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Zwölf Jahre waren seit jenem Abend verstrichen, und dennoch erinnerte sich Malwina desselben bis in die kleinsten Einzelheiten. Ihre Mutter hatte sie damals immer wieder von neuem geküßt und mit Innigkeit ans Herz gedrückt, während ihre Augen in Thränen schwammen. Es schien, als ahnte sie, daß sie ihre Tochter nimmer wieder sehen sollte!
Die arme Dame war krank, sehr krank, und sie unterwarf sich dem schweren Opfer der Trennung von ihrem Kinde, um es nicht der Gefahr der Ansteckung auszusetzen. Sie wußte, daß sie bald von ihm scheiden sollte, und es machte ihr Kummer, dasselbe dem Vater zu überlassen, der, von seinen Geschäften in Anspruch genommen, keine Zeit hatte, sich dem Kinde zu widmen. Es wäre somit den Händen der Dienstboten anvertraut geblieben, die, so vorzüglich sie auch waren, ihm unmöglich jene Grundsätze einzupflanzen vermocht hätten, die ihrem Wunsche gemäß in der Seele ihrer Malwina Wurzel fassen sollten. Sie, die am Rande des Grabes stehend, die Dinge in ihrem wahren Lichte sah, drückte ihr Töchterchen zum letztenmal an ihr Herz und sagte mit von Schluchzen unterbrochener Stimme: »Versprichst du mir, Malwina, daß du immer an deine Mutter denken und für sie beten wirst; daß du immer gut und brav sein und nie etwas thun willst, was ihr Kummer bereiten würde? Denn sieh', ich werde dir stets zur Seite sein, auch wenn ich nicht mehr von dieser Erde bin.«
Das kleine Mädchen schaute sie träumerisch an, ohne zu verstehen; es antwortete jedoch: »Ja, ja, Mama; ich verspreche es dir!«
Und während die arme Mutter nach dem letzten Kuß in lautes Weinen ausbrach, wurde Malwina mit Gewalt aus dem Hause gebracht.
Es war ein finsterer Abend, und das kleine Mädchen sah sich in einem fremden Gebäude, das in gar nichts demjenigen glich, das sie bis dahin bewohnt hatte. Der düstere, lange Gang, nur durch das schwache Licht einer Wandlampe erleuchtet; die riesig hohen, vergitterten Fenster; die Stille, die Einsamkeit dieses Ortes; all dieses zusammen versetzte es in einen Zustand unbeschreiblicher Traurigkeit. Sogar die Dame, von der es begleitet wurde, hatte etwas Düsteres an sich. Ihr langsamer, ernster Gang, die hohe, majestätische Gestalt, in einen weiten, schwarzen Mantel gehüllt, das blasse, zarte Antlitz, das sich von der schneeweißen Stirnbinde abhob, gaben ihr den Anschein eines Geistes. Selbst die Berührung der Hand, welche die des Kindes hielt, eine Hand kalt wie Eis, flößte ihm Furcht ein. Doch getraute sich Malwina nicht zu weinen.
Als sich ihnen eine, halbwegs im Corridor gelegene Thür öffnete, befanden sie sich an einem noch stilleren Orte. Ganz im Hintergrunde warf eine Lampe ihren schwachen Schimmer auf einen mit Leuchtern und Blumen geschmückten Altar. Die Nonne näherte sich demselben, kniete nieder und, indem sie Malwina auf die Stufen des Kommuniongitters steigen ließ und deren Händchen faltete, sagte sie zu ihr: »Erneuere hier vor demjenigen, der im Tabernakel eingeschlossen ist, das Versprechen, welches du soeben deiner Mama gegeben hast. Bitte ihn, daß er dir helfe, es zu halten!« Und sie sagte ihr die Worte mit gerührter Stimme vor.
