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Nachdem Lina Boschis, am Grabe ihrer Mutter stehend, der teuren Hülle ein letztes Lebewohl nachgesandt und den Freunden und Bekannten, die als Zeichen ihrer Teilnahme der geliebten Verstorbenen das Geleite gegeben hatten, mit einem stummen Neigen des Hauptes und überströmenden Augen gedankt hatte, war sie hinausgetreten aus der geweihten Stätte; und schnell in den Wagen steigend, ließ sie, in eine Ecke geschmiegt, ihrem grenzenlosen Schmerze freien Lauf. Als der Wagen hielt, schaute sie einen Moment ganz verloren um sich; dann stieg sie mechanisch die Treppe hinauf. Diese Räume, noch kurze Zeit zuvor durch die Gegenwart ihrer Mutter belebt, waren nun öde und leer. Die Mutter, die ihr gewöhnlich entgegengekommen war mit lächelndem Angesicht, die immer ein liebevolles, zärtliches Wort für sie gehabt hatte, die ihr bescheidenes Leben stets zu erleichtern und zu erheitern bestrebt gewesen, war nicht mehr da! Was würde sie so allein beginnen? Sie wäre allerdings nur kurze Zeit allein für sich, weil die Cousine Gertrud kommen würde … Aber, was für Tage erwarteten sie in deren Gesellschaft! Sie kannte sie kaum, da sie dieselbe erst ein einziges Mal gesehen hatte, schon vor vielen Jahren, als noch der teure Vater lebte. Dieses eine Mal hatte jedoch genügt, um ihr ein nichts weniger als freundliches Andenken zu hinterlassen. Sie erinnerte sich noch so gut. Es war der Vorabend ihres Eintrittes ins klösterliche Institut, und Papa und Mama hatten sie nach Mailand begleitet, um dortselbst einige nötige Einkäufe zu machen. Vor ihrer Abreise hatte die Mutter an die Cousine Gertrud geschrieben und sie aufgefordert, einige Wochen bei ihnen zu verleben, mit der Bemerkung, daß sie sich reisefertig machen möchte, um mit ihnen nach Lodi zurückzufahren (wo sie damals wohnten), sobald Lina im Kloster untergebracht wäre.
Als die Familie Boschis in Mailand ankam, fand sie am Bahnhofe die Cousine ihrer harrend. Auf Lina hatte diese lange, steife und hagere Frau, mit den dunklen Augengläsern auf der Nase, dem endlos langen Kleiderrock und einem Kragen, der nur auf der linken Schulter hing und die rechte frei ließ, einen nicht sehr sympathischen Eindruck gemacht. Auf dem Kopfe trug die Cousine eine Haube, deren lose Bänder nach rückwärts hingen. Über die Haube war ein Schleier geworfen; auf dem rechten Arm trug sie einen großen Shawl und in der Hand einen riesigen Schirm, trotzdem kein Regen drohte, und neben ihr stand ein großer Handkoffer.
Die Mutter hatte sie erstaunt betrachtet; sie konnte nicht verstehen, was dieser Koffer und die ganze Ausstattung bedeuten sollte und fragte: »Gehst du fort?«
»Gewiß.«
»Wohin denn?«
»Ich gehe doch zu euch. Hast du mir nicht geschrieben, daß ich nach Lodi kommen soll?«
»Ja, sicher. Aber ich bleibe hier über Nacht. Ich muß mehreres für Lina besorgen, die erst morgen ins Institut eintritt.«
»So? Ich hingegen habe verstanden, daß du gleich wieder zurückreisen würdest. Dementsprechend habe ich alles eingerichtet und war meiner Sache so sicher, daß ich meine Dienerin, die mich herbegleitet hat, nach Hause geschickt habe.«
»Wir selbst werden dich nach Hause begleiten. Morgen werden wir dann alle drei nach Lodi abreisen.«
»Ich will aber sogleich fort; wenn ich nach Hause zurückkehre, so ist es, um dort zu bleiben, weißt du! Die Unruhe und Sorge, die mich die ganze Nacht durch und heute früh gequält haben, möchte ich morgen nicht wieder erleben, sonst würde ich darüber krank werden. Nein, nein; ich gehe nicht mehr nach Hause zurück.«
Und dabei fing sie an, zu weinen und zu schluchzen wie ein Kind.
Alles blickte auf sie; man hätte meinen können, es sei ihr das schwerste Unrecht zugefügt worden.
Vater und Mutter waren einen Augenblick wie versteinert. Was thun? Frau Boschis hatte sich indes schnell gefaßt und sich an ihren Gatten wendend, sagte sie: »Es ist unmöglich, die Cousine allein reisen zu lassen. Da ich meiner Einkäufe wegen gezwungen bin, hier zu bleiben, wäre es wohl das beste, wenn du mit ihr nach Lodi führest.«
»Und du willst allein zurückreisen?«
»Was bleibt mir anderes übrig? Was liegt auch schließlich daran?«
Und dieser Vorschlag wurde auch ausgeführt.
