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Eines Morgens hatte sich die reiche Erbin noch später als gewöhnlich vom Lager erhoben; sie ging hinunter zum Gabelfrühstück, und fand auf dem Tische einen an sie adressierten Brief. Er war von Lina Boschis und Malwina ahnte bereits dessen Inhalt; die Freundin erzählte ihr von ihrem Glück.
Was lag ihr an dem, was sie ihr mitteilen würde, nachdem ihre eigene Zukunft so öde und dunkel vor ihr lag? Vor ihr, welcher seit dem Austritt aus dem Kloster dieselbe so rosig lächelnd sich gezeigt hatte? Was blieb ihr noch zu erwarten? Wer kümmerte sich um sie? Niemand! Selbst ihr Vater gehörte wieder ganz seinen Freunden an. Er ließ es ihr freilich an nichts fehlen; aber er sorgte sich nicht im geringsten, ob sie auch glücklich sei. Die Tante und Cousinen waren zufriedengestellt, wenn sie sich nur unterhalten und von Malwinas Equipage Gebrauch machen konnten. Die jungen Mädchen, die sich als ihre Freundinnen ausgaben, tadelten sie, sobald sie den Rücken gewendet hatten, in ihrem Neid über Malwinas Toiletten und deren Reichtum. Die jungen Herren umschwärmten sie nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihres Geldes.
»Besser arm sein!« rief sie zornig aus. »Hier, diese hier,« – und sie nahm den Brief ihrer Freundin in die Hand, – »war arm und sah einer traurigen Zukunft entgegen, die durch den Tod ihrer Mutter sich düster genug gestalten mußte. Und jetzt, ich bin davon überzeugt, schreibt sie mir, daß ihr nichts mehr zu wünschen übrig bliebe. Ich will sehen, ob ich recht habe?«
Sie öffnete und las:
»Meine teure Malwina!
Endlich hat mir mein künftiger Gatte die Erlaubnis erteilt, Dir seinen Namen zu nennen! Nunmehr hat er seine Geschäfte und all seine Papiere geordnet, und wartet nur den Schluß der ersten Trauermonate ab, um mich zum Altar zu führen. Obgleich er mir einzureden sucht, daß ich als Waise die Hochzeit beschleunigen könnte, ohne daß irgend jemand etwas dagegen zu sagen vermöchte, will ich es dennoch nicht thun, weil es mir vorkäme, als ob ich mit meiner Freude das Andenken meiner Mutter beleidigen würde. Der Verlust der teuren Verstorbenen ist noch zu lebhaft in meinem Herzen, als daß ich mich jetzt schon ganz dem Glücke hingeben möchte! Und dann mußt Du wissen, daß sich die Cousine Gertrud vollkommen an mich gewöhnt hat und daß es sie schmerzen würde, wenn ich sie schon so bald verließe, jetzt, wo sie sich in meiner Gesellschaft so wohl fühlt. Armes Wesen! Es ist wahr, sie ist oft sehr sonderbar, aber im Grunde hat sie ein edles, großes Herz. Sie brummt und brummt; aber gerade wenn sie am meisten brummt, ist sie am tiefsten bewegt und will es nur nicht merken lassen. Schließlich verdanke ich es ihr, daß ich mir die Liebe meines Albertos errungen habe. Und nun will ich Dir endlich sagen (wie zerstreut! ich wollte es Dir gleich am Anfang mitteilen und habe damit, ohne es zu wollen, bis jetzt gesäumt), daß mein Verlobter Alberto Conti heißt …«
Bei diesem Namen ließ Malwina den Brief aus ihrer Hand gleiten. Ein konvulsivisches Zittern ergriff ihren ganzen Körper und ein kalter Schauer durchrieselte sie; sie wußte nicht mehr, wo sie war. Laura trat eben ins Zimmer ein und sah sie in diesem Zustande.