Malwina that wie ihr geheißen, und dann erhoben sich beide. Die Hand der Nonne zitterte; das kleine Mädchen bemerkte es, und in dem Glauben, daß auch sie Angst habe, schmiegte es sich enger an sie. Da blieb die Nonne stehen und drückte das kleine Wesen an ihr Herz, indem sie sagte: »Du gehörst von nun an ganz und gar mir, und du wirst recht brav sein, nicht wahr?«
Bei diesen Worten konnte sich das Kind nicht mehr zurückhalten, und da es sah, daß die Dame so gut war und sicher nicht zanken würde, wenn es weinte, ließ es seinem Schmerze freien Lauf. Bei einem fünfjährigen Kinde ist jedoch der Schmerz nur eine vorübergehende Empfindung, und es vergaß alles, das schöne Haus, das es soeben verlassen hatte, und selbst die Mutter, als es, in einen großen, hell erleuchteten Saal geführt, zwei lange Reihen Tische sah, um welche ungefähr fünfzig fröhlich lachende Mädchen saßen, die alle die Köpfe erhoben, um Malwina anzuschauen, die verlegen und verschämt der Klosterfrau folgte. Sie wurde neben zwei kleine Mädchen ihres Alters gesetzt, die sie sogleich nach ihrem Namen fragten und ihr versicherten, daß sie viele schöne Spiele miteinander machen wollten. Eines von ihnen teilte ihr auch gleich von dem Zuckerwerk mit, die sein Papa am selben Tage mitgebracht hatte, und das andere zeigte ihr die kleine Porzellanpuppe, die es stets bei sich in der Tasche trug, weil sie so winzig klein war, nicht höher als ein Daumen. Es erzählte ihr, daß die Puppe Mimi heiße, und daß sie auch ein rosa und ein weißes Kleidchen und eine Wiege besitze. Die Puppe mußte nun Kopf, Arme und Beine bewegen, niederknieen und beten, sich auf den Tisch setzen mit den Beinchen unter dem Tellerrand, damit sie essen könne, und das kleine Mütterchen steckte ihr ein Brotkrümchen an den Mund und aß es dann selbst, indem es sagte, daß Mimi nicht hungrig sei. –
... Malwina dachte an die Liebe, die Donna Ildefonsa, welche sie keinen Augenblick aus dem Auge verlor, ihr fortwährend bezeigt hatte; die sie voll Güte ermahnte, wenn sie fehlte, und sie belohnte, wenn sie sich auszeichnete. Mit welcher Zärtlichkeit hatte Donna Ildefonsa sie umarmt und mit ihr geweint, als Malwina bald nach ihrem Eintritt ins Kloster den Tod der Mutter erfuhr, und wie liebevoll hatte sie ihr wiederholt, daß sie nun ganz ihr gehören sollte!
Von jenem Tage an war die gute Nonne in der That ihre zweite Mutter geworden. Zu ihr eilte Malwina, so oft eine Lehrerin sie belobt hatte, oder wenn irgend ein kleiner Kummer sie quälte; und wenn sie einen Fehler begangen hatte, mit welcher Beschämung trat sie vor Donna Ildefonsa hin! Wie umwölkte sich da das ohnehin schon traurige Antlitz derselben und wie erbleichte es!
Bei Gelegenheit ihres Namenstages, als das kleine Mädchen ihr seinen ersten Brief überreichte mit Blumen, die es in seinem kleinen Gartenbeete selbst gepflegt hatte, gab es eine rührende Scene.
Donna Ildefonsa hatte das Kind auf den Schoß genommen, und während sie dessen lockiges Haar liebkoste, sagte sie: »Wirst du mich immer lieb haben, Malwina, immer? Wirst du stets meinen Worten folgen, auch wenn du nicht mehr bei mir bist?«
Und als die Kleine wiederholte: »Ja, ja,« fuhr sie fort: »Wenn du mir Gehör giebst, wirst du glücklich sein; wenn nicht … mein armes Kind! …«
Im Andenken an alle diese Scenen fühlte sie sich tief bewegt.
Seit einer Stunde stand Malwina hier, an das Fenster gelehnt, während sie im Geiste die schönen, im Frieden des Klosters verlebten Jahre durchging. Vor ihren Augen dehnte sich der riesige Garten aus, von großen Bäumen beschattet, die so oft Zeugen ihrer Freuden und ihrer kleinen Leiden, ihrer kindlichen Spiele und später ihrer Gedanken als heranwachsendes Mädchen gewesen waren. In diesem Augenblicke stieg der Mond hell am Horizont auf und beleuchtete sanft verschiedene Mädchengruppen, die sich voll Wehmut Lebewohl sagten, deren silberhelles Lachen von nun an nicht mehr hier erklingen sollte, deren festliche Jubelschreie an jenen hohen ernsten Mauern kein lautes Echo mehr hervorrufen würden.
Der Vorabend der Ferien erweckte in den braunen oder blonden Köpfchen der Abreisenden ein Gefühl unbestimmter Furcht, und eine ungewohnte Traurigkeit in jenen, die im Kloster zurückblieben.
Malwina dachte an die schönen Tage, welche sie in diesem Hause voll teurer, lieber Erinnerungen verlebte, wo sie gelernt hatte, Gott zu lieben, wo ihr so viele Beispiele der Tugend und Selbstverleugnung voranleuchteten; in jenem Hause, das sie nur in den seltenen Fällen verlassen hatte, wenn ihr Vater gekommen war, um sie zu besuchen. Dann war ihr gestattet worden, einige Stunden lang mit ihm außer den Klostermauern zu verbringen.
