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Sechzehntes Kapitel.
Herr Gregorio

Vor dem langen Gebäude dehnte sich ein großer Hofraum aus, auf welchem die Arbeit in regster Thätigkeit von statten ging. Während aus dem Stalle das Vieh gruppenweise herauskam, um zur Tränke geführt zu werden, fuhren zahlreiche Wägen mit goldgelbem Weizen beladen, nacheinander ein, um der Reihe nach ihrer Last entledigt zu werden, die in die riesigen Speicherräume aufgezogen wurde. Auf der anderen Seite schichteten Taglöhner das Heu auf, das einen köstlichen Duft verbreitete, den Herr Gregorio, vor dem Hauseingange auf einem Stuhle sitzend und das Ganze beaufsichtigend, gierig einsog. Neben ihm stand auf einem runden Tischchen eine Platte mit einer Flasche und einem Glas. Zu seinen Füßen zusammengekauert, lag Tom, der alte Hund des verstorbenen Herrn Antonio, mit der Schnauze zwischen den Pfoten, und er erhob dieselbe nur, um die Mücken zu verscheuchen, die seine Nase umschwirrten. Der reiche Besitzer überrechnete im Geiste die Summen, die er aus dem Ertrage all dieser Ernten ziehen würde, und unterbrach diesen angenehmen Gedankengang nur, um von Zeit zu Zeit einen Schluck zu trinken und einen Befehl oder eine Anweisung zu erteilen.

Plötzlich erhob Tom seinen Kopf und spitzte die Ohren, indem er nach dem Eingangsthore schaute.

Dortselbst erschien eine schwarze Gestalt. Es war Don Giuseppe, der mit seinem weißen Schirme sich dem Besitzer näherte, während er von Zeit zu Zeit stehen blieb, um sich dieses rege Treiben zu betrachten.

Herr Gregorio erkannte ihn zuerst gar nicht; er hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, da er nur selten im Pfarrhofe verkehrte; der Pfarrer, wenn er auf seinen Spaziergängen nach Abelarda gekommen war, hatte Herrn Gregorio ebenfalls nur selten getroffen.

Als er ihm nahe gekommen war, und ihn beim Namen angesprochen hatte, erhob sich der reiche Mann, und ihm die Hand reichend, rief er aus:

»Wenn ich nicht irre, sind Sie der Pfarrer von Saluggia?«

»Ja, gewiß, der bin ich.«

»Wie komme ich zu dieser Ehre?«

»Nun, sehen Sie, man muß doch manchmal im Leben seine alten Bekannten wieder aufsuchen; sonst vergißt man sich ja gegenseitig.«

»Sehr gut gesagt! Ist es Ihnen gefällig, einzutreten?«

»Danke, wir können ganz gut hier bleiben.«

»Wie Sie wollen. Nehmen Sie Platz, bitte!«

Und damit wies er ihm den Stuhl an; dann wandte er sich dem Eingang zu und rief: »Tonia, einen Stuhl, ein Glas und eine weitere Flasche desselben Weines!«

»Machen Sie keine Umstände, Herr Gregorio.«

»Das sind doch keine Umstände! Sie werden wohl begreifen, daß es mir zur Freude gereicht, Ihnen vom Besten aus meinem Keller vorzusetzen? Ein solcher Besuch! Glauben Sie nicht, daß es mich überrascht, Sie in dieser Gegend zu sehen?«

»Sie haben recht. Ich erinnere mich nicht, hier in Bellavista gewesen zu sein. Ich kam manchmal in meiner Jugend in die Nähe; wir wohnten damals in Donalisio; seit vierzig Jahren war ich nicht mehr in der Gegend.«

»Ein Grund mehr, mich darüber zu freuen, daß Sie heute gekommen sind. Es muß gewiß eine sehr wichtige Ursache sein, die Sie dazu bewogen hat, Herr Pfarrer?«

»O, sicher!«

»Tonia,« rief von neuem der reiche Landbesitzer, »kommst du endlich?«

»Es eilt nicht, es eilt nicht! … Welch reiche Ernte, Herr Gregorio! Wie viel Getreide!«

