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Die Tante und Laura waren wie immer um Malwina beschäftigt, miteinander wetteifernd, es ihr an nichts fehlen zu lassen und alle ihre Launen und Wünsche zu befriedigen.
Wie stets bei seinen ärztlichen Besuchen verneigte sich der Doktor beim Eintreten in das Krankenzimmer ohne zu sprechen, näherte sich dem jungen Mädchen, das ihm seinen Arm darreichte, erhob ihn behutsam, um sich die Geschwulst zu besehen, und verband ihn. Während er so ganz in seine Arbeit versunken war, dachte sie, der rechte Moment sei jetzt gekommen. Sie betrachtete ihre geschwollene Hand, die Pulsadern, den Arm; dann kam sie zu seinen schön geformten Händen, sah die schneeweißen Manschetten; dann weiter hinauf einen braunen Bart, einen schönen, dunklen Kopf über ihren Arm gebeugt, und für diesen Tag war ihr das genügend. Ja, sie hatte zu viel gethan; wenn er es nur nicht gemerkt hatte!
O nein, es war ihm gar nicht aufgefallen, so völlig war er von seinem Amte eingenommen gewesen.
Den folgenden Tag hatte der Arm sich etwas gebessert, und Malwina wollte den Gesichtsausdruck des Doktors über diese erfreuliche Besserung beobachten. Dieses Mal war es nicht nur ein flüchtiger Streifblick über den braunen Kopf, sondern ein näheres Eingehen in dessen Züge. Ein vollkommen reines Profil bot sich ihr dar, an welchem ein Maler nicht den geringsten Fehler zu entdecken vermocht hätte.
Olga hatte recht; es war ein schöner Kopf. Aber … er mochte wohl keinen besonderen Verstand haben, der Ansicht entsprechend, daß jene, welche gar so schön sind, sich gewöhnlich keiner hervorragenden geistigen Begabung rühmen können. Sie verabscheute die dummen Leute; sie hätte einen häßlichen, aber gescheiten Mann einem Engel an Schönheit vorgezogen, wenn dieser arm an Verstand gewesen wäre.
»Ich kann ihn somit nach Gefallen betrachten, da er weder reich noch geistig begabt ist. Nachdem er kein Vermögen hat, kann er seine Wünsche nicht zu mir erheben; und wenn es ihm an bedeutendem Verstand fehlt, will ich mich nicht zu ihm herablassen.«
Kaum hatte der Doktor sie verlassen, als sie sich fragte, ob sie eigentlich seine Augen beobachtet habe. Sie mußten sicher ohne jeden Ausdruck sein, weil sie ganz darauf vergessen hatte. Den nächsten Tag wollte sie dann ihre Neugierde befriedigen.
Der Morgen desselben schien ihr von endloser Dauer zu sein, ebenso die Nachmittagsstunden, bis zum ärztlichen Besuch. Malwina schrieb dies der Langweile zu und bemerkte ihrer Tante gegenüber, daß sie Lust fühle, aufzustehen, und daß sie mit dem Doktor darüber sprechen möchte.
Derselbe gab die Erlaubnis, und während er mit der älteren Dame sprach, hatte sie Gelegenheit, in seine Augen zu sehen. Auch diese hatten nicht nur keinen Fehler, sondern waren derart, wie sie ähnliche noch nie gesehen hatte. Diese Augen waren schwarz und tief, feucht schimmernd, wie von Thränen verschleiert. Wer weiß, was diese Augen bargen, die zu weinen schienen! … Der Mann mußte einen großen Kummer haben. Und doch, als ein bezauberndes Lächeln den Mund des Doktors umspielte beim Anblick der so schön verheilenden Wunde, hielt sie ihn für ein ihr rätselhaftes Wesen. Ein tiefer Schmerz konnte unmöglich einem solch liebenswürdigen Lächeln Raum gestatten, einem Lächeln, das sie entzückt hatte! …
»Thörin!« sagte Malwina eine Stunde später zu sich selbst, als sie sich bewußt wurde, wie ihre Gedanken immer noch bei dem Doktor weilten, »Thörin! erinnere dich an Conti, der jetzt mit seiner jungen Frau reist!«
Aber nein! Eine Stimme in ihrem Innersten sagte ihr, daß zwischen Conti und dem Doktor eine weite Kluft liege. Jener war lebenslustig, galant und ein Schwätzer. Dieser ernst, schweigsam, und wenn auch nicht unhöflich, doch ebensowenig fähig, ein verbindliches Wort zu sagen. Es waren zwei gänzlich entgegengesetzte Charaktere, die man nicht vergleichen konnte.