Ihr Vater, eine Persönlichkeit von vornehmem, achtunggebietendem Äußeren, war bemüht, ihr jedmögliches Vergnügen zu verschaffen; er beschenkte sie mit den kostbarsten Spielsachen und stellte tausend Fragen an sie, auf die sie stets nur einsilbig zu antworten wußte. Sie fühlte sich verlegen in Gesellschaft ihres Vaters, den sie ja so wenig kannte; und obgleich er sich ihr gegenüber immer zärtlich zeigte, verliefen diese Besuche stets in ziemlich langweiliger Weise. Wenn sie dann wieder ins Kloster zurückkehrte, warf sie sich in die Arme Donna Ildefonsas, die sie jedesmal mit Innigkeit ans Herz preßte.
Selten erhielt sie Briefe von ihrem Vater; seine jüngsten Zeilen hatten ihr seine Ankunft gemeldet; diesmal würde er kommen, um sie mit sich nach Hause zu nehmen. Nach Hause! Sie sollte in jene Räume zurückkehren, die sie seit zwölf Jahren nicht mehr betreten, die sie als kleines Kind bewohnt, und in welchen sie der Gegenstand unermeßlicher Mutterliebe gewesen war! Und nun sollte sie dahin zurückkehren und dort ihr Leben an der Seite ihres Vaters zubringen!
Der Gedanke an das neue Dasein, das sich ihr in der Heimatstadt erschließen würde, ließ ihre Augen eine Sekunde lang in ungewohnter Freude aufleuchten. Das Bewußtsein jedoch, daß es Donna Ildefonsa zu verlassen galt, die sie so sehr geliebt, rief eine Traurigkeit in ihr hervor, welche durch die nächtliche Stunde und die Einsamkeit, sowie durch den Ernst des Ortes noch erhöht wurde.
Malwina wischte sich von Zeit zu Zeit eine Thräne aus dem Auge.
Da legten sich ganz unversehens zwei zarte, weiche Hände auf ihre Augen, und sogleich rief sie aus:
»Lina!« Und im selben Moment fühlte sie einen Kuß auf ihrer Wange und vor ihrem Blick zeigte sich ein hübsches Mädchenantlitz.
»Woran dachtest du, Malwina?«
»Ich dachte an den morgigen Tag. Was für ein Tag wird das für mich sein! Und dann die folgenden Tage und Jahre des neuen Lebens, das mich erwartet! … O Lina, du, die du noch eine Mutter besitzest, brauchst dir darüber keine Gedanken zu machen!«
»Was sprichst du da? Ich habe meine Mutter, das ist wahr; aber die Ärmste, wie viele Kümmernisse lasten auf ihr? Du weißt, wir sind in beschränkten Verhältnissen, und die arme Mutter muß sich viele Entbehrungen auferlegen, damit ich hier im Kloster eine Erziehung erhalte, wie sie unserem Stande entspricht. Wenn ich von hier fortgehe, werde ich wahrscheinlich gezwungen sein, eine Stelle als Erzieherin anzunehmen. Erzieherin, verstehst du? … Und doch giebt es keinen anderen Ausweg, wenn ich will, daß Mama ihren Lebensabend etwas behaglicher gestalten kann! Du hingegen besitzest große Reichtümer … O, beklage dich nicht! Du wärest undankbar gegen die Vorsehung!«
»Reichtümer! Was nützt der Reichtum, wenn die Liebe fehlt.«
»Bedenke, Malwina, was du sagst! Thue deinem Vater nicht unrecht. Er liebt dich.«
»Ich weiß nichts davon. Niemand weiß es. Bis jetzt hat er mir noch keinen Beweis davon gegeben. Wer kann es sagen, ob ich ihm nicht zur Last bin?«
Und sie fühlte ihre Kehle sich zusammenschnüren.
»Höre, Malwina. Es ist wahr; nachdem dir die Mutter fehlt, der kostbarste Schatz, den man auf der Welt sein eigen nennt, und Donna Ildefonsa dir nun auch entrückt wird, mag sich in deinem Herzen eine große Leere fühlbar machen; aber wenn du fortan in zärtlicher Liebe dich deinem Vater liebenswert, ja, ich möchte sagen, unentbehrlich zu machen verstehst; wenn du an seiner Seite weilst, durch deine Ergebenheit und deine Liebe ihm das Leben verschönernd, – so wirst du gewiß auch glücklich sein, dein Herz sich befriedigt fühlen. Erinnerst du dich des Themas, das uns der italienische Professor zur Schlußprüfung gab? ›Die Kunst, glücklich zu sein, besteht zum großen Teil darin, diejenigen glücklich zu machen, die uns umgeben.‹ Indem du das Glück deines Vaters dir zur Lebensaufgabe machst, sicherst du dir zugleich dein eigenes. Du wirst sehen, daß ich recht habe und du wirst mir darüber berichten; denn ich hoffe, wir werden uns zuweilen schreiben, nicht wahr?«
Malwina antwortete ihr mit einem warmen Kusse; dann stützte sie das Haupt auf ihre Hand und blieb in Gedanken versunken stehen.