»Signorina!« rief sie aus, »wie blaß sind Sie? Ist Ihnen nicht wohl?«
»Nein, nein, ich habe nichts. Sorge dich nicht!«
Laura sah den Brief am Boden liegen, hob ihn auf und fragte: »Haben Sie vielleicht eine schlechte Nachricht erhalten?«
»Nein, nein, Laura! Laß mich und schweige, ich bitte dich!«
Sie nahm den Brief und stieß die Worte hervor: »Eine Freundin, die ihre Mutter verloren hat.«
»Aber Sie sind leidend, Fräulein. Wenn Sie sich sehen könnten! Sie sind blaß wie eine Leiche. Gehen Sie zu Bett; ich werde Ihnen etwas Beruhigendes bereiten. Kommen Sie und ruhen Sie sich aus!« Sie nahm Malwina bei der Hand, führte sie in deren Schlafzimmer und legte sie zu Bett.
»Wollen Sie, daß man den Doktor ruft?«
»Den Doktor? Ums Himmels willen, Laura, ich will es durchaus nicht; nein, nein, ich will nichts und niemand! Und sage ja keinem Menschen etwas davon, auch meinem Vater nicht, wenn er heimkommt, hörst du? Und hüte dich, den Doktor kommen zu lassen!«
»Nein, ich werde es nicht thun. Aber ruhen Sie wenigstens. Wünschen Sie kein Beruhigungsmittel?«
»Nein, nein!«
»Und wenn jemand kommen sollte? Zum Beispiel Frau Varelli?«
»Sage allen … das heißt, nein, warte … Ja, ja, sage, daß ich keine Besuche empfange, weil ich mich nicht ganz wohl fühle. Erwähne jedoch nicht, daß ich diesen Morgen aufgestanden bin; so können sie denken, daß ich bereits die Nacht hindurch leidend war.«
»Wünschen Sie, daß ich Ihnen Gesellschaft leiste?«
»Nein, geh' nur und schließe alles zu, damit niemand kommt; ich binde es dir auf die Seele.«
»Seien Sie ohne Sorge, Fräulein.«
Und während Laura, die nicht daran glaubte, daß Malwinas Zustand durch die Nachricht ihrer Freundin über den Tod deren Mutter hervorgerufen worden sei, hin und her dachte, was wohl ihrer jungen Herrin zugestoßen sein konnte und was der Brief wohl enthalten haben mochte, wälzte sich Malwina ruhelos auf dem Lager umher, in der verzweiflungsvollsten Stimmung. Sie wollte weder ihren eigenen Augen noch jenem Briefe Glauben schenken.
»Conti! Conti verlobt! Er? … Unmöglich! Entweder hatte sie sich getäuscht beim Lesen des Briefes, oder Lina sich im Schreiben geirrt, oder es war ein anderer Herr desselben Namens; aber er selbst, er konnte, er durfte es nicht sein!«
Zitternd entfaltete sie von neuem den Brief. Es war kein Zweifel; es stand klar und deutlich der Name Alberto Conti darin.
Malwina war ihrer Sinne kaum mehr mächtig; sie konnte die Sache nicht begreifen …
»Lina, Contis Braut? Aber wie hatten sie sich denn kennen gelernt? und wo? Warum hatte sie ihr nie darüber geschrieben? Und was war denn eigentlich so Anziehendes an Lina? … Nichts … Dieses Mädchen war nie schön gewesen; sie war auch nicht reich. Warum zog er sie ihr vor?«
»Mir vorziehen! Und was werden die Leute sagen, wenn sie von dieser Heirat hören? Mein Gott! Mein Gott! Welche Schwätzereien wird man machen! Ein armes Mädchen einer reichen Erbin vorziehen! … Aber aus welchem Grunde? Wenn ich nur das wüßte!«
Und Malwina rang die Hände.
Wenn wenigstens die Leute nichts bemerkt haben würden von dem, was in ihrem Herzen vorgegangen war; aber alle hatten an eine mögliche Verbindung zwischen den beiden gedacht und ebenso beobachtet, daß Contis Artigkeiten ihr durchaus nicht gleichgültig gewesen waren. Wie oft war die Rede davon, daß niemand außer ihm auf ihre Hand Anspruch erheben könne! Und jetzt nahm eine Vermögenslose ihren Platz ein! Das war zu viel! … Wäre sie wenigstens um einer Mitgift willen verschmäht worden! Aber einem armen Mädchen hintangesetzt zu werden! … Dieser Gedanke war ihr unerträglich … Und dieses Mädchen war ihre Institutsfreundin, und sie mußte mit lächelnder Miene, voll Unbefangenheit vor sie hintreten! Wie sollte sie das zuwege bringen? Es war unmöglich.