Als sich Lina dieser Scene erinnerte, die sie in vergangenen Zeiten oft so herzlich lachen machte, wenn sie des fremdartigen Aussehens der Cousine und der bizarren Launen gedachte, die jenes fünfzigjährige Kind auf dem Bahnhofe von Mailand in Gegenwart so vieler Leute zum besten gegeben, da kamen ihr die Thränen aufs neue.
»Und mit diesem Wesen soll ich jetzt mein Leben verbringen! O Mama, Mama! warum hast du mich verlassen? O, hilf mir wenigstens, es zu ertragen!«
Sie warf sich auf den Diwan und brach in lautes Weinen aus. Nach und nach beruhigte sie sich jedoch und wurde sich der Stille bewußt, die um sie herrschte. Von einer unbezwinglichen Angst erfaßt, stand sie auf. Da sie noch nicht abgelegt hatte, verließ sie das vereinsamte Haus und trat in die erste Kirche ein, die auf ihrem Wege lag. Sie war völlig leer und es herrschte darin eine noch tiefere Stille als zu Hause. Doch sagte ihr der Glaube, daß sie in der Gegenwart Gottes sei. Sie kniete in dem dunkelsten Winkel nieder und blieb da mehrere Stunden in sich versunken, dessen unbewußt, was um sie vorging, sich selbst, die Zeit, sogar ihren Schmerz vergessend.
Als jener fremde Herr sie anredete, fühlte sie ihr Gesicht in Thränen gebadet, ohne eigentlich zu wissen, warum; aber sofort, als der Unbekannte sie an das Heimgehen mahnte, kehrte das Bewußtsein ihres grenzenlosen Schmerzes zurück.
Zwei Tage später entstieg dem Mailänder Zug eine Dame, in einen großen Kragen gehüllt, mit dunklen Augengläsern auf der Nase, den Shawl am Arme und einen riesigen Schirm in der Hand. Eine Frau mit einer großen, aber ziemlich leeren Reisetasche folgte ihr. Diese letztere nahm von Zeit zu Zeit den Arm ihrer Herrin, um sie von einem vorübereilenden Wagen oder Karren wegzureißen, oder sie von einer daherkommenden Trambahn oder einem vorübersausenden Velociped zu retten, für welche Hilfeleistungen sie jedesmal einen Verweis erhielt.
»Immer ärgerst du mich!« sagte sie dann; »ich sehe doch selbst ganz gut.«
Und hätte in demselben Augenblicke diese Hand nicht von neuem sie am Arm gefaßt und zurückgezogen, würde sie mit ihrer Nase an eine Säule des Portikus oder an das Schaufenster eines Uhrmachers gestoßen haben; trotz alledem folgte jedesmal derselbe Vorwurf: »Unausstehliche! Ich sehe besser als du.«
Lina war eben beschäftigt, ihren Koffer zu schließen, als sie die Glocke läuten hörte; sie öffnete und sah ihre Cousine vor sich. Sie wollte sie umarmen; Fräulein Gertrud jedoch stieß sie zurück, indem sie ausrief: »Siehst du denn nicht, daß ich mehr tot als lebendig bin? Willst du mir noch das bißchen Atem rauben?«
Nach Luft ringend, warf sie sich auf den Diwan mit der Miene einer Sterbenden, während sie ihre Rechte auf die Brust drückte, gleichsam als wollte sie die Schläge ihres Herzens beruhigen. Lina glaubte wirklich, daß sie am Sterben sei und war voll Angst und Sorge; die Begleiterin jedoch zog sie beiseite und flüsterte ihr zu: »Sorgen Sie sich darüber nicht im geringsten. Sie werden gleich sehen, wie sie sich erholt und besser zu Kräften kömmt, als Sie selbst, Fräulein.«
In der That hatte sie noch nicht ausgesprochen, als die Cousine Gertrud ihre gewohnte Haltung annahm, und mit starker Stimme, die keineswegs aus einer schwachen oder kranken Brust hervorzukommen schien, sagte: »Ist irgendwo ein Fenster auf? Und ich bin so erhitzt! Hast du gar keinen Verstand, Lina? Du wärest imstande, mich einer Erkältung auszusetzen, die mich ans Grab führen würde.«
Lina beeilte sich, das Fenster zu schließen, als die Cousine fortfuhr: »Diese hohen Stiegen, und meine zarte Gesundheit!«
Und sie nahm die vorige leidende Miene wieder an.
»Wünschen Sie Kaffee?« fragte Lina mit schüchterner Stimme.