»Es ist nicht so viel, als man meint; es nimmt viel Raum ein, aber das meiste daran ist Stroh. Es scheint, als ob Überfluß da wäre, aber die Säcke füllen sich nie ganz; die Jahre werden schlecht, lieber Herr Pfarrer, sehr schlecht! Die Arbeiter sind nie zufrieden; früher zahlte man einen Franken fünfundzwanzig Centimes; jetzt ist es schon viel, wenn sie sich mit dem Doppelten begnügen. Die Landesprodukte sind im Wert gesunken, die Steuern werden fortwährend erhöht und wer sie zahlen muß, das sind wir, die Besitzer. Glauben Sie mir, heutzutage ist der Grundbesitz eine Last.«

Dem Pfarrer schien es, als ob die gewünschte Unterredung, von der er nicht recht gewußt hatte, wie er sie einleiten könnte, ganz von selbst die beabsichtigte Wendung nähme; und wenngleich die Worte des Hausherrn wenig versprachen, war er dennoch zufrieden. Der Anfang war gemacht; so brauchte er nur anzuknüpfen.

»Beklagen Sie sich nicht, Herr Gregorio! Sie haben wahrlich keinen Grund dazu. Aber diejenigen zu sehen, die wirklich nichts haben, das thut in der Seele weh! Sie, der Sie fern von solchen Dingen, inmitten des Überflusses leben, können sich keinen Begriff von dem Elend machen, das anderswo herrscht. O, Herr Gregorio! eben diese Erwägung hat mich zu Ihnen geführt.«

»Tonia,« rief wiederholt Herr Gregorio, die fatale Wendung, die das Gespräch nahm, bemerkend. »Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer; ich will nachsehen, ob sie mich gehört hat.«

Und er entfernte sich, zwischen den Zähnen murmelnd: »Mir schien es schon gleich am Anfang, daß er gekommen sei, um eine Unterstützung für seine Armen zu erbetteln! Die Quälgeister! Wenn sie nur bitten können, so sind sie schon zufrieden! Sie sollen nur von dem Ihren geben, wenn andere etwas brauchen! Ich dachte es gleich, daß sein Kommen nichts Gutes bedeute!«

Er begegnete Tonia, die mit dem Verlangten erschien und kehrte mit ihr zurück. Darauf entkorkte er die Flasche, füllte zwei Gläser und bot eines dem Pfarrer dar, der es dankend annahm, den Wein kostete und dessen Güte pries.

»Ah, bester Herr Pfarrer, der ist von mir bereitet, unter meinen eigenen Augen! Wein von Monferrato, woselbst ich einige Weinberge in günstigster Lage besitze.«

Und er schlürfte den Wein mit größtem Wohlbehagen, indem er die Augen halb schloß und mit der Zunge schnalzte.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Wie stellen Sie es nur an, daß er Ihnen so vorzüglich gelingt?«

»Meine Gegenwart erwirkt solche Resultate. Ich achte darauf, daß man die Trauben nicht vermischt, die dann vor meinen Augen gekeltert werden. Alles hängt von meiner Anwesenheit ab. In Abelarda, wohin ich nicht so oft komme, stehen die Sachen ganz anders. Das Auge des Gebieters macht viel aus. Wo ich nicht bin, geht alles schief. O, das Auge des Gebieters!«

Und indem er sich auf seinem Sessel zurücklehnte, und das Haupt triumphierend erhob, hielt er die beiden Hände auseinander gespreizt auf der Brust und blickte voll Selbstgefälligkeit um sich.

»Und ein Auge wie das Ihrige!« fügte der Pfarrer hinzu.

Don Giuseppe hatte verstanden, wo die schwache Seite des reichen Gutsbesitzers zu suchen war; dementsprechend lobte er die Fähigkeit, den Verstand und die Erfahrung, mit denen derselbe alles anzugreifen wußte.

