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Alberto Conti war achtundzwanzig Jahre alt, eine männlich schöne Erscheinung, von einnehmendem Wesen und sehr reich. Er besaß alle Eigenschaften, die einen Mann anziehend machen. Es schmeichelte den Damen, selbst den gefeiertsten, durch ein Lächeln von ihm ausgezeichnet zu werden. Seine Freunde wiederholten ihm beinahe täglich, daß er in seinem Alter und in seinen Verhältnissen nur zu wählen bräuchte unter den jungen Mädchen, und daß seine Wahl den Neid aller übrigen herausfordern würde. Da jedoch Conti stets das Gespräch wechselte, so oft man auf dieses Thema geriet, glaubten sie annehmen zu müssen, daß er entweder trübe Erfahrungen gemacht oder daß er eine Erwählte in Neapel habe, wo er sich zwei Jahre aufgehalten hatte.
Der junge Mann lachte herzlich bei dieser Vermutung. Er hatte eine Liebe, ja, in der That! Es war die Kunst, der er sich ganz geweiht hatte. Die Kunst und das Studium. Keiner von denen, die mit ihm verkehrten, wollten an eine wirkliche Leidenschaft seinerseits für diese hehre Göttin glauben; das heißt die Gefährten seiner müßigen Stunden. Die Künstler hingegen waren davon überzeugt, wenn sie ihn stundenlang vor irgend einem Gemälde stehen sahen, unbeweglich, mit leuchtenden Augen und begeisterten Zügen; da sah und hörte er nichts anderes mehr und gab verkehrte Antworten, wenn man ihn ansprach.
Zwei Tage vor dem Feste in Villafiorita hatte sich Conti, von Genua kommend, in Turin aufgehalten. Im Café Dilei war eine Herrengesellschaft versammelt, welche ihre Unterhaltung weit über die gewöhnliche Stunde ausdehnte.
In einer dunklen Ecke hob der schläfrige Kellner von Zeit zu Zeit sein Haupt, im stillen hoffend, daß die Herren endlich an die Heimkehr denken möchten; aber umsonst. Seine schweren Lider schlossen sich dann von neuem in unbezwinglicher Schlaftrunkenheit, und erschrocken fuhr der Ärmste jedesmal zusammen, sobald irgend eine Stimme die anderen übertönte.
Man hatte von Litteratur, Kunst und Frauen gesprochen.
»Dieses Mal,« sagte der Ingenieur Laurenzi, »dieses Mal kann mir keiner weis machen, daß Conti nicht ans Heiraten denkt! Freilich denkt er daran! Der Schlaue schweigt, aber er handelt. Ja, meine Herren, ich kann Ihnen die Gewißheit geben; in Vercelli spricht man von nichts anderem als von der bevorstehenden Heirat Contis.«
Alle hatten schweigend zugehört. Conti selbst, der seine Augen auf den Ingenieur gerichtet hatte, zuckte mit keiner Wimper.
»Und die Braut?« fragte er.
»Die mußt du selbst uns nennen.«
»Ich weiß nicht, wer sie sein könnte.«
»Soll ich sie nennen?«
»Gewiß.«
»Die Signorina … Arnaldi!«
»Ums Himmels willen!« rief Conti aus, indem er sich auf seinen Stuhl zurückwarf und seine Arme erhob; dabei brach er in ein so helles Lachen aus, daß der arme Jüngling, der in seiner dunklen Ecke schlief, entsetzt in die Höhe sprang.