»Kaffee? Kaffee für mich? Der Himmel bewahre mich davor! Da bekäme ich eine schöne Nervenkrise! Ich brauche etwas Stärkendes: Chartreuse oder dergleichen.«
Lina fand glücklicherweise noch ein Restchen Likör, das sie eiligst ihrer Cousine vorsetzte.
»Und was wünschen Sie zum Mittagessen, Cousine?«
»Zum Mittagessen! O, beim Himmel, willst du mich ins Jenseits befördern? Weißt du nicht, daß ich nie zu dieser Zeit esse? Es ist schon viel, wenn ich mich wohl genug fühle, um ein leichtes Gabelfrühstück einzunehmen. Weißt du nicht, daß ich leidend bin, daß mein Magen schwach ist?«
»Dann nehmen wir ein Gabelfrühstück ein, wie Sie es wünschen; ich werde etwas Kräftiges zubereiten, was Sie ohne Beschwerden essen können; zum Beispiel ein recht zartes Beefsteak?«
»Ein Beefsteak! Mein Gott! ein Beefsteak! Aber, Lina, du verlierst ja den Kopf! Wie willst du, daß ich, leidend wie ich bin, ein Beefsteak esse! Lina, Lina, ich hielt dich für viel vernünftiger!«
»Vielleicht ein paar Eier?«
»O Himmel! Eier, in meinen Magen!«
Und sich erhebend, breitete sie zwei lange, dürre Arme aus, um das Erstaunen und den Unwillen über den gemachten Vorschlag auszudrücken.
Sogleich war ihre Begleiterin ihr zur Seite, damit sie sich nicht an den Tisch stoße, der vor ihr stand; aber Fräulein Gertrud wandte sich schnell um und sagte empörten Tones: »Laß mich in Ruhe! Du weißt, daß ich besser sehe als du.«
Lina betrachtete stumm dieses Original einer Cousine, die nicht gut sah und doch zu sehen behauptete, die ganz gesund war und sich einbildete, krank zu sein, die mehr Kraft als andere besaß, wenn es galt, zu zanken und zu brummen, und am Sterben zu sein schien, wenn sie schwieg.
Als sie bemerkte, daß die Cousine bemüht war, ihre Haube abzunehmen und damit nicht zurechtzukommen schien, wollte sie ihr behilflich sein; sie entzog sich ihr jedoch mit den Worten: »Was nicht gar! Das kann ich ganz gut, laß mich nur selbst machen. Richte dich einstweilen zusammen, denn wir werden mit dem nächsten Zuge nach Mailand abfahren.«
Lina verfügte sich in den Nebenraum, um alles in Bereitschaft zu setzen. Plötzlich hörte sie eine zornige Stimme rufen: »Nun laßt sie mich hier allein, als ob ich von gar keinem Belang wäre! Lina, ich glaubte dich besser erzogen; was haben sie dich denn im Kloster gelehrt? Das ist eine schöne Erziehung, welche dir deine Damen gegeben haben! Das muß ich sagen! Lina, das ist nicht in der Ordnung.«
»Verzeihen Sie, Cousine, haben Sie nicht gesagt, daß Sie heute noch abreisen wollen?«
»Ganz richtig; aber du solltest schon alles vorbereitet haben; ich hatte dich benachrichtigt.«
»Und wollen Sie wirklich nichts zu sich nehmen?«
»Immer mit dem Essen! Als ob ich an nichts dächte, als mich zu Tisch zu setzen! Ich, die ich nichts essen kann, weil mir alles schadet!«
Linas Augen füllten sich mit Thränen und sie schaute die Dienerin an, als wollte sie dieselbe fragen, was sie thun sollte. Die Frau führte sie ans Fenster und sagte leise: »Fräulein, bekümmern Sie sich nicht um das, was sie sagt, und thun Sie, was Sie für gut halten. Sie ist einmal so. Sie muß immer etwas zu rügen haben. Achten Sie nicht darauf. Sie werden sehen, daß Ihre Cousine bei Tische das Ihrige leistet.«
Lina, deren Mutter sie stets mit so viel Liebe und Güte behandelt hatte, die sich nie über irgend etwas beklagte und immer befriedigt war von dem, was ihre Tochter für sie that, die bis zu den letzten Tagen, um diese nicht zu betrüben, ihre Schmerzen mit Heldenmut beherrschte, – fühlte jetzt, in der Nähe dieser Cousine alle Energie, alle Kraft, mit der sie sich bewaffnet hatte, schwinden. Und doch mußte sie sich fügen und noch Gott danken, daß die Cousine sich nicht geweigert hatte, sie zu sich zu nehmen.