»Sie verstehen nun, Herr Pfarrer, weshalb meine Geschäfte sich so gedeihlich anlassen. Weil ich ein scharfes Auge habe und mich um alles annehme, ohne der Arbeit und Mühe zu achten; das allein ist der Grund, warum ich mehr erziele als so viele andere. Und dann will man alles dem Glück zuschreiben! Das Glück ist dem hold, der es sich zu erwerben versteht! Wenn ein Mensch auf seine eigenen Angelegenheiten bedacht ist, ohne sich in Dinge zu mischen, die ihn nichts angehen, dann gelingt ihm alles! Ich verschwende und vernachlässige nichts, was man nicht von allen sagen kann, und daher kommt es, daß in meinem Hause nichts aus dem Gleichgewichte gerät.«

»Und doch kömmt es leider häufig vor, daß auch wer nicht verschwendet, doch von allem entblößt ist …«

Der Pfarrer wollte das Gespräch weiter führen, da ihm der geeignete Augenblick dazu gekommen schien; Herr Gregorio jedoch, welcher ahnte, was nun erfolgen würde, stand auf und sagte: »Ich habe Bellavista restaurieren lassen. Wollen Sie sich das Haus ansehen?«

»Sehr gern.«

Der Hausherr wandte sich erst noch an die Arbeiter mit der Weisung, sich in die Küche zu begeben, nachdem sie ihre Arbeit vollendet hätten, und trat dann mit dem Pfarrer in das Haus ein. Sie kamen in die Küche, einen weiten, hellen und luftigen Raum, in welcher drei Frauen, darunter Tonia, eben das Vesperbrot für die Leute herrichteten. Auf den großen Tisch war ein grobes, aber schneeweißes Tuch gebreitet, darauf der Reihe nach die Teller, Gläser und mehrere Weinflaschen nebst frischem, köstlichem Hausbrot, das einen appetiterregenden Duft verbreitete; in der Mitte stand eine enorme Schüssel mit herrlichen Salat.

Die Frauen grüßten die beiden Herren mit großer Achtung, während dieselben vorbeischritten. In den großen, zahlreichen Zimmern herrschte überall gediegene Wohlhabenheit; es war nirgends der leiseste Luxus zu sehen; aber die gut erhaltenen Möbel, die bequemen Lehnstühle, die weichen Diwane, die guten Betten, die schweren Vorhänge, die Kommoden aus Nußbaum mit Marmorplatten, die Armleuchter aus Bronze, die alten Bilder in goldenen Rahmen, alles atmete das Behagen und den Wohlstand, dessen sich der Besitzer erfreute.

»Wie schade, daß nicht eine zahlreiche Familie in diesen schönen Räumen wohnt!« bemerkte der Pfarrer.

Die Stirn Herrn Gregorios verdüsterte sich. Der Geistliche, der es beobachtet hatte, fuhr fort: »Und doch könnte man dies so leicht ermöglichen, und durch ein Werk der Barmherzigkeit in dieses Haus Leben und Frohsinn zaubern. Und wie viel Freude könnten Sie damit sich selbst bereiten, Herr Gregorio!«

Der reiche Mann schwieg noch immer.

»Herr Gregorio, stimmt Sie diese Einsamkeit nicht zuweilen etwas traurig?«

Belästigt von dieser etwas unbescheiden klingenden Frage, antwortete er: »Nein; denn wenn ich Gesellschaft zu haben wünschte, fände ich tausend Wege, sie mir zu verschaffen.«

»Aber Sie würden es nicht immer gut treffen.«

Und mit dem plötzlichen Entschlusse, seiner Angelegenheit endlich Worte zu leihen, dabei dem Herrn Gregorio gerade ins Gesicht sehend, sprach der Pfarrer weiter: »Ich bin gekommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen. Aber erst hören Sie von einem Vorfall, dessen Zeuge ich gestern gewesen bin.«

Und er erzählte ihm, was er gesehen hatte. Herr Gregorio lauschte aufmerksam, ohne sich zu rühren, und als der Pfarrer geendet hatte, fragte er: »Es handelt sich demnach um ein Werk der Barmherzigkeit, eine unglückliche Witwe zu unterstützen? Ist es das, was Sie sagen wollen?«