»Das wäre doch nicht zum Verwundern? Es wurde mir sehr viel Gutes über diese Signorina gesagt. Warum solltest du sie dann nicht heiraten können?«
»Weil … weil … ich möchte sie nicht um alles Gold der Erde!«
»O! Aus welchem Grunde? Ist sie nicht schön und reich?«
»Sie ist sehr schön, und eben weil sie schön ist, sehe ich sie gern an; sie ist geistreich, und ich erfreue mich deshalb an ihrem Gespräche. Sie ist reich. Aber sie ist eitel und vergnügungssüchtig; sie hat so schnell und gut in der Schule ihrer Tante, der Frau Varelli, und ihrer Cousinen, der frivolsten Geschöpfe, die ich kenne, gelernt, daß, wenn sie anstatt der vier Millionen, die sie besitzt, sechs oder acht hätte, ich sie dennoch niemals zu meiner Frau erwählen würde. Und dann … ich bin frei; ich bin erst achtundzwanzig Jahre alt. Warum soll ich mich so bald binden? Ich will meine Freiheit noch genießen. Nein, nein! Noch bedarf ich keiner Frau im Hause!«
»Recht so, Conti! gut gedacht! Dennoch ist es schade, daß du die günstige Gelegenheit versäumst, dir eine so schöne und geistreiche Frau zu sichern! Wenn du gar so wählerisch bist, wirst du in hundert Jahren noch nicht verheiratet sein!«
»Dann bleibe ich eben allein; ich will durchaus eine Frau, die in mir den Gatten liebt, und nicht den Mann, der sie zu Bällen und Festen begleitet. Nein, nein! Ich will eine Frau, die ihre Häuslichkeit und nicht die Vergnügungen liebt. Fräulein Arnaldi sieht man sehr wenig zu Hause; auf Bällen und Unterhaltungen fehlt sie kein einziges Mal. Meine Freunde, sollte einer unter euch auf sie reflektieren wollen, so möge er sein Glück versuchen. Ich habe andere Absichten. Wenn ihr wollt, bin ich gern bereit, für euch zu vermitteln. Übermorgen gehe ich nach Vercelli. Die jungen Palmieris geben ein großes Fest in Villafiorita, ich werde sie sicher dort treffen.«
»Du mit deinen Geldsäcken kannst dir alle möglichen Spässe erlauben,« sagte der Leutnant Mandini, Bruder der Frau Bera, der auch von der Gesellschaft war.
»Weil ich gerade daran denke, was soll ich deiner Schwester ausrichten?«
»Sag' ihr, daß sie die Signorina Arnaldi für mich im Auge behalten soll. Ich will mich mit ihrer Mitgift zufrieden geben.«
»Und das Gemälde der Addolorata in San …? Bist du hingegangen, es dir anzusehen?«
»Nein.«
»Wo bist du heute den ganzen Tag gewesen?«
»In der Akademie. Ich mußte meinen Freund hinbegleiten, den ich euch heute früh vorstellte.«
»Versäume doch nicht, noch hinzugehen, ehe du abreisest.«
»Wenn es mir möglich ist! Wer weiß!«
Endlich erhob sich die Gesellschaft. Der arme Verschlafene in seinem Winkel war mit einem Sprunge auf den Beinen. Die Herren entfernten sich; es war Zeit! Er eilte schleunigst an die Thür, um dieselbe mit einer Verbeugung zu öffnen. Die jungen Männer drückten einander die Hände und trennten sich.
Man hörte noch eine Weile das Sporenklirren der einen und die eiligen Schritte der anderen auf dem Pflaster; dann trat wieder tiefe Stille ein.
Der nächste Tag brach grau und trübselig an. Conti war spät aufgestanden, hatte sich den bewölkten Himmel angesehen und eine Cigarre angezündet; auf dem Diwan ausgestreckt, verfolgte er die Rauchwölkchen, wie sie sich in der Luft des Zimmers verloren.
Er hörte die Stunde schlagen und zog seine Taschenuhr heraus. Es war zehn Uhr. Hatte er sich auch spät erhoben, lag doch noch viel Zeit vor ihm, um sich zu langweilen. Bis zur Zusammenkunft mit dem Freunde, den er sprechen wollte, hatte er noch eine gute Weile zu warten. Vor zwei Uhr würde derselbe nicht kommen, ihn abzuholen. Was sollte er in der Zwischenzeit anfangen? Er nahm sich vor, ein wenig auszugehen, und bis zwölf Uhr zum Essen ins Hotel zurückzukehren. Abends wollte er dann in Vercelli eintreffen, und den nächsten Morgen sich nach Villafiorita begeben. Er stand auf, nahm Hut und Stock und verließ das Haus. Welch düsterer Himmel! Es schien, als ob es jeden Moment regnen wollte.
»Ich hätte besser gethan, zu Hause zu bleiben,« dachte er bei sich.
Aber zu Hause hatte er nicht einmal ein Buch zur Verfügung. Er durchschritt die Bogengänge, ohne zu wissen, wohin ihn der Weg führe; plötzlich fand er sich einer Kirche gegenüber und er erinnerte sich, daß man am vorigen Abend von einer Statue gesprochen hatte, die in eben derselben Kirche zu sehen war.