Einige Stunden später, nachdem alles zur Abfahrt bereit war, und Lina noch zum letztenmal diese Räume durchging, in denen sie so viel Glück genossen und so viel Schmerz gelitten hatte; diese Zimmer, die einst von der Gegenwart ihrer Mutter belebt und erheitert waren, in welchen sie deren Stimme gehört und wo sie die Teure zum letztenmal gesehen, – da konnte sie die Thränen nicht mehr zurückhalten. Die Cousine Gertrud, die es bemerkte, rief erzürnt aus: »Verweichlichte Jugend! In deinem Alter hatte ich niemand mehr, nicht einmal eine Cousine, die mich zu sich genommen hätte, und dennoch bin ich ganz gut durchgekommen. Zu nichts fähig zu sein als zum Jammern und Weinen! Vorwärts, vorwärts! Wir wollen aufbrechen! Mit deinem Gewinsel werden wir noch den Zug versäumen. Das fehlte noch, daß ich gezwungen wäre, in Turin zu übernachten! Das könnte ich nicht ertragen; ich habe keine Gesundheit zum Wegwerfen! Fort, fort!«
Und sie wollte sich durchaus auf den Weg zum Bahnhofe machen, obwohl noch eine gute Stunde Zeit blieb.
Als sie den Waggon bestiegen hatten und die Cousine Gertrud zu verschiedenen Malen Lina und die Begleiterin, die sie auf dem Wege aus manchen gefährlichen Lagen befreiten, Vorwürfe gemacht hatte; nachdem sie sich überzeugte, daß die Fenster geschlossen waren, daß sie den Shawl über dem Arm, den Schirm zur Seite hatte und die Reisetasche in sicherer Obhut war, ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer auf ihren Sitz fallen, indem sie sich laut beklagte, daß ihr Zustand derartigen Strapazen nicht gewachsen sei und daß sie gewiß den nächsten Tag erkranken würde.
Lina, die sich in eine Wagenecke am Fenster gedrückt hatte, mit Augen, die von den vergossenen Thränen schmerzten, hörte stillschweigend und mit verhaltenem Atem diese Vorwürfe an, die natürlich ihr, als Ursache dieser Störungen, galten, und ihr Herz krampfte sich zusammen vor Bangigkeit und Leid. Sie hoffte, daß die Cousine endlich schweigen würde. Aber, sei es, daß die Langweile des Wartens das alte Fräulein noch mehr in Zorn versetzte, oder daß sie die Vermutung reizte, daß Lina, die ihr kein Wort entgegnete, ihr keine Aufmerksamkeit schenke – Thatsache war, daß die Cousine fortfuhr, die unzähligen, durch die aufgezwungene Reise hervorgerufenen Unbequemlichkeiten und Leiden aufzuzählen. Sie unterbrach sich selbst dann nicht, als sie bemerken mußte, daß ein Herr einstieg und an ihr vorüberschreitend, sich auf den Lina gegenüber befindlichen, freien Platz begab, da alle übrigen vom Gepäck belegt waren.
Lina hatte nicht gewagt, die Augen zu erheben, weil sie voll Thränen waren; sie zog den Schleier vor, und unter dessen Schutz trocknete sie dieselben; dann nahm sie unbemerkt den Rosenkranz ihrer Mutter aus der Tasche und betete ihn mit besonderer Andacht. Dieses fromme Beten that ihr wohl. Wenn sie auch anfangs die Ave Maria etwas mechanisch hersagte, weil ihr Gehör von dem Zanken und Klagen der Cousine noch eingenommen war, beruhigte sich doch allmählich ihr Gemüt und sie dachte so innig an ihre Mutter, die sie so geliebt hatte, daß es ihr war, als ob sie auch ferner von ihr behütet und unterstützt würde. Und das gab ihren Gedanken eine tröstliche Richtung. In der Überzeugung, daß ihr Beten der Seele der Verstorbenen zur Erleichterung gereiche, fühlte sie sich zu größerer Inbrunst angespornt und empfand einen besonderen Trost bei den Worten: »Mutter Gottes, bitte für uns!« Und diese Bitte, immer wiederholt, flößte ihr die Hoffnung ein, daß sie Erhörung finden möchte. Die heilige Jungfrau würde ihr Ohr nicht verschließen. Die Rosenkranzperlen fielen langsamer, ihr Herz wurde ruhiger, ihr Gemüt ganz zum Himmel gezogen.
Lina, die voll Glauben betete, war überzeugt, daß die Mutter Gottes ihrem Gebete lausche, und fühlte einen ungekannten, süßen Frieden sich in ihr Herz senken. Ihre Mutter da oben vereinigte sich mit ihrem eigenen Gebet; darüber konnte kein Zweifel bestehen! Unter dem Schutze der himmlischen Mutter und derjenigen, die sie auf Erden verloren, eröffnete sich ihr das Leben unter einem völlig neuen Gesichtspunkte.