»Einen Augenblick! Was würden Sie unter der Unterstützung verstehen?«

»Nun, ich dächte, wenn ich ihr zehn, fünfzehn, auch zwanzig Franken gäbe? …«

»Warten Sie noch ein wenig, mein Herr, ehe Sie anbieten. Hören Sie, wer diese Witwe ist; sie ist nicht eine gewöhnliche Frau, der man ein Almosen geben kann; sie ist die Witwe eines Arztes.«

»Es ist unmöglich, daß die Witwe eines Arztes in solchem Elend ist!«

»Hören Sie nur weiter! Die Mißgeschicke, welche diese Familie trafen, waren derart, daß sie dieselbe in der That ins Elend stürzten.«

»Gut,« erwiderte Herr Gregorio, der noch immer nicht begriffen hatte; »sagen wir fünfzig Franken. Das macht den Arbeitslohn von zwanzig Arbeitern am Tage aus.«

»Nur noch ein wenig Geduld! Diese Frau ist nicht nur einfach die Witwe eines Doktors, sondern ist … die Tochter … eines Marquis! …«

Bei dieser unerwarteten Offenbarung prallte Herr Gregorio einen Schritt zurück, außer sich vor Bestürzung. Mit fliegendem Atem, die Schweißtropfen auf der Stirne trocknend, rief er aus: »Was? Der Sohn meines Bruders um Almosen bittend! Ein Salvadeo!«

»Es ist so, wie ich Ihnen sage, Herr Gregorio.«

»Unmöglich, Herr Pfarrer, unmöglich!«

»Die Sache verhält sich genau so, wie ich sie Ihnen erzählt habe.«

»Aber sein Vater war Arzt, und seine Mutter hatte doch Vermögen!«

»Und die Schulden des Marquis? Sie mußten bezahlt werden. Aber sie haben sich dabei arm gemacht.«

»Und verdiente sich der Doktor denn nichts?«

»Ja, aber seine Krankheit und die seiner Frau?«

»Also jetzt wenden sie sich an mich, nachdem mein Bruder nicht mehr lebt? Und warum wenden sie sich nicht an den Adel? Warum nicht an den Herrn Grafen, der das Schloß La Grand' Roche Vaiselle gekauft hat? Sie, die Marquise Isabella, sich an einen Landmann wenden! Welches Wunder! … Und ich, ein Plebejer, der Sohn eines Plebejers, soll eine Marquise unterstützen …«

Geduld, Herr Gregorio, Geduld! Die Marquise Isabella hat sich keineswegs an Sie gewendet. Ich allein, aus freiem Antrieb, habe mich entschlossen, zu Ihnen zu kommen, weil ich überzeugt war, daß Sie, der Sie sicher ein großmütiges Herz besitzen, nicht zugeben würden, daß andere Kenntnis erhielten von dem Elend, in welchem sich die Familie Ihres Bruders befindet.«

»Ah! sie weiß es nicht? Wenn sie es wüßte, würde die Marquise meine Unterstützung jedenfalls zurückweisen. Somit besteht keine Möglichkeit, etwas zu thun!«

Nach diesen Worten ging er dennoch in sein Arbeitszimmer und öffnete den Geldschrank. Er entnahm demselben eine Banknote, reichte sie dem Pfarrer und sagte in geringschätzigem Tone: »Nehmen Sie das; aber hüten Sie sich, wissen zu lassen, woher das Geld stammt; sie würde es verschmähen.«

»Ich habe noch nicht ausgeredet. Schenken Sie mir noch einen Augenblick Gehör. Der Knabe ist jetzt zehn Jahre alt; es ist Zeit, daran zu denken, ihn zu einem Berufe vorzubereiten. Ein Handwerk, das begreifen Sie wohl, steht außer aller Frage. Er hat viel Verstand; seiner Mutter fehlen jedoch die Mittel, ihn studieren zu lassen. Entschuldigen Sie die Kühnheit meiner Äußerung, allein es ist Ihre Pflicht, daran zu denken.«