Und wie sollte sie sich den anderen gegenüber benehmen? Wenn sie die erste wäre, die diese Nachricht erfuhr, hätte sie sich noch rechtzeitig von dem Schlage erholen können, um sich nichts anmerken zu lassen von der erlittenen Enttäuschung. Wenn es aber die anderen auch bereits wußten? …
Sie nahm den Brief, den sie mit ihren zitternden Händen zerknittert hatte, strich ihn glatt und zerriß ihn in tausend Stücke. Das genügte ihr jedoch noch nicht. Diese kleinen Papierfetzchen konnten die Neugierde der Dienerschaft erregen; sie setzte sich im Bett auf, zündete die Kerze an und verbrannte dieselben, eines nach dem anderen; dann nahm sie ein Blatt Papier, that die Asche hinein, faltete es sorgfältig zusammen und warf es weit von sich. Niemand würde somit ihr Geheimnis erfahren; es war in der Asche begraben.
Sie steckte sich von neuem unter die Decken; aber was für ein Übel hatte sie eigentlich, um den ganzen Tag liegen zu bleiben? Ihr Herz war krank, und das Bett war kein Heilmittel für ihren Schmerz. Sie stand auf, öffnete das Fenster und blieb daselbst unbeweglich sitzen. Sie mußte einen Entschluß fassen; das Wichtigste für sie war jetzt, die Leute nicht ahnen zu lassen, daß sie über die Heirat Contis betrübt sei. Sie mußte sich heiter zeigen, als ob nichts vorgefallen wäre; sie konnte sogar glauben machen, sie hätte ihn ausgeschlagen. Ihr stolzer Charakter vermochte die Welt zu täuschen; sie wollte noch Höheres erstreben, als Conti ihr anzubieten imstande war. Wer war er schließlich? Ein reicher Mann; aber Reichtum kann man verlieren. Er hatte kein Amt, keinen Titel; er war ein Mann, der in der Gesellschaft gefiel und nichts weiter. Malwina wollte einen berühmten Namen, eine hervorragende Verstandesgröße anstreben. Sie würde sich nicht mit einem mittelmäßigen Manne zufrieden geben …
Und dann, hatte sie Conti eigentlich geliebt? Er hatte ihr, wie allen anderen, durch sein liebenswürdiges Wesen gefallen; und sie hatte die Thorheit begangen, was sie sich nie verzeihen konnte, mehr an ihn zu denken, als es für sie gut und passend war, und nun bereute sie es, und sie hätte um alles die verhaßte Zeit, die seit ihrem Austritt vom Institut verflossen war, aus ihrem Leben streichen mögen … Ihn lieben? Nein, nein; sie hatte ihn nie geliebt! Im Gegenteil, jetzt schien es ihr, als ob sie nicht nur ihn nicht liebte, sondern als ob sie ihn beinahe haßte; wie auch die Thatsache sie mit Schrecken erfüllte, daß sich selbst gegen ihre einstige Freundin etwas wie Haß in ihrem Innern regte. Dieses Mädchen war ihr im Grunde nie so ganz sympathisch gewesen; mit ihren mütterlichen Ermahnungen und ihrem einschmeichelnden Wesen war es ihr gelungen, ihr den Titel Freundin zu entlocken, und jetzt hatte sie ihr den Bräutigam abwendig gemacht.
Mit dem Kopf in den Händen vergraben, bereute sie unzähligemal, daß sie Conti so viel Macht über ihr Herz eingeräumt hatte, daß sie darüber Gott, ihren Vater und ihr Heim vernachlässigte und ihre heiligsten Pflichten vergaß. O! wie recht hatte Donna Ildefonsa gehabt, ihr Vorwürfe zu machen!
Da hörte sie ein leises Geräusch an der Thüre; sie erhob sich und öffnete; es war Laura, die nach ihr sehen wollte und ganz erstaunt war, sie außer Bett zu finden.