Nach dem Beten des Rosenkranzes war sie eine ganz andere geworden. Sie steckte den Rosenkranz ein, schlug den Schleier zurück und betrachtete die Cousine. Müde von der Reise, hatte sie zu zanken aufgehört und war eingeschlafen. Diese Züge schienen Lina nicht mehr so hart; um die Lippen bemerkte sie sogar einen nichts weniger als strengen Zug, und auf der Stirne war eine tiefe gerade Furche. Diese Falte, die sie als Zeichen von Härte angesehen hatte, war vielleicht im Gegenteil das eines verborgenen Kummers. O nein! sie konnte nicht wirklich böse sein. Vielleicht waren diese Augen nur durch zu vieles Weinen halb erblindet? Ihre, Linas Pflicht war es jetzt, diese Wolken der Traurigkeit zu verscheuchen, diese Stirn zu glätten, die letzten Jahre dieses freudenlosen Lebens zu erheitern. Ihrer Jugend, ihrem Übermaß von Liebe stand es zu, dieses Herz, das sich wohl aus Mangel an Liebe verhärtet hatte, durch Zärtlichkeit wieder zu beleben und zu erwärmen.
Ja, sie wollte es versuchen. Wer weiß, ob sie ihre Absicht nicht erreichen würde? Sie erinnerte sich des Abends im Institut, als sie Malwina gesagt hatte, daß das wahre Glück zum großen Teile darin bestehe, diejenigen glücklich zu machen, die uns umgeben. Sie hatte diese Lehre anderen gegenüber zu vertreten gewußt; und nun, da sie selbst sich in der Lage befand, den schönen Grundsatz auszuüben, würde sie demselben untreu werden?
Nein, nur Mut! Es kostete wohl einige Anstrengung; aber der Beistand Gottes würde ihr nicht fehlen, wenn sie ihn darum bat. Die guten Klosterfrauen hatten ihr so oft die Worte des Evangeliums wiederholt: »Bittet, und ihr werdet empfangen; klopfet an und es wird euch aufgethan.« Sie war voll Hoffnung. Die ersten Tage dürfte es ihr allerdings schwer fallen, aber durch Ausdauer vermochte sie wohl zum Ziele zu gelangen.
Sie erhob die Augen und begegnete dem Blick des fremden Herrn, der ihr gegenübersaß. Sie hatte gar nicht mehr an ihn gedacht, versunken wie sie war in ihre Gedanken, so daß sie nicht einmal versucht hatte, ihre Bewegungen, erst des Schmerzes, und dann der Ergebung und Hoffnung, zu verbergen.
Und dieser Herr hatte seine blauen Augen auf sie gerichtet. Sie senkte sogleich die ihrigen; aber bald schaute sie ihn von neuem an; denn diese Augen, dieser Blick, schienen ihr nicht unbekannt. Wo konnte sie ihn gesehen haben? Es war ein blonder Herr, elegant gekleidet, und er schien sehr bewegt. Möglicherweise hatte sie ihn irgendwo bei Bekannten getroffen, ehe die Mutter erkrankte.
Und sie durchging in ihrem Gedächtnisse die verschiedenen Familien, die sie kannte, vermochte sich aber seiner nicht zu erinnern.
War er vielleicht der Bruder oder Verwandte einer ihrer Institutsgenossinnen? Hatte sie ihn im Sprechzimmer oder auf den Spaziergängen gesehen? Sie dachte an alle ihre Freundinnen vom Kloster, fand aber keine darunter, die irgend welche Ähnlichkeit mit diesem jungen Herrn hatte. Aber wo sollte sie ihn nur getroffen haben?
Plötzlich durchzuckte sie ein Erinnerungsstrahl, und heiße Röte bedeckte ihr Antlitz … Sie hatte es gefunden! Es war der Herr, der in der Kirche zu ihr gesprochen hatte, an jenem Tage, als man ihre Mutter begraben hatte.
Es war kein Zweifel, er war es. Sie bemerkte auch deutlich, daß er sie wieder erkannt habe. Er sah sie so eindringlich und forschend an; er schien so bewegt, und man las in seinem Blick voll Ehrfurcht und Mitleid, daß er in ihrer Seele den Schmerz gelesen, wie auch die Entmutigung über das Benehmen der Cousine.