Malwina langweilte sich von nun an nicht mehr. Die Tage kamen ihr nicht mehr endlos vor wie sonst. Sie blieb ruhig und befriedigt in ihrem Zimmer, ihren Arm pflegend, der langsam, aber sicher der Heilung entgegenging.
Als Tante Amalia sich überzeugte, daß es mit ihrer Nichte so viel besser stehe, entschloß sie sich, in die Favorita zurückzukehren. Alle dortselbst wünschten sie sehnsüchtig zurück; die Briefe der sechs Sterne folgten sich ohne Unterbrechung; die Favorita, so behaupteten sie, wäre monoton, einsam, verlassen ohne ihre Gebieterin. Sie mußte heimkehren.
»Es thut mir so unendlich leid, liebe Tante,« beteuerte Malwina, »daß du nur hierher gekommen bist, um meine Krankenwärterin zu machen. Du hast dich an gar nichts erfreuen können!«
»Und glaubst du, liebes Kind,« versetzte die Tante, »daß es keine Freude sei, denen, die man liebt, einen Dienst erweisen zu können?«
So reiste sie denn ab, eine große, innige Zuneigung von seiten Malwinas mit sich nehmend.
Obschon sich letztere so viel besser fühlte, nahm sie doch noch keine Besuche an, und verließ ihre Gemächer nicht, weil der Doktor ihr verboten hatte, den kranken Arm zu ermüden. Der Winter war in all seiner Strenge aufgetreten und der Arzt sagte, daß die Kälte für die Wunde gefährlich sei; die geringste Verkühlung konnte die Genesung um viele Wochen verzögern, während der Arm, in normaler Wärme gehalten, in einem Monat geheilt sein würde.
Eines Tages brachte der Doktor die Nachricht, daß Bizzi wieder gesund sei und er demnach die Patientin von nun an dessen Pflege überlassen würde. Malwina, anscheinend gleichgültig, fühlte bei dieser Kunde ihr Herz sich zusammenziehen.
Als er sich verabschiedete, grüßte der Doktor Salvadeo artig, aber gemessen, indem er die Hoffnung ausdrückte, daß sie innerhalb drei Wochen vollkommen geheilt sein werde. Das junge Mädchen dankte mit einem Kopfnicken, fand jedoch kein Wort der Erwiderung. Dieser Mann hatte den Mut, sie mit derselben Gleichgültigkeit zu verlassen, mit welcher er sie das erste Mal besucht hatte, sie, vor der sich stets noch alle anderen gebeugt hatten?
Er hatte ihr nie ein einziges liebenswürdiges Wort gegönnt, niemals die Rede an sie gerichtet. Er sprach mit der Tante, solange dieselbe im Hause weilte, und nach deren Abreise mit Laura; zu ihr sagte er nichts! Weshalb?
»Wenn er zurückkäme,« dachte sie, »würde ich mein Verhalten ändern; ich würde ihn fühlen lassen, wer ich bin; ihn zwingen, sich vor mir zu demütigen, ihn, der sich so kalt und gleichgültig zeigt!«
Ihre Empfindlichkeit als verzogene Weltdame, ihr Stolz als schönes, reiches Mädchen, waren aufs tiefste verwundet. Wäre er wieder gekommen, hätte sie ganz anders gehandelt.
Den folgenden Tag sah sie beständig auf den Zeiger der Uhr. Sie erwartete den Schlag der dritten Stunde in Furcht und Hoffnung. Als endlich die Glocke ertönte, die den Arzt ankündigte, fühlte sie ihr Herz heftig klopfen, und mit wahrer Freude sah sie den Doktor Salvadeo wieder eintreten.
»Sie müssen Geduld haben, mein Fräulein,« sagte er mit etwas ironischem Tone, »und meine Gegenwart noch weiter ertragen, da der Doktor Bizzi nicht für mich eintreten will; er entschuldigt sich mit dem Ausspruche, daß ich die begonnene Kur auch zu vollenden habe.«
Malwina blieb äußerlich unbewegt; aber in ihrem Herzen segnete sie den Doktor Bizzi, nicht weil ihr der junge Arzt gefiel; o nein; sondern nur weil sie ergründen wollte, welcher Art der Mann sein müsse, der mit einer jungen Dame, welche die Erbin des Herrn Arnaldi war, so oft in Berührung kommen konnte, ohne die geringste Bewegung zu verraten, ohne sie zu bewundern, ohne je einen Blick von ihr zu erflehen.