»Wie geht es Ihnen, Fräulein?« fragte sie teilnehmend.
»Es geht mir gut, danke; es ist alles vorbei.«
»Um so besser.«
»Ist mein Vater zurückgekommen?«
»Nein. Ich glaube nicht, daß er heute kommt. Er ist diesen Morgen sehr früh fortgegangen und wird wohl auswärts sein.«
»Ist die Tante gekommen?«
»Ja, und noch andere Damen. Ich sagte ihnen, daß Sie nicht ganz wohl seien; sie lassen sich alle empfehlen und Ihnen sagen, daß sie morgen wieder kommen würden, zuversichtlich hoffend, Sie genügend erholt zu finden, um mit ihnen einen Ausflug zu unternehmen, den sie ausgemacht hätten.«
»Gut; ich werde mir's überlegen.«
»Wünschen Sie nichts zu sich zu nehmen?«
»Und zum Diner?«
»Nichts, gar nichts.«
»Folgen Sie meinem Rate und nehmen Sie etwas Nahrung zu sich. Sie schädigen auf diese Weise Ihre Gesundheit.«
»Später, wenn ich mehr Lust dazu fühle, und jetzt verlasse mich!«
Laura entfernte sich, und Malwina blieb mit ihren Gedanken allein.
»Wie langweilig wird das morgen sein!« dachte Malwina, »mich inmitten dieser Leute zu bewegen, die alle fragen werden, ob ich genesen bin, und wer weiß was noch! Das Prüfen von hundert forschenden Augen über mich ergehen lassen, allen Fragen, die auf mich hereinstürmen werden, standhalten zu müssen, ob sie nun dem Interesse oder nur der Neugierde entspringen! Sie fühlen in der That alle nur Gleichgültigkeit gegen mich! … Welche Strafe! Und wie werden die Fräulein von hier triumphieren, wenn sie erfahren, daß, wenn Conti nicht für sie existierte, er ebensowenig meiner ernst gedachte! Welche Niederlage!«
Und Malwina biß vor Zorn in ihr Taschentuch.
»Und dabei soll ich lächeln, heiter sein, unbefangener scheinen denn je, während ich die Hölle im Herzen trage. Welch ein Leben ist dies! … Und doch will ich mich mehr als sonst zerstreuen. Und wie ich dies bis jetzt seinetwegen gethan, thue ich es von nun an, um den Groll zu ersticken, der mich verzehrt!
Und Conti wird kommen; er wird kommen, um mir seine Gattin vorzustellen. Und ich muß die erste sein, sie zu empfangen. Aber bis dahin ist noch Zeit. Es sind erst drei Monate, daß Linas Mutter gestorben ist … Indessen, wer weiß, ob die Dinge sich nicht noch ändern? … Es könnte ja möglich sein … Aber … und wenn er sie wirklich heiratet? O! dann …«
Sie stand auf und näherte sich dem Spiegel. Ihr Gesicht war blaß und die dunklen Augen unter den müden Lidern machten es noch bleicher mit den Blitzen des Unwillens und des Zornes, welche sie ausstrahlten. Sie betrachtete sich, und ein ironisches Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Schau' dich nur an,« dachte sie; »mit all deinen Reizen hast du nicht vermocht, dir sein Herz zu gewinnen! … Was dir nicht gelang, hat eine arme Waise ohne Mitgift zuwege gebracht! Sie sollen nur kommen, die beiden. Sie sollen mich nur um so stolzer und unnahbarer finden! Ich werde mich noch schöner machen, ihnen zum Trotz …«
Malwina hielt plötzlich inne; es wurde ihr vor sich selber bange. Wie? Welche Gefühle in meinem Herzen? O Gott! Und wenn Donna Ildefonsa mich jetzt sähe, würde sie in mir ihre alte Schülerin wieder erkennen?«
Sie blickte auf das Kruzifix über ihrem Bett, sie erinnerte sich all der Unterweisungen, die ihr in der Kindheit zu teil geworden waren, dachte an die guten freiwilligen Vorsätze, die sie so oft gefaßt hatte, und sie fühlte sich überwunden. Sie warf sich auf die Kniee und rief aus: »Verzeih' mir, mein Gott, verzeih' mir! …«
Und heiße Thränen strömten aus ihren Augen. – Diese Rückerinnerung an vergangene, bessere Zeiten war leider nur vorübergehend. Malwina erhob sich weniger niedergeschlagen und begab sich in den leeren Speisesaal. Die Stille in dem Raume flößte ihr in diesem Moment beinahe Furcht ein. Sie ging in den Salon und setzte sich an den Flügel, ihren Freund in den Stunden des Verlassenseins; sie konnte ihm aber nur Klagen und Seufzer entlocken; es waren abgerissene, stoßweise Töne, welche die Aufregung des jungen Mädchens bekundeten … Sie schloß das Instrument und näherte sich dem Fenster. Auf der Straße ging eben ein armer Blinder vorbei, von einem Kinde an der Hand geführt.