Lina fühlte die Röte auf ihren Wangen sich steigern und wußte vor Verlegenheit nicht, was beginnen. Da fiel glücklicherweise der große Schirm Fräulein Gertruds auf den Boden, und Lina bückte sich, ihn aufzuheben; aber der junge Mann war ihr schon zuvorgekommen und reichte ihr denselben. Sie dankte ihm, während die Cousine ihre Augen halb öffnete und einige Worte des Unmutes gegen Lina und die Begleiterin äußerte, weil sie nicht besser auf ihren Schirm achtgegeben hatten; aber gleich darauf war sie wieder eingeschlafen. Conti, denn kein anderer war der junge Mann, benützte die Gelegenheit, um Lina zu fragen, ob sie bis nach Mailand fahren würden. Sie antwortete bejahend. Durch seine herzlichen Worte ermutigt, dankte sie ihm mit kaum hörbarer Stimme für die Güte, die er ihr vor wenigen Tagen erwiesen habe und für welche sie ihm eine lebhafte Dankbarkeit bewahre.
Conti verbeugte sich, und um die Danksagungen abzuschneiden, erkundigte er sich, ob sie immer bei dieser Cousine bleiben werde. Lina bestätigte es und die Unterredung hatte ein Ende. .
In Mailand half Conti voll Aufmerksamkeit dem alten Fräulein beim Aussteigen, legte ihr den Shawl über den Arm und reichte ihr den Schirm; dann gab er Lina die Hand und nahm der Begleiterin das Gepäck ab, um es einem Dienstmann anzuvertrauen. Hierauf grüßte er die Damen mit der größten Höflichkeit und entfernte sich in entgegengesetzter Richtung von der, welche diese letzteren eingeschlagen hatten.
Lina jedoch, die, ohne zu wissen warum, umgeblickt hatte, ehe sie das Haus ihrer Cousine betrat, schien es, als ob sie an der Straßenecke einen eleganten jungen Herrn sähe, ganz ähnlich dem, der mit ihnen gereist war, und welcher sich sofort schleunigst entfernte. Sie konnte sich irren, aber es schien ihr wirklich derselbe zu sein. Und doch hatte sie ihren Reisegefährten in ganz entgegengesetzter Richtung fortgehen sehen! … Lina mußte sich getäuscht haben; wie viele Menschen sehen sich ähnlich!
Eine Woche später stellte sich derselbe blonde junge Mann im Hause der Signora Gertrud ein.
In den Salon eingeführt, mußte er warten, bis dieselbe den Kragen umgenommen, den schweren Shawl auf den Arm gelegt und bis sich die Dienerin in den Zimmern, die ihre Herrin durchschreiten mußte, überzeugt hatte, ob kein Fenster geöffnet sei.
Sie meldete ihr Erscheinen an durch das Umfallen eines Stuhles und durch ihre Stimme, die ärgerlichen Tones brummte: »Diese Lina hat noch immer nicht gelernt, die Stühle an ihren Platz zu stellen!« Und der Dienerin, die auf den Lärm hin herbeigeeilt war, rief sie ungeduldig zu: »Laß mich, du Unausstehliche; ich sehe besser wie du!«
Und so kam sie endlich in den Salon, an einen Lehnstuhl stoßend und eine Verbeugung machend, ohne zu wissen, wo der Besucher stand.
»Entschuldigen Sie,« sagte sie hierauf, »ich habe Sie warten lassen; aber ich bin von so zarter Konstitution, daß ich tausenderlei Vorsichtsmaßregeln anwenden muß, um mir nicht irgend ein Übel zu holen.«
»Ich muß vielmehr um Entschuldigung bitten,« unterbrach sie Conti, indem er sich verbeugte, obwohl es die blinde Dame kaum bemerken konnte, »daß ich Sie störe! Ich werde Ihnen sogleich den Grund meines Besuches mitteilen. Ich weiß, daß Sie ein Fräulein Namens Lina Boschis bei sich haben, von der mir viel Gutes gesagt wurde; ich hatte die Ehre, dieselbe einigemal zu sehen, und wenn Sie und das Fräulein einwilligen, wäre ich glücklich, sie zu meiner Gattin zu machen.«
»Da haben wir's! Ich hatte es mir ja immer gedacht,« rief Fräulein Gertrud aus, »daß Lina nicht nur deshalb weinte, weil sie ihre Heimat verlassen mußte; ich wußte genau, daß sie jemand zurückließ, der ihrem Herzen nahe stand! Alle Mädchen sind gleich! O, die Mädchen! Sie haben es zu gut zu Hause, und sie wollen sich absichtlich Kummer und Verdruß aufbürden. Ich verstehe nicht, warum sie um jeden Preis heiraten wollen? Der Himmel bewahre mich davor! Auch ich hatte meine Verehrer, die mich umschwärmten; aber Gott sei Dank, ich ließ mich nicht von ihnen umgarnen. Lina hätte mir wohl gleich anfangs von ihren Absichten sprechen können, dann würde ich mir diese Reise erspart haben! Ich fühle noch jetzt die Nachwirkungen derselben. Ich ahnte bereits, daß diese Heulereien einer ganz anderen Ursache gelten dürften, als der Trennung von Turin. Und sie versicherte mir immer das Gegenteil! Ja, ja, heiraten Sie nur. Es wird nicht lange dauern, bis Sie es bereuen!«