» Meine Pflicht, meine? Was geht das mich an, wenn mein Bruder die Laune hatte, eine verarmte Marquise zu heiraten? Was habe ich damit zu schaffen? Wäre sie in ihrer Sphäre geblieben, würde es für sie und für ihn besser gewesen sein! Ich bedauere, aber ich kann nichts thun. Herr Pfarrer, ich muß Sie verlassen; meine Leute warten auf meine weiteren Befehle. Ich empfehle mich Ihnen und bitte, mich zu entschuldigen.«

Mit einer Hand den Hut haltend und die andere dem Pfarrer darreichend, ohne auf das zu warten, was derselbe noch sagen wollte, verabschiedete er ihn und durchmaß den Hof mit hastigen Schritten, sich nach dem Thorbogen wendend.

... Mitternacht hatte bereits geschlagen und Herr Gregorio konnte seinen gewohnten Schlaf noch immer nicht finden. Er wandte sich von einer Seite auf die andere, schloß die Augen in der Erwartung, einschlafen zu können; aber umsonst! Der Gedanke, daß sein Neffe arm und im Elend war, folterte ihn. Sein Gewissen, das er bis dahin zu betäuben versucht hatte, erwachte jetzt in der schrecklichsten Weise, um ihn zu peinigen. Er dachte an die Arbeit, die er den nächsten Morgen vorhatte, an die Taglöhner, die seine Befehle ausführen würden, dachte an alles, was sonst seine Gedanken angenehm beschäftigt hatte; nichts vermochte ihn zu zerstreuen. Herr Gregorio stöhnte, versuchte jede Lage, blieb zeitenweise unbeweglich; aber endlich ermüdet von den vergeblichen Anstrengungen, setzte er sich im Bette auf, erhitzt und in Schweiß gebadet. Er glaubte im Fieber zu sein, so brannte ihn die Stirn und pochten seine Schläfen. Vollständig erschöpft und die Unmöglichkeit einsehend, noch Schlaf finden zu können, stand er auf und begab sich auf die Terrasse. Vollkommene Stille herrschte auf dem Hofe. Die Leute, ermüdet von des Tages Mühen, ruhten in tiefem Schlafe auf dem Heu unter den Arkaden. In den Ställen hörte man die Atemzüge des Viehes und das zeitweilige Rasseln der Ketten, an denen es gebunden war. Kein Wölkchen zeigte sich am klaren Nachthimmel. Herr Gregorio blickte auf die weite, vom Mond beschienene Ebene. Rechts zogen sich ausgedehnte, üppige Wiesenflächen hin; links die Felder, teilweise ihrer goldgelben Ähren schon beraubt, teils noch in reicher Ernte stehend; von den zahlreichen Obstbäumen, die in den Feldern symmetrisch zerstreut standen, hingen die von den schönsten Früchten schwerbeladenen Äste herab. Alles schien dem reichen Manne zuzurufen: »Dies alles ist dein und du bist allein, um es zu genießen, während andere darben! Und wer Mangel leidet, das ist dein Neffe, dem ein Teil dieses Besitzes zugehört, und eine junge kranke Frau, die zu Grunde gehen muß, weil sie nichts hat, um sich zu kräftigen, während du im Überflusse schwelgst!«

Das Herz Herrn Gregorios, von Natur aus gut veranlagt, machte sich geltend; allein er versuchte, das lästige Gefühl, sowie das Bild der jungen Frau, die so zart und leidend war, und die Vorstellung jenes bleichen, armen Knaben zu verjagen. Aber vor seine Seele drängte sich ein anderes Bild, ein Bild, dem er nicht widerstehen konnte, nicht widerstehen durfte. Eine andere Frau, ebenfalls zart und leidend, erhob sich vor seinem fiebernden Blick: seine Mutter! Und eine Stimme, schwach und erlöschend, wiederhallte an seinem Ohre und ließ ihn die Worte deutlich vernehmen: Ich lege dir Giulio ans Herz! Um der Barmherzigkeit willen sorge für ihn!«