Im Hintergrunde des langen Korridors sah man einen dunklen Schatten sich nähern. Der gemessene Schritt und die würdevolle Erscheinung ließen Donna Ildefonsa erkennen. Lina begriff, daß sie kam, um ihre Freundin zu holen, und um nicht zu stören, grüßte sie und verschwand in der entgegengesetzten Richtung.
Im nächsten Augenblick erfaßte dieselbe Hand, welche vor zwölf Jahren die Hand des kleinen Mädchens gedrückt hatte, dieselbe von neuem; aber sie schien die einer Toten, so kalt und so leblos.
Malwina wurde völlig von dem Gedanken eingenommen, daß sie nun für immer dieses edle Wesen, das ihr die Mutter ersetzt hatte, verlassen sollte; sie warf sich mit dem Ungestüm, das sie als kleines Kind gezeigt hatte, in die Arme der Nonne und brach in Schluchzen aus. Donna Ildefonsa führte das junge Mädchen in ihre Zelle und mit vor Bewegung zitternder Stimme sagte sie: »Malwina, der Kummer, den du fühlst, ist groß; aber derjenige, den ich empfinde, ist noch viel schmerzlicher, da ich mir sagen muß, daß du dir nun selbst überlassen sein wirst, ohne Stütze, in einem Alter, wo du derselben am meisten bedarfst; ohne irgend jemand, der dich versteht. Wie notwendig wäre dir jetzt die Mutter! Aber ich verliere den Mut nicht und vertraue dich dem lieben Gott an, der dich bis jetzt beschützt hat, der Mutter Gottes, die dich nicht verläßt, der eigenen Mutter, die immer für dich betet. Wenn du gut und fromm bleibst, wirst du aus dem bewegtesten Zeitabschnitt des Lebens, in den du eben jetzt eintrittst, siegreich hervorgehen. In den schwierigen Momenten deiner Existenz suche vertrauensvoll Hilfe im Gebete zu Gott und zur heiligen Jungfrau, und du wirst dich getröstet und gestärkt erheben. Nimm willfährig guten Rat an, und wenn du das Bedürfnis dazu fühlen solltest, wende dich an mich, die ich dich seit mehr denn zwölf Jahren als meine Tochter betrachtet habe. Laß es dir vor allem angelegen sein, das Leben deines Vaters zu erheitern; sei du selbst fröhlich und glücklich; aber vergiß den lieben Gott nicht; gedenke, daß er dein einziger Tröster ist. Er, der alles vermag, wird dein Beistand sein im Leid. Trachte, die Fehler zu bekämpfen, die ich stets an dir zu tadeln hatte und die ich bemüht war, aus deinem Herzen zu reißen, damit sie nicht mehr zum Vorschein kommen. Sei freundlich mit allen; beharrlich im Guten, in frommen Übungen, in guten Vorsätzen; laß dich durch nichts jemals der Pflicht entfremden. Geh' mein Kind, meine liebe, teure Malwina! Geh' und Gott segne dich!«
Die Glocke des Klosters rief mit ihrem eintönigen Klange alle zur Ruhe. Man hörte noch ein leises Geflüster unter den Zöglingen, die sich gegenseitig gute Nacht wünschten; man sah im dunklen Korridor die Nonnen in ihre langen weiten Mäntel gehüllt, in ihren Zellen verschwinden; man hörte das Geräusch der Thüren, die sich hinter ihnen schlossen, und dann versank alles in Schweigen.
Malwina verbrachte ihre letzte Nacht in dem Hause des Friedens und der ruhigen Freuden.
Der folgende Morgen ließ einen herrlichen Julitag ahnen. Nachdem Malwina zum letztenmal Donna Ildefonsa begrüßt und mit ihr am Fuße des Altars das Versprechen erneuert hatte, immer gut und fromm zu sein, betrat sie den Sprechsaal. Ein hochgewachsener Herr, in mittleren Jahren stehend, streckte ihr seine Arme entgegen, und sie warf sich zitternd und weinend an den Hals ihres Vaters. Auch er selbst war bewegt, und während er sie liebreich an sich drückte, versprach er ihr, daß er das Leben angenehm für sie gestalten und alles aufbieten wolle, um sie immer heiter und glücklich zu sehen.
Auf der Straße stampften die Pferde ungeduldig mit den Hufen. Vater und Tochter stiegen in den Wagen und entfernten sich von jener Stätte des Segens.