bade machte Gertrude Toilette. Der hohe Spiegel strahlte ihr Bild lebensgroß zurück. Schön war sie eigentlich nicht. Ein blühendes, jugendfrisches Mädchen. Zwanzig Jahre … reif, den Beruf ihres Geschlechts zu üben. Sie schaute sich an und freute sich.
Am offenen Fenster trank sie Kaffee. Ganz allein. Die Hausgenossen waren längst bei der Arbeit. Draußen der Garten im Schein der Morgensonne. Die feuchte, warme Luft trug den starken Duft von Flieder herein. Vom saftigen Rasen quoll ein Geruch auf … würzig … fruchtbar … berauschend …
[31] Lautlose Stille. Ein Taubenpaar saß schnäbelnd auf dem Dach seines Hauses. Wieder fühlte Gertrude das wonnige Behagen … wieder die aufsteigende Sehnsucht.
Sie nahm den Hut und ging ins Freie. Ihr Blick suchte die schnäbelnden Tauben. Sie waren verschwunden. Unter der blühenden Kastanie setzte sie sich auf eine Bank. Das Summen der Bienen tönte von oben herab. Sterbender Orgelklang. Schmetterlinge gaukelten zwischen den Blumen im Grase. Sie haschten sich, neckten einander, wichen sich aus, ließen sich fangen in verliebtem Spiel.
Gertrude stand auf. Sie mochte die Tändelei nicht sehen. Sie beneidete die Schmetterlinge.
Blühendes Fliedergebüsch. Durch eine Lücke im Laubwerk sah Gertrude ein kleines Nest. Das brütende Weibchen saß auf den Eiern. Es duckte den Kopf. Mit schwarzen, blanken Augen schaute es Gertrude an …
Ein freudiger Lockruf aus einer Vogelkehle.
Das brütende Tierchen reckte jäh den Hals aus. Durch Blätter und Zweige hüpfte das Männchen heran … legte eine Raupe auf den Nestrand. Jubelndes Zwitschern. Zärtliche Begrüßung. Der Bissen wurde gemeinsam verzehrt.
Gertrude wandte sich ab … Thränen im Auge. Wie war sie so einsam! Die Welt voll Frühlingsherrlichkeit … Alles lebte … Alles liebte … [32] Nur sie! … Nur sie! … Weshalb gerade sie? Weshalb war sie ausgeschlossen von der Lust? … Der Lenz war da … Sie fühlte ihn in sich. Es knospete und schwoll … Es drängte und mahnte immer heißer … immer verlangender: Gieb! … nimm! … lebe! … liebe! … Am gedeckten Tisch hungern die Thoren … Der Quell fließt den Durstigen zur Labe …
Weiter draußen stießen die Äcker an den Garten. Lerchen trillerten über den grünen Saaten. Klang aus Himmelshöhen. Berauschende Sinfonie aus Tönen, Duft, Sonnenschein.
Wehmut floß in Gertrudens Seele … Allein! allein! …
Sie sah die Großmutter im Felde … die treue Hüterin ihrer verwaisten Jugend. So war es immer. So lange sie denken konnte. Seit sie in dieses Haus gekommen als Vermächtnis der Toten. Die Ahne in Stall und Feld. Wirkend. Herrschend. Sie selbst eine überflüssige Prinzessin zwischen all den fleißigen Leuten.
Umgeben von unverfälschter Natur war sie aufgewachsen, unberührt vom Hauch der großen Welt, ohne verlogene Tugend, ohne des Lasters sittsame Maske. Wie jedes Naturkind lernte sie sehen und hören. Sie wußte, wie der Viehstand im Stall sich fort und fort erneut. Aus den Notizen im Kalender berechnete sie gewissenhaft die Geburtstage künftiger [33] Kälber. Nichts Natürliches blieb ihr fremd. Selbstverständlich war alles. Weder gut noch schlecht. Es gehörte zum Leben. Konnte gar nicht anders sein.
Gertrude wußte längst, daß sie ein Weib war. Sie bemühte sich nicht, Dummheit zu heucheln, die ihren Verstand beleidigte.
Sie war ein Weib. Fühlte die Regung der Natur als holden Zwang. Sehnte sich, ihr Geschick zu erfüllen. Sollte sie klüger sein als die Natur, die sie ausgerüstet hatte zur Liebeslust und Freude?
Die Blume schmückte sich zur Empfängnis mit aller Pracht und Herrlichkeit. Sie fragt nach niemand. Dem schwarzgekehlten Männchen bot sich die Spatzin mit zitternd gespreizten Flügeln. Sie thut was sie muß. Wenn der Tauber die Erwählte gurrend umkreiste, gab es bald junge Brut im Nest. Überall waren Paare. Nur sie war allein. Überzählig. Großmutter und Enkelin sind kein Paar. Die Natur befiehlt, wo die Bitte unbeachtet bleibt. Schon seit dem Morgen gährte es in Gertrude.