Und er hatte es ihr versprochen; aber war er diesem Versprechen nachgekommen? Leider, nein! Er überließ seinen Bruder sich selbst, als derselbe seines Beistandes so dringend bedurft hätte, um sich dem Vater wieder zu nähern. Während er sich ins Mittel hätte legen sollen, um die beiden zu versöhnen, war er gleichgültig geblieben. In seinem Geiste sah er das totenbleiche Antlitz seiner Mutter vorwurfsvoll auf sich gerichtet, und sein Herz, seit so langer Zeit kalt und gefühllos gegen alles, was sich nicht auf Geld bezog, wurde plötzlich weich, und Thränen, die seit Jahren seinen Augen fremd geblieben waren, flossen reichlich über seine Wangen.

In diese Rührung mischte sich jedoch ein Gedanke, dem er Jahre hindurch eine absolute Macht eingeräumt hatte, die Erinnerung an sein angehäuftes Gold. Er erblickte im Geiste seine Geldtruhe; und die darin befindlichen Goldstücke nebst den Banknoten schienen in tollem Reigen mit verlockendem Klingen vor seinen Augen einen wirbelnden Tanz aufzuführen. Gregorio schloß seine Lider, er verstopfte sich die Ohren; allein die Unruhe in ihm wurde immer stärker, die Schläfen pochten zum Zerspringen, in seinen Ohren sauste es … Dieses Gold, anstatt ihn anzuziehen, stieß ihn ab, machte ihn wütend; dieses Gold, um dessentwillen er die letzten Worte seiner Mutter vergessen hatte, und seinen Vater und seinen Bruder sterben ließ, ohne zu versuchen, sie wieder zu vereinen, – in diesem Moment haßte er es aus ganzer Seele. Ermattet, als ob er einen schweren Kampf durchgefochten hätte, barg er seine Stirn in den Händen, kehrte dann ins Haus zurück, zündete ein Licht an und begab sich in sein Arbeitszimmer. Dort setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb in Eile, kurz und in höchster Erregung, als brennte ihn die Feder unter den Fingern, folgende Worte:

»Herr Pfarrer!

Ich übersende Ihnen hiermit dieses Geld, damit Sie den Sohn meines Bruders in ein gutes Kolleg bringen und ihn für den Beruf studieren lassen, zu welchem er die meiste Neigung fühlt. Ich verpflichte mich von heute an, diese Summe jedes Vierteljahr zu erneuern.

Ich wünsche jedoch ausdrücklich, daß niemand erfährt, von wem dieses Geld herrührt.

In Hochachtung
G. Salvadeo.«

Er öffnete seinen Schrank, nahm einige Banknoten heraus, die er in den Brief einlegte, siegelte denselben, versah ihn mit der Adresse des Pfarrers in Saluggia und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Darauf kehrte er ins Bett zurück, sah das Bild seiner Mutter ihn anlächeln, und versank in einen ruhigen, erquickenden Schlaf.

Den folgenden Tag ließ der Pfarrer den kleinen Alfonso kommen, und indem er ihm liebevoll und tröstend zusprach, teilte er ihm mit, daß von nun an dem Mangel sowohl für seine Mutter als auch für ihn abgeholfen sei. Er fragte den Knaben, welchen Beruf er am liebsten ergreifen möchte. Mit energischem Tone, frei und offen, antwortete dieser sofort: »Ich will Arzt werden, wie mein Papa es war.«

... Vierzehn Jahre später kehrte Alfonso mit dem Doktortitel nach Saluggia zurück. Seine Mutter, die ihn voll stolzer Freude an der Station abgeholt hatte, sagte sich in ihrem Innern, daß sie nun nichts mehr auf Erden zu wünschen habe.

Der Pfarrer, der zu öfteren Malen von Mutter und Sohn ausgeforscht worden war, welchem Wohlthäter sie so viel Dank schuldig seien, hatte immer ausweichend geantwortet; es wäre, so versicherte er, rechtmäßiges Geld, das ihnen gehörte, und das sie ohne Furcht und ohne Scheu, dadurch ihre Würde zu verletzen, annehmen dürften.


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