Conti hatte überrascht diesem Redeschwall zugehört und nicht begriffen, wo sie damit hinaus wollte. Er glaubte schließlich, annehmen zu müssen, daß das junge Mädchen sein Herz bereits vergeben habe. Mit einer von Angst und Kummer bewegten Stimme fragte er erregt: »Hat das Fräulein vielleicht ihre Gedanken bereits auf einen anderen gerichtet?«
»Auf noch jemand? Aber sagten Sie denn nicht soeben, daß Sie Lina heiraten wollen?«
»Ja, gewiß! Aber Ihre Worte schienen mir anzudeuten, daß Fräulein Boschis ihre Liebe bereits anderweitig vergeben habe.«
»Ich sprach von ihrer Liebe zu Ihnen.«
»Zu mir? Wie kann das sein?«
»Sind Sie nicht ein alter Bekannter von ihr?«
»O nein; sie hat mich erst nach dem Tode ihrer Mutter kennen gelernt.«
»Wenn die Sachen so stehen, weiß ich nichts zu erwidern. Soll ich sie rufen, daß sie Ihnen Aufklärung giebt?«
»Wenn Sie erlauben, will ich vor allem Ihnen sagen, wer ich bin und an wen Sie sich zu wenden haben, um Erkundigungen über mich einzuziehen. Mein Name ist Alberto Conti; ich bin aus Vercelli gebürtig. Ohne einen besonderen Beruf zu haben, widme ich mich den schönen Künsten. Bis jetzt bin ich viel gereist. Von nun an will ich mir jedoch eine Häuslichkeit gründen, mich in irgend einer Stadt niederlassen und ein beschauliches Leben führen. Ich besitze so viel, um meiner Gattin eine behagliche Lebensstellung bieten zu können. Auf Grund dieser Darlegung hoffe ich der Ehre würdig gehalten zu werden, um die Hand von Fräulein Boschis werben zu dürfen.«
»Ich verstehe nicht, wie auch Ihnen, mein Herr, die Idee, zu heiraten, in den Sinn kömmt! Wenn es Ihnen so gut geht, warum denken Sie daran, Ihr Leben zu ändern? Sie wissen nicht, was für Verdrießlichkeiten Ihnen bevorstehen! Überlegen Sie sich's wohl, mein Herr! Und dann müssen Sie wissen, daß meine Cousine gar nichts hat, buchstäblich nichts. Sie würden somit keine gute Partie machen.«
»Ich weiß alles, und nachdem ich so viel besitze, daß es für beide reicht, sehe ich den Grund nicht ein, warum ich auf ein Mädchen verzichten soll, von dem ich sicher zu wissen glaube, daß sie geschaffen ist, zu beglücken. Ich bitte Sie, das Fräulein von meinen Wünschen zu verständigen und mir zu erlauben, daß ich mir baldmöglichst die Antwort desselben hole.«
»Ich will thun, was Sie wünschen; aber ich werde sie nicht ermutigen. Ich weiß, welche Unannehmlichkeiten die Ehe mit sich bringt. Andererseits geht es meiner Cousine sehr gut bei mir; es fehlt ihr an nichts. Was sollte sie mehr wünschen können? Wenn ihre Mutter noch am Leben wäre, hätte sie wahrscheinlich als Erzieherin in die Welt hinausgehen müssen; nun können Sie selbst einsehen, wie viel besser sie bei mir aufgehoben ist.«
»Ich glaube es Ihnen; dennoch ersuche ich Sie, Ihrer Cousine unsere Unterredung mitzuteilen. In einigen Tagen werde ich meinen Besuch wiederholen und mir das Resultat Ihrer Besprechung erbitten.«
Als er sich wieder anmeldete, kamen ihm Fräulein Gertrud und Lina entgegen. Nachdem Conti die Damen gegrüßt hatte, wollte letztere zu sprechen beginnen; aber sie vermochte kein einziges Wort hervorzubringen. Der junge Mann jedoch, der aus diesem stummen Empfang Hoffnung schöpfte, blickte sie mit solch inniger, liebevoller Teilnahme an, daß sich ihre Augen mit Thränen füllten. Während sie aufstand, um sich zu versichern, daß das Fenster gut geschlossen sei, weil die Cousine über Luftzug klagte, sagte dieselbe ärgerlichen Tones: »Die Jugend verliert gleich den Kopf; aber es wird nicht lange dauern, bis sie bereut. Arme Lina! … Thue, was du für gut findest; ich habe dir gewiß nicht zu diesem Schritte geraten. Man könnte meinen, daß du nicht gern bei mir bist.«