An demselben Tage begab sich Doktor Bizzi zu Herrn Arnaldi, um sich zu entschuldigen, daß er die fernere Pflege der Kranken zu übernehmen sich geweigert habe; es wäre dies aus Rücksicht für den Doktor Salvadeo geschehen. Nachdem bei seinem Schützling die Heilung des Armes in so guten Händen lag, sollte er sie auch vollenden und zwar aus verschiedenen Gründen: erstens fand sich der junge Mann, der sich hauptsächlich der Chirurgie zugewendet hatte, in diesem Falle mehr in seinem richtigen Elemente, als er selbst, der alt wurde und dessen Hand anfing, sich nicht mehr fügen zu wollen, wie auch sein Augenlicht an Schärfe verloren hatte. Dann sollte der brave junge Mann auch in der Stadt bekannt werden und Gelegenheit haben, sich auf diese Weise eine gute Praxis zu gründen. Er war erst seit kurzem in Vercelli und mußte auch noch überdies seine Mutter unterstützen, die ihre Geburtsstätte nicht verlassen wollte. Somit war der junge Arzt, der so zärtlich an ihr hing, gezwungen, jeden Abend nach Saluggia zu fahren und des Morgens wieder zurückzukehren, was, abgesehen von den Kosten, auch nicht wenig ermüdend war.
Der Doktor Salvadeo fuhr demnach mit seinen Besuchen fort, in derselben Weise wie bisher, ohne ein Wort an die Patientin zu richten.
Es unterlag keinem Zweifel: dieser Mann war entweder von Eis oder von einem alles absorbierenden Gedanken eingenommen. Malwina fühlte einen wahren Zorn; sie hätte ihn schütteln mögen und fragen: »Sag' mir doch, was hast du? Sprich, erkläre dich!«
Ihrem Stolze schien es nicht möglich, daß ein Mann auf die Dauer widerstehen könne, sich ihrem Liebreiz zu neigen. Sie hatte schon so viele Huldigungen entgegengenommen, so viele Schmeicheleien gehört, bis zum Überdruß … Sie hätte alle jene mit Füßen treten mögen, die ihr dieselben dargebracht; sie waren ihr so verächtlich erschienen … Und jetzt verlangte sie von diesem hier nur ein einziges Wort … und er sprach es nicht aus.
Andererseits erfüllte er seine Pflicht als Arzt mit der gewissenhaftesten Pünktlichkeit und Fürsorge; er zeigte das größte Interesse für sie als Patientin, und in manchen Momenten glaubte sie wirklich, daß unter dieser ernsten Außenseite ein zärtliches, liebebedürftiges Herz schlüge … Namentlich, wenn sie ihn über ihren kranken Arm gebeugt sah, mit den schönen, ausdrucksvollen Augen die Wunde betrachtend, schien es ihr, als ob ihn plötzlich eine ungewöhnliche Zärtlichkeit überkäme … Da glaubte sie wirklich, daß er sich zu irgend einem Wort verleiten lassen könnte, das ihn verraten würde, und sie erwartete mit Ungeduld das Ende der Untersuchung, die ihr länger als notwendig hinausgedehnt erschien … Aber nein; kaum hatte er den Kopf erhoben, war er wieder ganz wie früher, der ernste Arzt, dem die Zeit kostbar ist; und er entfernte sich hastig, gleichsam als ob er entfliehen wollte.
Malwina verbrachte noch immer den ganzen Tag in ihren Gemächern mit dem Arm in der Schlinge und in ihren gewohnten Spitzenshawl gehüllt; sie war meistens allein. Um die Langweile zu verscheuchen, las sie viel oder schaute durch das Fenster dem Getriebe auf der Straße zu. Der schönste Augenblick für sie war derjenige, in welchem sie mit dem Glockenschlag drei den Doktor in nachdenklicher Haltung, mit gesenktem Haupte, auf den Palast zukommen sah.