»Dieses Kind,« dachte sie, »so arm es ist, wird nicht von dem Fieber, das in mir wütet, verzehrt; es ist nicht im tiefsten Herzen getroffen, wie die reiche Erbin, deren Palast es anstaunt!«
Sie legte sich bald nieder, konnte aber erst spät die müden Augen schließen und ihr Schlaf war unruhig und oft unterbrochen. Einmal hörte sie im Traume das spöttische Lachen ihrer Freundinnen; ein andersmal sah sie Lina, wie sie sich im Brautgewande, am Arme Contis, ihr vorstellte, und sie fuhr aus dem Schlummer empor, als ob sie heftig geschüttelt würde. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Des Morgens erwachte sie mit entsetzlichen Kopfschmerzen, die natürliche Folge ihres vielen Phantasierens und der körperlichen Schwäche, da sie den verflossenen Tag gar keine Nahrung zu sich genommen hatte. Beinahe wäre sie darüber froh gewesen. Mit Widerwillen gedachte sie der angemeldeten Besuche und des geplanten Ausfluges, und ihr Ärger darüber wuchs noch, als sie sich sagte, daß sie sich so ganz anders zeigen mußte, als sie fühlte. Sie wäre lieber nicht aufgestanden, weshalb auch, wenn das Zusammentreffen mit fremden Leuten ihr eine Last war; wenn sie nicht die Kraft zu sprechen fühlte, und die Heiterkeit der anderen sie peinigte?
Am Nachmittag kam die Familie Varelli, um nach ihr zu fragen und anzuzeigen, daß sie für den nächsten Tag einen Ausflug nach einer schön gelegenen Kapelle in der Nähe der Stadt verabredet hätten. Malwina erwiderte, daß sie gern bereit sei, mitzugehen.
»Also gehst du wirklich mit?« fragte Olga.
»Ja, sicher!«
»Auch zu Fuß?«
»Gewiß, auch zu Fuß.«
»Und doch sollte man meinen, daß du dich nicht wohl fühlst. Du bist so blaß! Hast du gestern Migräne gehabt?«
»Ja, und auch heute noch.«
»Und warum versprichst du dennoch, mitzukommen?«
»Weil ich morgen wieder ganz wohl sein werde.«
»Was für eine Vorliebe für Vergnügungen du dir angeeignet hast! Erinnerst du dich der Zeit gleich nach deiner Rückkehr aus dem Institut? Da wolltest du dich nicht vom Platze rühren; man merkte, daß du aus dem Kloster kamst. Jetzt bist du ganz anders.«
»Heute jedoch wirst du nicht ausgehen, nicht wahr?« fragte die Tante.