Er trat ein. Es war sehr dunkel, und im ersten Moment vermochte er nicht das Geringste zu unterscheiden. Er blieb stehen, um das Auge an dieses Dunkel zu gewöhnen; nach und nach traten auch die Wölbungen und Pfeiler aus dem tiefen Schatten hervor. Keine lebende Seele war zu sehen, und konnte er sich somit ganz nach Wunsch einer genauen Betrachtung der Madonna hingeben, die in der rechten Seitenkapelle stand.
Geräuschlosen Schrittes wandte er sich der Richtung zu. Es herrschte eine Grabesstille, und Conti näherte sich auf den Fußspitzen der Statue. Sie war in der That herrlich, diese ›Addolorata‹, die schmerzhafte Mutter! Der Ausdruck, die ganze Gestalt hatte etwas so tief Trauriges, so unsagbar Schmerzliches, daß es ihn mit Gewalt ergriff und zugleich begeisterte.
Conti, mit seiner Liebe für die Kunst, blieb lange vor diesem Meisterwerke in Bewunderung versunken, ohne sich der Zeit bewußt zu werden. – Plötzlich wurde er durch ein Schluchzen zur Gegenwart zurückgerufen. Er wandte sich ganz erstaunt um, sah jedoch niemand; er lauschte, alles war still. An den Seitenwänden der Kapelle fielen ihm jedoch einige Grabsteine in die Augen; wahrscheinlich war hier die Ruhestätte der Wohlthäter dieser Kirche. »Sollte es wahr sein, daß die Seelen der Verstorbenen auf diese Erde zurückkehren, wenn sie der Fürbitten bedürftig sind?« dachte Conti.
Ein Schauer überlief ihn, und es wollte ihn nahezu ein Gefühl der Furcht anwandeln; dennoch rührte er sich nicht vom Platze. – Wäre es möglich! Ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren sich von der Einbildung schrecken zu lassen! …
Und von neuem heftete er seine Blicke auf die Statue, während er fast unbewußt in seinem Gedächtnisse nach einem Gebet für die Verstorbenen suchte. Einst kannte er das De profundis … » De profundis … clamavi ad te, Domine … Domine …« Weiter konnte er sich dessen nicht mehr erinnern. Es waren so viele Jahre vergangen, seitdem er es nicht mehr gebetet hatte! Seit er aus dem Kolleg getreten war! Mit einer gewissen Andacht fing er das Ave Maria an.
Als er am zweiten Teil angekommen war, hörte er wiederholtes Schluchzen.
»Es muß jemand hier sein,« sagte er zu sich. »Ich täusche mich nicht.«
Leise durchschritt er den Bogen, der die Kapelle der Schmerzhaften Mutter Gottes vom Hauptaltar trennte, und bemerkte in einer dunklen Ecke einen noch dunkleren Gegenstand.
Conti näherte sich mit der größten Vorsicht, ohne Geräusch, und sah zu seinem größten Erstaunen eine weibliche, in tiefste Trauer gehüllte Gestalt. Man hätte sie für eine Witwe halten können, wenn die zarten, schlanken Formen sie nicht als ein junges Mädchen von Stand verraten hätten.
Sie rührte sich nicht; nur ließ sie, in dem Glauben, vollkommen allein zu sein, von Zeit zu Zeit einen Seufzer oder ein Schluchzen vernehmen.
Conti, nur wenige Schritte von ihr entfernt, beobachtete sie, an einen Pfeiler gelehnt, um sich sofort verbergen zu können, wenn sie sich erheben würde. Neugierde war nie sein Fehler gewesen. Diesen Morgen jedoch fehlte ihm Arbeit und Zerstreuung; vor zwölf Uhr würde die Unbekannte sicher die Kirche verlassen, und er wollte sie sehen. Das junge Mädchen machte indes keine Anstalten zum Gehen. Conti hatte schon mehrmals seine Uhr herausgezogen; die Turmuhr schlug elf Uhr, dann halb zwölf. Er wechselte öfters seine Stellung, betrachtete und studierte den Stil des Gotteshauses, die Gemälde, die Decke, dabei immer wieder den Blick nach der Fremden richtend, die sich nicht bewegte. Nachdem sie zu schluchzen aufgehört hatte, nahm sie das Taschentuch von den Augen, und ihr Gesicht in den Händen vergrabend, blieb sie neuerdings unbeweglich; es war, als schliefe sie. Aber nein, sie schlief nicht; es konnte nicht sein. Nach diesem Schmerzesausbruche, in dieser unbequemen Stellung, war es rein unmöglich.