Eines Tages schlug es drei Uhr und kein Doktor wurde sichtbar. Es regte sich in dem jungen Mädchen ein ungeahntes Schmerzgefühl. »Sollte ihm etwas zugestoßen sein? Oder konnte seine Mutter, die er so sehr liebt, krank geworden sein?« Und dabei blickte Malwina auf die Uhr und jede weitere Minute, die verstrich, minderte die Hoffnung auf sein Erscheinen. »Ist vielleicht mein Arm bereits so gut, daß er nicht mehr zu kommen braucht?« fragte sie sich. Und sie hätte lieber nochmals die Schmerzen ausstehen wollen, wieder fallen mögen, um den schönen dunklen Kopf über ihren Arm gebeugt zu sehen. Mit einer gewissen Unruhe musterte sie die Vorübergehenden auf der Straße, ohne ihn darunter zu entdecken.
Da endlich erschien er; sie schaute auf die Uhr; es schlug eben die vierte Stunde. Was für angstvolle Minuten hatte sie durchlebt! Sie eilte an den Spiegel, um zu sehen, ob man ihr die Aufregung anmerke.
Glücklicherweise verriet ihr Äußeres in nichts ihre innere Bewegung. Sie war blaß wie gewöhnlich; nur ihre Augen glänzten fieberisch. Als sie seinen Schritt sich nähern hörte, eilte sie mit Laura ihm bis zur Thürschwelle entgegen, was sie bisher noch niemals gethan hatte.
An dem betreffenden Tage fand der Doktor etwas auf der Wunde, das durch das Waschen sich nicht entfernen ließ. Er griff hierauf in seine Tasche nach dem bekannten Kästchen; um dazu zu gelangen, mußte er derselben erst ein eingewickeltes Päckchen entnehmen, welches er auf das Tischchen legte. Dann entfernte er mit einem kleinen Instrumente den fremden Körper, und nachdem er alles wieder in Ordnung gebracht hatte, grüßte er und verließ das Zimmer.
Malwina stellte sich ans Fenster, um ihn fortgehen zu sehen; dann setzte sie sich in ihren Lehnsessel, um über ihre Einsamkeit und die Traurigkeit nachzusinnen, die sie jedesmal empfand, sobald der Doktor sie verlassen hatte, der, obgleich er sie noch immer mit gleicher Kälte behandelte, doch ihr ganzes Herz ausfüllte. Seine Gegenwart schien den ganzen Raum zu beleben, und nach seinem Weggehen fühlte sie selbst den Schmerz im Arme sich erneuern.
Malwina hatte noch niemals so viel Leid und zugleich so viel Freude bei der Gegenwart eines Mannes gefühlt. Sie ärgerte sich über ihre Erregung; dennoch beruhigte sie sich in dem Gedanken, daß vielleicht dieses Gefühl von der Dankbarkeit herrühre, die alle Kranken für ihren Arzt empfinden, der längeren oder kürzeren, der schwereren oder leichteren Krankheit entsprechend. Eine Dankbarkeit, die sie selbst in hohem Grade empfinden mußte, da sie, wie es hieß, in Gefahr geschwebt hatte, ihren Arm zu verlieren, wenn der Arzt nicht gleich zu energischen Mitteln gegriffen hätte.
Bei diesem Gedanken überlief Malwina ein Zittern. Sie sah im Geiste diesen jungen Mann jeden Tag mit der gleichen Aufmerksamkeit zu ihr eilen, ohne in seinem Eifer nachzulassen, und fand die Dankbarkeit, die sie erfüllte, und die jedermann an ihrer Stelle ebenso empfunden hätte, nur ganz natürlich.
So saß sie beim Fenster, vor sich das Tischchen, worauf alle nötigen Medikamente in schönster Ordnung standen. Wie von ungefähr blickte sie darauf und es dünkte ihr, als ob die gewohnte Gleichförmigkeit durch etwas gestört sei. Sie schaute genauer hin und bemerkte ein rotes Päckchen.
»Es gehört dem Doktor,« rief Malwina aus, indem sie sich erhob. »Er hat es vergessen.«
Ihr erster Gedanke war, zu läuten, damit der Diener es dem Eigentümer zurückstelle; aber sogleich durchfuhr eine andere Idee ihr Gehirn.