»Nein, ich will mich wieder niederlegen.«
»Dann wollen wir gleich fortgehen. Du weißt, daß ich Luft brauche; wenn ich nicht jeden Tag meinen Spaziergang mache, so ist mir abends der Kopf ganz eingenommen. Adieu, Malwina, gute Besserung und auf Wiedersehen! Morgen wird um 8 Uhr früh aufgebrochen; halte dich bereit!«
Und sie gingen trällernd und gedankenlos von dannen, wie sie gekommen waren. Malwina verfolgte sie mit den Blicken und dachte: »Das ist die Zuneigung, die sie für mich hegen! Sie haben bereits vergessen, daß ich krank bin, daß ich leide. Sie denken nicht daran, daß ich den ganzen Tag allein für mich bin und ein wenig Zerstreuung brauchen könnte; sie verlassen mich. Mögen sie doch gehen; ihre Anwesenheit würde mir nur schaden. Es ist besser so!«
Der ländliche Ausflug verlief auf die gelungenste Weise, um so mehr, da er durch die Anwesenheit des Leutnants Mandini, eines sympathischen jungen Mannes, belebt wurde. Malwina war ganz besonders froh gelaunt, was sich niemand zu deuten wußte, da sie ziemlich blaß aussah und doch den vorhergehenden Tag an heftiger Migräne gelitten hatte.
Als sie jedoch nach Hause zurückgekehrt war, fühlte sie sich äußerst erschöpft und müde infolge der gemachten Anstrengung. Trotzdem wollte sie sich keine Ruhe gönnen, und sie fehlte bei keinem einzigen der zahlreichen Feste, die während der Saison gegeben wurden. Überall hörte man ihr klingendes, nervöses Lachen, ihre Stimme, welche alle anderen übertönte; aber ein aufmerksamer Beobachter hätte wohl verstanden, daß dies nicht ihr normaler Zustand sein konnte. Lärmende Heiterkeit lag sonst nicht in ihrem Charakter. Das strenge Auge, der stolze, funkelnde Blick hätten sie wohl verraten; aber niemand achtete darauf; niemand bemerkte diese Anzeichen.
Lauras Scharfblick allein war nichts entgangen; die treue Hüterin sah mit Schmerz, wie ihre junge Herrin abmagerte und immer bleicher wurde; sie bemerkte das konvulsivische Zittern und die Aufregung, die sie oft, nur allzuoft überfiel. Der unruhige Blick, das Bedürfnis eines beständigen Bewegens, wie sie es an dem jungen Mädchen beobachtete, erfüllte ihr Herz mit banger Sorge. Sie hätte so gern das Übel gekannt, um das entsprechende Mittel dagegen anwenden zu können; aber sie hegte keine Hoffnung, daß sie es je erfahren würde. Malwina war streng und schroff gegen die Dienerschaft geworden, gleichgültig gegenüber ihrem Vater, hochmütig gegen alle; sie entfremdete sich selbst diejenigen, die ihr wohl wollten. Und dennoch konnte sie nicht allein sein; die Einsamkeit war ihr schrecklich; sie suchte auf jede Weise sich selbst und ihren Gedanken zu entfliehen. Wenn sie allein zu Hause war, vermochte sie nicht einen Augenblick ruhig bei einer Beschäftigung zu bleiben. Sie irrte dann ruhelos von einem Zimmer in das andere, eilte auf den Balkon, in den Garten, ohne für ihren Gemütszustand Beruhigung zu finden.
Laura sah dem allen schweigend zu und zitterte für Malwina.
Nachts, wenn die treue Seele fürchtete, daß die junge Herrin nicht schlafe, stieg sie leise vom oberen Stock herunter und lauschte an der Thüre. Da hörte sie wohl Seufzer und Klagelaute, ohne jedoch verstehen zu können, welchem Schmerz dieselben galten.
Auf diese Weise war das Frühjahr vergangen. Viele Familien hatten bereits die Stadt verlassen und andere trafen Anstalten, nach den Bergen oder ans Meer zu ziehen. Malwina, die anfangs mit Schrecken die Unterhaltungen ihrem Ende zugehen sah, war jetzt erfreut, daß sie gänzlich aufgehört hatten. Sie brauchte notwendig Ruhe. Die beständige Sorge, einen oder den anderen Tag von einer boshaften Zunge der Nachricht von Contis baldiger Verheiratung erwähnen zu hören, und dabei bedeutungsvollen Blicken zu begegnen, war das, was sie am meisten quälte und peinigte. Und nun hatte die Marterzeit ihr Ende erreicht. Bald konnte sie frei aufatmen. Indessen hatte sie ihre Rolle gut gespielt; das gestand sie sich selbst ein; niemand hatte etwas von ihren Seelenqualen gemerkt.