Auch ihm wurde das fortgesetzte Stehen unbehaglich; er bemerkte eine Bank hinter sich, auf die er sich niederließ, das Haupt nach vorne gebeugt, um die Unbekannte nicht aus dem Auge zu verlieren, die nun nicht lange mehr zögern konnte. Es war gleich zwölf Uhr; sie mußte doch zur Mittagszeit nach Hause zurückkehren. Aber bereits läutete es von allen Kirchen den Englischen Gruß, und noch rührte sie sich nicht. Conti fing an, die Geduld zu verlieren; es war doch recht thöricht von ihm, da stehen zu bleiben als Wache dieser schwarzen Gestalt, von der er gar nicht wußte, wer sie war! Nichtsdestoweniger wollte er ausharren.
Mit seiner Geduld war es jedoch zu Ende, als er halb ein Uhr schlagen hörte; rasch entschlossen stand er auf, und mit festem Tritt, ohne eigentlich zu wissen, was er vorhabe, näherte er sich dem jungen Mädchen und sagte leise: »Signorina!«
Das Mädchen erhob das Haupt, und vor den erstaunten Blicken Contis erschien ein zartes, blasses Antlitz, aus dessen dunklen Augen ein so tiefer, stummer Schmerz zu ihm sprach, daß er sein Mitleid aufs höchste erregt fühlte; er war bis zu Thränen gerührt. Ein schweres Unglück mußte dieses Kind getroffen haben.
Von dem Wunsche beseelt, etwas darüber zu erfahren, fuhr er fort: »Es ist zwölf Uhr vorüber. Gehen Sie nicht nach Hause? Ihre Familie wird Sie erwarten.«
»Meine Familie! O, mich erwartet niemand mehr. Ich bin ganz allein!« Und dabei brach sie in ein so herzzerreißendes Schluchzen aus, daß Conti trotz aller Bemühungen, fest zu bleiben, sich der Thränen nicht erwehren konnte.
»Wie, ganz allein?«
Und dabei betrachtete er sie, wie sie in ihren Trauergewändern und dem Schleier, der sie einhüllte, auf den Stufen kniete.
Die Arme erwiderte: »Soeben hat man meine Mutter begraben. Meine Mutter ist gestorben! Ich bin allein, ganz allein …«
Und sie begann von neuem zu weinen.
Es war zu traurig. Conti war tief bewegt.
Allein, in diesem Alter! Das mußte schrecklich sein!
»Ganz allein?« wiederholte er nach kurzer Pause. »Haben Sie denn keine Verwandten, keine Freunde?«
Das junge Mädchen, dem die aufsteigenden Thränen die Kehle zuschnürten, schüttelte den Kopf.
»Mein Fräulein, weinen Sie nicht so sehr. Glauben Sie mir, Sie schädigen dadurch Ihre Gesundheit.«
»Was kümmert mich das? Niemand wird meinen Tod beweinen.«
»Sprechen Sie nicht so, Fräulein, und erlauben Sie mir, Sie nach Hause zu begleiten. Sie können doch nicht den ganzen Tag hier bleiben.«
Er nahm sie sanft bei der Hand, half ihr sich erheben, ordnete ihren Schleier und reichte ihr das auf den Boden gefallene Taschentuch.
»Sie kann kein gewöhnliches Mädchen sein,« dachte Conti, als er sie der Kirchenthüre zuschreiten sah, langsamen Schrittes, mit einer angeborenen Anmut in Haltung und Bewegungen.
Nachdem sie draußen im Freien waren, und sie sich gegen Conti wandte, um ihm zu danken und ihn zu verabschieden, sagte er: »Möchten Sie mir Ihre Adresse angeben, Fräulein, damit ich sie dem Kutscher mitteile. Sie müssen nach Hause fahren.«
Dabei gab er einem in der Nähe stationierenden Fiakerkutscher ein Zeichen, vorzufahren.
»Ich danke,« antwortete das Mädchen, »ich gehe lieber zu Fuß.«
»Nein, das erlaube ich nicht; der Wagen ist da; bitte, einzusteigen.«
Er öffnete den Schlag und nötigte die junge Dame, Platz zu nehmen, während er ein Geldstück in die Hand des Kutschers gleiten ließ. Sie hatte weder Zeit gefunden, Einwände zu machen noch zu danken, als der Wagenschlag bereits hinter ihr geschlossen wurde. Da erinnerte sie sich, daß sie ihre Wohnung noch nicht angegeben hatte; sie rief den Kutscher an, um ihm dieselbe mitzuteilen, und der Wagen rollte schleunigst weiter.