Die Ahne kam ihr entgegen. »Thränen, Gertrude? Du weinst, wenn alles blüht und lacht?«
»Ich bin so allein, Großmutter. So einsam.«
Die Greisin sah das gequälte Menschenkind gütig an. Sie setzte sich zu ihr ins Gras, zog das blonde Haupt an ihre Brust. »Was drückt Dich, Gertrude? Erzähle mir alles!«
[34] »Großmutter! Ich bin zwanzig Jahre … Die Libellen sieh an! … Und wie die Falter sich haschen! … Die Heckenrosen drüben tragen bräutlichen Schmuck … Alles spricht von Liebe, atmet Liebe, fordert Liebe … Großmutter … ich bin überzählig … ich … ich … ich kann nicht mehr allein sein, Großmutter!«
»Liebst Du einen, Trudel?«
»Nein, Großmutter.«
»Kennst Du einen, den Du lieben möchtest?«
»Ich sehe ja niemand.«
»Beruhige Dich nur, Kind! Der Frühling liegt Dir in den Gliedern. Das geht jedem so … das giebt sich wieder.«
» Der Frühling nicht … mein Frühling, Großmutter! Mein Frühling! … Es regt sich und sproßt … es drängt und treibt … Der Frühling läßt sich nicht einsperren, Großmutter. Er will hinaus! … ist mächtiger als ich …«
»Das weiß ich besser, Herzchen. Ich war auch einmal jung. Es giebt sich wieder. Solche Sehnsucht fühlt jeder, wenn er jung ist.«
»Achtzehn warst Du, als Dich Großvater nahm. Du hast es selbst erzählt. Ich bin zwanzig, Großmutter … zwanzig …«
»Es kommt bald einer, der Dich heimführt, Kindchen. Hab nur Geduld! Es giebt sich wieder.«
* * *
[35] Hinter dem Garten ein schmaler Fußsteig durchs grüne Feld. Gertrudens Spazierweg. Dann durch Wiesen zum Hain, den der klare Bach durchrann. Jenseits desselben die Landstraße.
Gertrude verweilte gern im Hain. Dort war es einsam und still. Halbe Wildnis. Zwischen Hügeln versteckte Bodenfalten. Allerhand duftende Kräuter wuchsen durcheinander. Gertrude kannte jeden Winkel. Wie eine Eidechse huschte sie darin umher. Finken und Meisen piepsten auf den Bäumen. Zuweilen ließ sich ein Eichhörnchen sehen. Hurtig lief es an der rauhen Baumrinde zur Erde. Machte Männchen im Grase. Kletterte leicht und gewandt wieder hinauf in sein luftiges Reich.
Über den Feldern zitterte die Mittagshitze. Die Bäume im Hain boten erquickenden Schatten. Am Bachrand saß Gertrude. Durch das klare Wasser drangen ihre Blicke bis auf den sandigen Grund. Sie zog die Schuhe aus. Strich die Strümpfe von den Füßen. Die bloßen Beine baumelten hinunter in die kühle Flut. Plantschten wohlig darin herum. Spritzten silberne Wasserstrahlen in die Luft. Mit aufgehobenen Kleidern stieg Gertrude in das seichte Gewässer. Der weiche Sand des Grundes quoll zwischen ihren Zehen hindurch. Sie blieb stehen. Nickte vergnügt ihrem Schattenbild zu. Das rinnende Wasser floß über ihre Füße, begrub sie im Sande. Aus dem Grunde herausgewachsen stand [36] sie da. Eine schlanke Lilie auf zwei schneeweißen Stielen.
Schuhe und Strümpfe warteten unter den über hängenden Zweigen am Busch. Der Hut leistete ihnen Gesellschaft. Gertrude warf sich ins Gras. Auf den Rücken. Der Kopf lag auf den verschlungenen Händen. Die Füße neckten sich mit den Sonnenstrahlen. Durchs laubige Gitter droben suchten die Augen den blauen Himmel.
Träumendes Sehnen … Die Lider sanken herab … Sehnendes Träumen … Süßer Zauber … Wenn doch wer käme, der mich nähme! …
Draußen schwüle Mittagsglut. Gertrude lag schlafend unter dem Haselstrauch. Sie atmete schwer. Ihr deuchte, die Büsche rauschten leise nebenan. Ein lockiges Jünglingshaupt beugte sich über ihr Gesicht. Der Frühling … Er kam auch zu ihr … Sie war nicht mehr allein. Der Hauch seines Mundes berührte ihre Lippen. Kein Hauch … ein wonniger Kuß.
Gertrude erbebte. Regen konnte sie sich nicht. Der Frühling war da … Der Frühling … ihr Frühling …
Seliges Fühlen … Die Knospe wuchs und schwoll … Die Gedanken standen still … Kein Wille, nur Wonne … Der Frühling war da … der Frühling …
* * *
[37] Auf der Landstraße jenseits des Hains schritt frohgemut ein junger Wanderbursch. Die klaren Augen schauten lustig in die Welt voll lauter Frühlingsherrlichkeit. Auf den roten Lippen lag ein sonniges Lächeln. Die Welt war sein … die Welt und der Frühling. Frohgemut verfolgte er seinen Weg. Den Wanderstab schwang er übermütig durch die Luft.
* * *
Unter dem Haselstrauch lag Gertrude … wachend. Durchs laubige Gitter schaute der blaue Himmel ihr in die großen, offenen Augen. Er fand sich selbst darin … der Himmel und der Frühling …