Sie eilte zur Eingangsthüre, schloß sie zu und näherte sich dem Tischchen, von dem sie das Päckchen nahm und dasselbe in den Händen hin und her schob, mit den Blicken maß und es anfühlte, bis sie endlich, der Versuchung nachgebend, mit bebender Hand das Band, das es umschloß, zu lösen suchte. Ihr Herz klopfte heftig, ihr Gesicht entfärbte sich; nie wäre es ihr eingefallen, auf solche Weise sich in die Angelegenheit anderer einzudrängen; noch nie hatte sie sich von der Neugierde zu einer unbefugten That hinreißen lassen. Eine Blutwelle schoß ihr plötzlich ins Angesicht, der Arm schmerzte sie infolge der krampfhaften Bewegung der Hand; sie achtete nicht darauf. Sie nahm das Band herunter und löste behutsam das Papier, damit es nicht zerknittere und niemand die Unbescheidenheit, deren sie sich schuldig machte, bemerken konnte. Unter dem Papier erschien ein blauer Karton, Photographien enthaltend. Malwina stockte der Atem; einen Augenblick lang legte sie das Ganze beiseite, um sich die Freude auszumalen, die sie fühlen würde, wenn es vielleicht seine eigenen Photographien wären. Sie öffnete die Kartonhülle … Ein Dutzend Photographien zeigten sich ihren Blicken … Es war in der That das Bild des Doktors mit seinen schönen tiefen Augen, mit jenem Blick, den sie noch an keinem Menschen gesehen hatte … Der Doktor sah sie an …
Sie betrachtete die hohe, intelligente Stirn, den Mund, einen tadellosen Mund, auf dem sie nur einmal ein Lächeln gesehen hatte, damals als ihr Arm zu heilen angefangen hatte … Welch ein Lächeln! …
Da fiel ihr plötzlich ein, daß Laura jeden Moment kommen könne, um nach ihr zu sehen; so nahm sie schnell eine Photographie, legte sie hastig in ihr Schmuckkästchen, verschloß dasselbe in eine Schublade des Schreibtisches und steckte den Schlüssel in die Tasche. Hierauf wickelte sie das Päckchen wieder zusammen, so gut sie es vermochte, schloß die Eingangsthür auf und blieb einen Moment still stehen, während sie die Hand auf die Brust legte, um das Herzklopfen zu beruhigen, das sie zu ersticken drohte; dann setzte sie sich und zog die Glocke. Dem eintretenden Diener befahl sie, das Päckchen sogleich zum Doktor Salvadeo zu bringen; er habe es mitzunehmen vergessen.
Den folgenden Tag schien der Doktor weniger traurig zu sein und dankte Malwina sehr herzlich für die Zustellung des Päckchens. Er bemerkte zugleich, daß er sich gezwungen gesehen hatte, für seine Bahnfahrten nach Saluggia sein Konterfei machen zu lassen, weil auf dem betreffenden Abonnementsbüchlein das Bild angebracht werden müsse.
Die Wunde am Arm wurde von Tag zu Tag besser. Malwina konnte sich beinahe als geheilt betrachten und der Doktor kam nicht mehr täglich, um nachzusehen. Der erste Tag, an dem er ausblieb, schien ihr eine Ewigkeit; sie wurde von einer tiefen Niedergeschlagenheit und Traurigkeit befallen, wie sie derartiges nicht einmal bei der Nachricht von Contis Heirat empfunden hatte.
Sie dachte in ihrem Sinne: »Der Mensch ist ein Sklave seiner Gewohnheiten; ich habe mich nun daran gewöhnt, ihn alle Tage zu sehen, und da ich gegenwärtig nicht mit anderen Bekannten verkehre, ist mir sein täglicher Besuch ein Bedürfnis geworden; mein Herz hat jedoch nichts damit zu thun.«
Sie redete sich ein, daß dem wirklich so sei; aber eine Stimme in ihrem tiefsten Innern sagte ihr, daß dieser der Mann sei, dem ihr Herz gehöre, dieser und kein anderer.
Und er war so gefühllos! … Dann gedachte sie seiner unermüdlichen Pflege, der Sorge, die seine Augen verrieten, als es schien, daß sich das Übel verschlimmern könne … und sie hoffte … Als sie jedoch überlegte, daß nur der Ehrgeiz des Arztes ihn angetrieben habe, sich für ihr Übel zu interessieren, fing sie von neuem an, sich zu betrüben.