Conti war auf dem Kirchenplatze geblieben, um dem sich entfernenden Gefährte nachzusehen. Da kam ihm plötzlich ein erleuchteter Gedanke. Es genügte ihm die vollzogene gute That nicht; er wollte noch weiter gehen, er wollte Näheres über das arme Kind erfahren.
Er rief einen anderen Kutscher an und sagte ihm: »Seht Ihr den Wagen, der soeben fortgefahren ist?«
»Ja, mein Herr.«
»Folgt ihm.«
Und er stieg eilends ein.
Der erste Wagen hielt vor einem hübsch aussehenden Hause. Das junge Mädchen stieg aus und verschwand im Eingang. Conti notierte sich Straße und Hausnummer, und gab dem Kutscher Befehl, nach dem Hotel Bologna zu fahren.
Er erreichte dasselbe gerade zur Essenszeit, allein er fühlte nicht die mindeste Lust, etwas zu genießen. Die vergangenen Stunden hatten in ihm eine ungewohnte Schwermut hervorgerufen. Er ging einigemal im Saale auf und ab, setzte sich dann nieder und nahm eine Zeitung zur Hand. Er konnte ihr kein Interesse abgewinnen; es fehlte ihm die richtige Sammlung dafür. Er sah beständig jene schwarzgekleidete Gestalt vor sich, das blasse Antlitz, den traurigen Blick.
Und wenn sie wirklich niemand mehr hätte! …
Und wenn sie noch dazu arm wäre!
Er strich mit der Hand über die Stirn, als versuche er, diese trübseligen Gedanken zu verscheuchen, die ihm sogar den Appetit raubten. Es mußte das Wetter sein, das ihn so beeinflußte; wenn es wenigstens zum Regnen käme; aber dieser Nebel, dieser bleierne Himmel; es war unerträglich!
Es schien außer Zweifel: Conti war entweder krank oder im Begriffe, es zu werden. Wie oft brüten kleine Unbehagen ernste Krankheiten aus!
Das Unbehagen wich jedoch sofort, als Conti nach der Zusammenkunft mit seinem Freunde zum Portier des Hauses eilte, in welches das junge Mädchen in Trauer eingetreten war, und dortselbst erfuhr, daß sie die Tochter des Obersten Boschis sei, daß sie jetzt auch ihre Mutter verloren habe, und nun ganz allein in der Welt stehe mit Ausnahme einer Cousine in Mailand, eines alten Fräuleins, welches versprochen hatte, das Mädchen zu sich zu nehmen, bis jetzt aber noch nicht gekommen war.
»Es ist wirklich zu traurig,« hatte der Portier hinzugefügt, »daß ein so vorzügliches, tugendhaftes Fräulein, Tochter hochgeschätzter Eltern, so unglücklich sein muß! Der Schmerz, ihr Kind allein zurücklassen zu müssen, beschleunigte das Ende der armen Dame, die unsäglich unter diesem Gedanken litt. Viele Damen ihres Bekanntenkreises boten sich an, das Fräulein während der ersten Tage bei sich aufzunehmen, bis die Verwandte käme, aber Fräulein Boschis konnte sich nicht dazu entschließen, und mit Recht. Sie werden begreifen, daß sie doch in ihrer Wohnung bleiben mußte, um alles zu ordnen und sich zur Reise mit der alten Cousine vorzubereiten, die niemals eine Nacht außerhalb ihres Hauses zubringen will. Die Dame soll sehr sonderbar sein; alles muß sich ihrem Willen beugen. So bildet sie sich zum Beispiel ein, nicht einen einzigen Tag hier zubringen zu können; bei ihrer Ankunft soll das Fräulein fix und fertig und zur sofortigen Abreise gerichtet sein; denn mit dem nächsten Zuge will sie wieder nach Mailand zurückfahren. Sie zögert mit ihrem Erscheinen, um dem Fräulein die nötige Zeit zu den Vorbereitungen zu lassen.«
Conti dankte dem Portier, der ihm mehr mitgeteilt hatte, als er zu hoffen wagte; und anstatt seinen Entschluß auszuführen, denselben Abend nach Vercelli abzureisen, blieb er in Turin. Er bemühte sich, die Ankunft der alten Cousine in Erfahrung zu bringen, und als er hörte, daß sie gekommen sei, packte er eiligst seine Koffer und machte sich zur Abfahrt bereit. Und dies war der Grund, warum er sich nicht in Villafiorita eingefunden hatte.