»Sprechen Sie nicht so, Cousine. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich in Ihr Haus aufgenommen haben; ich kann Ihnen jedoch nicht beständig zur Last sein. Und nachdem Herr Conti sich so liebevoll für meine traurige Lage interessiert, kann ich ihm meine Dankbarkeit nicht anders bezeigen, als indem ich seinen großmütigen Antrag annehme. Ich werde mich stets der Güte erinnern, die Sie mir erwiesen haben, liebe Cousine, als Sie sich der Mühe einer so langen Reise unterzogen, um mich abzuholen, sich dabei der Gefahr aussetzend, Ihre Gesundheit zu schädigen. Ich werde den lieben Gott fortgesetzt bitten, daß er Sie segne und Ihnen all das Gute lohne, das ich Ihnen verdanke!«
»Siehst du das ein? Ich war an jenem Tage entsetzlich ermüdet! Am frühen Morgen abreisen und denselben Abend wieder zurückkehren, das ist schon eine Aufgabe! Das werden Sie auch begreifen, mein Herr? … Diese erbärmlichen Augengläser!« brummte sie, indem sie dieselben abnahm und mit dem Ende ihrer Mantille rieb und abwischte; »sie wollen nicht klar werden!«
Es waren aber keineswegs die trüben Augengläser, die sie belästigten, sondern zwei schwere Thränen, die ihr die Wangen hinabrollten und die sie verbergen wollte. Auch Conti war bewegt. Er dankte Lina mehr durch einen Blick als mit Worten, und ihre Hand ergreifend, küßte er dieselbe voll Ehrerbietung und sagte: »Sie werden mir verzeihen, meine Damen, wenn ich Sie um einen Gefallen ersuche. Ich wünsche, daß vorderhand noch niemand erfährt, welche Beziehungen uns verknüpfen. Sie können, wie ich Ihnen bereits gesagt, in Vercelli Erkundigungen über mich einziehen; aber ich bitte Sie inständig, den Grund dazu nicht zu offenbaren. Der Advokat Bera, der mein Vermögen verwaltet, der Bürgermeister, der Pfarrer, alle Familien kennen mich; fragen Sie, aber ohne zu verraten, weshalb. In diesen Sachen kann man nicht vorsichtig genug sein. Ich möchte, daß niemand davon erfährt bis zum festgesetzten Zeitpunkt.«
»Sie sind also von Vercelli?« fragte Lina.
»Ja, mein Fräulein.«
»Dann werden Sie auch Fräulein Arnaldi kennen?«
»Gewiß. Vergangenen Winter trafen wir uns sehr häufig in Gesellschaften.«
»Wir waren Institutsfreundinnen.«
»In der That? Dann bitte ich, daß Sie ihr vorerst noch nichts von unseren Beziehungen mitteilen; denn Fräulein Arnaldi hat zu viel Gelegenheiten, anderen davon zu sprechen, und ganz Vercelli wäre sofort davon in Kenntnis gesetzt. Sie müssen wissen, daß ich einiger Zeit zum Ordnen meiner Angelegenheiten bedarf. Es wäre somit peinlich, wenn Unannehmlichkeiten entständen vor dem Tage, an dem wir uns um Schwätzereien nicht mehr zu kümmern brauchen.«
Lina versprach, seinen Wünschen gemäß zu handeln, und begleitete ihn zur Thüre.
Den nächsten Tag kam Conti, um anzuzeigen, daß er nach Vercelli abreise. Nach der Rückkehr wollten sie den Zeitpunkt für die Trauung festsetzen. In der That wurde in der folgenden Woche bestimmt, daß nach Ablauf der ersten Trauer Lina Boschis Contis Gattin werden würde.
Von diesem Augenblicke an erreichte die schlechte Laune Fräulein Gertruds ihren Höhepunkt. Man sah sie, fest in ihre Mantille gehüllt, den Shawl am Arm, die Zimmer durchschreiten, brummend und bei jedem Schritt an ein Möbel stoßend, und ihre Lamentationen hörten nur auf, wenn Lina ihr einen erfrischenden Trunk oder die nervenstillenden Tropfen mit der ihr eigenen Anmut reichte; dann zog sie aber nur um so heftiger gegen das Heiraten und gegen die gedankenlose Jugend zu Felde.
Wenn sie sich dann ermüdet auf ihren Divan niederließ, schwieg sie und ihre schmalen Lippen verzogen sich schmerzlich; so blieb sie lange unbeweglich, bis oft plötzlich ein heftiges Herzklopfen sie überkam; da öffneten sich ihre Arme, um gleich darauf wie leblos an den Seiten herunterzuhängen; die Augen schienen zu erlöschen, der Atem ging schwer, und wer in einem solchen Momente zugegen gewesen wäre, hätte sicher gedacht, sie im nächsten Augenblicke sterben zu sehen.