War es wirklich ihr verletzter Stolz, der sie peinigte, oder ein tieferes Gefühl, das sie sich selbst nicht eingestehen wollte? Sie hatte gewähnt, Conti zu lieben; aber jetzt war das Gefühl, das sie für ihn zu hegen geglaubt hatte, vollständig verschwunden, um dem anderen, gänzlich verschiedenen, das sie für Salvadeo empfand, den Platz zu räumen.
In ersterem hatte sie die blendenden Gaben des Geistes und der äußeren Erscheinung bewundert, und an seiner Gesellschaft, seinen Worten und Huldigungen Gefallen gefunden. Vom Doktor wußte sie nicht einmal, was sie eigentlich so sympathisch an ihm berühre: nicht das Gesicht, da sie sich eingestand, daß, wäre er auch ein Bild der Häßlichkeit, sie ihn dennoch lieben könnte; nicht sein Benehmen und seine Haltung ihr gegenüber, da er kaum zu ihr sprach und wenn er es that, nur mit äußerster Kälte. Was war es dann nur, das sie zu diesem Mann hinzog? War es tiefe Dankbarkeit, Bewunderung für den jungen Mann, der ein großes Herz besitzen mußte, nachdem er sich auf eine Weise für seine Mutter opferte, daß er keine Mühe scheute, um nur allabendlich bei ihr sein zu können? Es mußte in der That ein edles, großes Herz in ihm wohnen! … Und Malwina sah sich gezwungen, zu bekennen, daß sie ihn liebe! … – Der Doktor kam jetzt nur mehr selten, und dann stets in größter Hast und mit einer zunehmenden Gleichgültigkeit. Es war also nur der Arzt, der die Kranke besucht hatte, nur der Arzt! … Mußte es stets so sein, daß die Personen, denen sie ihre Gedanken weihte, ihr entflohen, und daß sie mit einem Vulkan im Herzen zurückblieb, um allein und unverstanden zu leiden? … O, sie war tief unglücklich! …
Wenn sie nicht so stolz gewesen wäre, hätte sie ihn vielleicht fragen können: »Warum liebst du mich nicht? Warum tötest du mich mit deiner Gleichgültigkeit? Warum?«
Sie nahm die Photographie aus ihrem Versteck hervor und blieb stundenlang in Betrachtung dieser wunderbar ausdrucksvollen Augen versunken. O, wenn sie dieselben in Wirklichkeit so auf sich gerichtet sehen könnte, wie glücklich würde sie sein! …
Und er, des Sturmes nicht ahnend, den er in dem Herzen des Mädchens entfacht hatte, stellte nun seine Besuche ganz ein. In letzterer Zeit hatte er mehrmals die Wunde mit Höllenstein betupft, und eines Tages erklärte er die Heilung für vollendet; er nahm Heftpflaster, schnitt es in Streifen und legte es auf die Wunde mit dem Bemerken, daß diese nun von selbst vernarben werde. Seine Aufgabe war vollbracht.
Diese Mitteilung war ein Stoß für Malwinas Herz. O, wie heiß hätte sie gewünscht, wieder von vorne beginnen zu können und alles nochmals zu erleiden, nur um ihn wieder täglich kommen zu sehen! Sie erinnerte sich der unsagbaren Schmerzen, die sie ausgestanden hatte, als der Doktor den schon in der Genesung begriffenen Arm genommen und sie genötigt hatte, ihn auszustrecken und nach allen möglichen Richtungen hin zu bewegen. Sie hatte in diesen Momenten unbeschreiblich gelitten, und doch hätte sie mit Freuden diese Qualen nochmals ertragen, nur um ihn an ihrer Seite zu wissen.
Er war gegangen, um nicht mehr zurückzukehren. Als sich das junge Mädchen allein befand, wurde es von einem Schmerz erfaßt, der an Verzweiflung grenzte. Es war Malwina, als sei sie von allen verlassen; selbst ihr Vater erschien ihr fast wie ein Fremder. Ihre Gedanken kehrten unwillkürlich zu dem Frieden und der Stille des Klosters zurück; sie erinnerte sich der herrlichen Frau, die sie erzogen hatte, und an deren wahre, aufrichtige Zuneigung zu ihr, und sie beweinte die schöne Zeit ihrer Kindheit, in welcher, frei von Kummer und Gewissensbissen, das Leben so ruhig und froh dahingeflossen war.