Die Familie Varelli war noch nicht abgereist; man wartete noch auf eine Antwort Malwinas, die sich aussprechen sollte, ob sie mit ihnen in die Bäder gehen wolle; ihre Entscheidung war noch nicht erfolgt, und Malwina schob sie von Tag zu Tag hinaus, aus verschiedenen Gründen. Sie wollte sich nicht Varellis anschließen, die sie neuerdings in die elegante Welt geführt hätten, was nur eine Wiederholung des aufregenden Lebens der letztverflossenen Wochen bedeuten würde; und ebensowenig wollte sie in der Stadt bleiben, aus Angst, plötzlich einmal das junge Ehepaar Conti ankommen zu sehen und sich unvorbereitet Lina gegenüber zu finden, die sie liebenswürdig empfangen mußte. Sie war unschlüssig.
Eines Tages fragte ihr Vater, indem er seine Augen von der Zeitung erhob: »Gehst du mit deiner Tante?«
Malwina blieb einen Moment nachdenkend, und stieß dann ein entschiedenes kurzes »Nein« hervor.
»Weil ich müde bin. Ich habe wahrhaftig genug geleistet. Jetzt will ich mich ausruhen.«
Ein unmerkliches Lächeln umspielte die Lippen Herrn Arnaldis, der bei sich dachte: »Das wollte ich eben erfahren!«
»Was hast du denn eigentlich für diesen Sommer vor?«
»Wenn ich das wüßte!«
»Willst du die ganze Zeit hier bleiben?«
»Es giebt immer noch zu viel Lärm und zu viel Leute hier.«
»Was dann?«
»Schlage du etwas vor, bitte!«
»Ich habe bereits daran gedacht; aber ich weiß nicht, ob du einwilligen wirst?«
»Laß hören, Vater!«
»Würdest du nicht gern in das Schloß ›La Grand' Roche‹ gehen?«
»Sind viele Landhäuser in der Nähe?«
»Gar keine. Das Schloß liegt sehr einsam; neben demselben befindet sich eine Meierei, deren Besitzer weder Familie hat, noch selbst dort wohnt. In der Nähe liegt die Ortschaft, ganz ländlichen Charakters, in welcher der Pfarrer, der Apotheker und Doktor die einzigen gebildeten Leute sind. Das ist alles. Es ist in der That ein Plätzchen wie verloren in der Einsamkeit der Natur; wie geschaffen für jemand, der keinen Menschen sehen will.«
»Und wird es nicht schwer zu bekommen sein?«
»Darüber brauchst du dir keine Sorge zu machen.«
»O, dann bitte, gehen wir dahin! Aber ich ersuche dich, lieber Vater, niemand einzuladen, nicht einmal die Tante!«
»Sei ruhig; was mich betrifft, würde ich das ganze Jahr allein bleiben, nicht nur während des Landaufenthaltes! Triff deine Vorbereitungen; wir reisen ab, wann du willst.«
»Mein Kind; ich habe schon seit letztem Winter daran gedacht, und in der Voraussicht, dir Freude zu machen, ließ ich das Schloß während des Frühjahrs instand setzen.«
Zum erstenmal nach langer Zeit empfand Malwina wieder ein Gefühl der Zärtlichkeit für ihren Vater, und mit warmem Kuße dankte sie ihm für seine Liebe und Fürsorge.
Wer am meisten sich durch diesen Entschluß beglückt fühlte, war Laura, die von dieser Wahl eine günstige Änderung Malwinas sicher erhoffte. Frau Varelli war außer sich, als sie hörte, daß Malwina sie nicht ans Meer begleiten wolle. Lydia und Olga führten die schwerwiegendsten Gründe ins Feld, Mario nahm zu den beredetsten und überzeugendsten Vorstellungen seine Zuflucht; es war alles umsonst. Malwina blieb unerschütterlich. Sie fühlte zu sehr das Bedürfnis, frei aufatmen und den schweren Druck von ihrer Seele wälzen zu können; sich so zeigen zu dürfen, wie sie sich wirklich fühlte, ohne sich verstellen zu müssen und sich heiter zu geben, während sie den Tod im Herzen trug.