Sie dachte daran, wie schmerzlich Donna Ildefonsa berührt gewesen wäre, wenn sie von ihrer Krankheit gewußt hätte. Sie wollte ihr schreiben, sobald sie sich gänzlich hergestellt fühlte; denn jetzt, was auch der Arzt davon halten mochte, schmerzte sie der Arm noch, und sie war noch nicht imstande, eine Beschäftigung irgend welcher Art zu unternehmen.
Eines Tages betrachtete sie in schwermütiger Stimmung die Photographie, in deren Besitz sie so unerwartet gekommen war, als sie in den Salon gerufen wurde.
»Wer ist es?« fragte sie.
Der Diener kannte die Herrschaften nicht, die weder ihren Namen genannt noch Karten abgegeben hatten. Malwina glaubte zu träumen, als sie bei ihrem Eintreten sich in den Armen einer jungen Frau sah, die sie mit Küssen bedeckte. Sie fand kein Wort der Erwiderung auf solche Zärtlichkeitsbeweise, deren Äußerung sie tief bewegte.
»O Lina! Lina! du bist es? Wirklich du?«
»Ja, Malwina, ja, ich selbst! Soeben mit der Bahn angekommen, wollte ich nicht einmal erst nach Hause fahren, um dich desto früher sehen zu können. Mein Gemahl wünschte, vorher die Reisetoilette zu wechseln, aber ich sagte ihm: ›Nein, nein; zu Malwina darf ich schon kommen, wie ich bin.‹ Nicht wahr, ich habe recht gethan?« Und sie küßte sie wiederholt.
»Aber natürlich, Liebste; das war richtig gedacht. Wie freue ich mich! Aber wie verändert du bist! Ich erkenne dich kaum mehr! Du kommst mir größer vor. Wie gut du aussiehst!«
»Ja, jetzt! Aber ich habe so viel gelitten, weißt du! So allein, so ganz allein! …«
»Das glaube ich! Aber nun darfst du nicht mehr daran denken.«
»Nein, gewiß nicht, jetzt, da ich meinen Gatten habe. O, ich Vergeßliche! Ich habe dir meinen Mann noch gar nicht vorgestellt; entschuldige auch du mich, Alberto!«
»O, wir sind ja alte Bekannte!« riefen beide zugleich aus, indem sie sich mit der größten Herzlichkeit und Unbefangenheit grüßten.
»Malwina,« sagte die junge Frau, »mir deucht, du seiest krank gewesen. Was ist dir denn?«
»Ich war krank; aber jetzt bin ich, Gott sei Dank, geheilt. Ich hatte eine Verletzung am Arme.«
»O du Bedauernswerte! Warum hast du mich nicht davon benachrichtigen lassen? Und dabei fällt mir ein, daß ich dir eine tüchtige Strafpredigt schulde! Mich so lange ohne Mitteilungen zu lassen, du Böse! Und mich nicht aufzusuchen, die du dein eigener Herr bist!«
»Du hast recht; es scheint mir jetzt selbst kaum glaublich, daß ich so lange säumen konnte, dir zu schreiben. Aber nun bist du hier, und wir wollen soviel als möglich beisammen sein und von vergangenen Zeiten sprechen, vom Kloster, von den guten Nonnen, von Donna Ildefonsa … Wie lange bleibst du hier?«
»Eine Woche,« antwortete Conti für seine Frau.
»Nur so kurze Zeit? Und ich hatte mich gefreut, dich, liebe Freundin, recht lange hier sehen zu können! Es ist unrecht von Ihnen, Herr Conti, daß Sie Lina mir so bald wieder entführen wollen!«
»Malwina, was soll ich dir über das prachtvolle Geschenk sagen, womit du mich zur Hochzeit überraschtest? Ich weiß wirklich keine Worte zu finden, um dir dafür gebührend zu danken.«
»O, schweige; rede nicht davon; es ist armselig im Vergleich zu der Liebe, die ich für dich hege.«
»Ich danke dir! Wie gut du bist! Und wie geht es deinem Vater?«
»Er ist nicht zu Hause; seine Geschäfte nehmen ihn vollständig in Anspruch.«
»Wir wollen wiederkommen, um ihn zu begrüßen.«
»Ja,« fügte Conti bei; »es ist nun auch Zeit, aufzubrechen; es wird spät.«
»Schon! Wie sehr bedauere ich das! Wir haben uns ja gar nichts mitteilen können! O Lina, wie glücklich bin ich, dich wiederzusehen! Ich fühle in der That das Bedürfnis, mich so recht mit dir ausplaudern zu können!«
»Wir werden uns morgen wiedersehen; jetzt müssen wir uns verabschieden, denn zu Hause erwartet man uns.«
»Haben Sie einen Wagen, Herr Conti?«
»Nein.«
»Dann, bitte, nehmen Sie den meinigen.«
Sie klingelte und befahl, daß der Kutscher sich bereit halte.
»Besten Dank, mein Fräulein,« sagte Conti; »nun werden Sie uns auch das Vergnügen machen, mit uns zu kommen und den Abend mit meiner Frau zu verleben.«
»Sie sind sehr gütig; aber mein Vater weiß nichts davon.«
»Herr Arnaldi wird nichts dagegen haben; darüber glaube ich Sie beruhigen zu können; im anderen Falle nehme ich die Schuld ganz allein auf mich.«
Lina vereinte ihre Bitten mit denen ihres Mannes.
»Bitte, komm' doch mit!« bat sie; »dann können wir uns noch länger genießen! Welch ein reizender Abend wird es werden!«
Und indem sie ihre Freundin sanft der Thür zu drängte, damit sie sich umkleide, kehrte sie sich nach Conti um mit den Worten: »Du erwartest uns hier, nicht wahr?«
»Ja, aber bedenke, daß die Zeit dem Wartenden ewig dünkt!«
»Wir wollen uns nach Kräften beeilen.«
Und Lina nahm den Arm ihrer Freundin und begleitete sie in ihr Zimmer, um ihr behilflich zu sein.
Als Malwina, nach ihrer Rückkehr in ihrem Gemache sitzend, die Ereignisse der letzten Stunden an ihrem Geiste vorüberziehen ließ, glaubte sie, von einem Traume zu erwachen. Das unerwartete Wiedersehen mit Lina, die Begegnung mit Conti, – der Augenblick, den sie stets so sehr gefürchtet hatte, gehörte nun bereits der Vergangenheit an! … Und wie verschieden hatte sich alles gefügt von dem, wie sie sich's vorgestellt hatte! Es war also niemals Liebe gewesen, was sie für Conti gefühlt, und niemals Haß, den sie gegen Lina zu empfinden glaubte? Nur in ihrer überreizten Phantasie waren ihr die Dinge in einem anderen Lichte erschienen. Welch qualvolle Nächte, welch kummervolle Tage hatte sie durchlebt! Und trotz alledem war ihr Herz nicht verwundet. Conti liebte seine Frau zärtlich, und sie, Malwina, fühlte bei seiner sorglichen Aufmerksamkeit für dieselbe nicht die mindeste Eifersucht; im Gegenteil, sie freute sich darüber.
Und die Schwätzereien der Leute? … Wie die anderen Befürchtungen waren auch sie ihrem Gedächtnisse völlig entschwunden.
Sie dachte daran, wie sie miteinander die Stadt durchfahren hatten: sie, Malwina, neben Lina sitzend, Conti ihnen gegenüber; alle drei fröhlich, lächelnd und glücklich. Die Leute waren stehen geblieben, um ihnen nachzublicken. Es war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, daß dieselben möglicherweise an ihre Enttäuschung denken konnten. Ihr Gesicht, wenngleich etwas schmäler geworden durch ihr Kranksein, war von einem zarten Rot belebt, hervorgerufen durch die Freude, durch die Bewegung und das eifrige Plaudern; denn die zwei Freundinnen hatten sich nach der langen Trennung viel mitzuteilen, und Malwina schien vergnügt, schöner und heiterer.
Während sie an die Neuvermählten dachte, wie sie bei Tische saßen im Speisesaale des Hauses Conti, so glücklich in der Sicherheit ihrer Liebe, stellte sich ihr ein anderes Bild vor die Seele, auch ein Speisesaal und drei Personen um den Tisch vereint: eine schöne, würdige Matrone in ergrautem Haar, die sie nicht kannte, aber sich im Geiste vorzustellen suchte und die sie bereits ins Herz geschlossen hatte; sie selbst und … Doktor Salvadeo … dieser Mann, so gut, so schön, so liebenswert in seinem Ernst und selbst in seiner kühlen Zurückhaltung.