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Siebzehntes Kapitel.
Im Schlosse

Malwina reiste in Begleitung Lauras nach dem Schlosse ab. Der Koch war kurz vorher aufgebrochen, und am vergangenen Tage hatten sich bereits die Diener und der Kutscher mit Wagen und Pferden eingefunden.

Herr Arnaldi wollte seiner Tochter eine Überraschung bereiten; er wünschte, daß sie bei ihrer Ankunft im Stalle ein Reitpferd vorfinde, eben so jung und lebhaft, als lenksam und verlässig.

Sie verließen den Zug in Saluggia, einem hübschen Dorfe in einer fruchtbaren Ebene gelegen. Weizen- und Maisfelder wechselten mit ausgedehnten Wiesenflächen, die von klaren Bächen, in welchen der blaue Himmel sich spiegelte, und von breiten Straßen durchschnitten waren. Lebende Hecken faßten diese letzteren ein, und Pappeln und Weiden, die längs derselben wuchsen, boten spärlichen Schatten. Die ländliche Ortschaft, welche aus niedrigen Häusern bestand, vor welchen sich der mehr oder minder große Hofplatz ausbreitete, auf dem sich neben dem Heuschober der womöglich noch höhere Strohschober auftürmte, mit dem Kreuz auf der Spitze und dem hölzernen Hahn mit geöffnetem Schnabel, machte einen angenehmen Eindruck.

Vor dem hübschen Bahnhofe, am Eingang des Dorfes gelegen, dehnte sich ein weiter Platz aus, von einer doppelten Reihe Kastanienbäumen eingerahmt, der aber, fast nie betreten, sich in eine Wiese verwandelt hatte. Von der Bahn führte die Hauptstraße direkt in den Mittelpunkt des Dorfes, und zu beiden Seiten lagen die nicht schönen, aber reinlich gehaltenen Häuser zerstreut, unter denen gleich am Anfang der Straße sich ein hübsches kleines Haus hervorhob, das ein wirkliches Heim der Liebe und des Friedens zu sein schien. Auf der entgegengesetzten Seite, am Ende des Dorfes, erhob sich ein Hügel, auf welchem das Schloß thronte, mit seinen vier von Zinnen gekrönten Türmen, die vollständig von Epheu überrankt waren. Daneben, nur etwas weiter unten, stand die Pfarrkirche des Ortes mit ihrem spitzen Glockenturme und der hohen Steintreppe, die, aus der Ferne betrachtet, einen schönen Anblick bot. Den Hügel, der sich noch weit hinter dem Schlosse entlang erstreckte, schmückten Weinberge und Häuser.

Malwina schaute zerstreut auf die Landschaft, als sie im Wagen das Dorf durchfuhr und sah zu ihrer Befriedigung, daß unter den herbeigeeilten Leuten niemand von städtischem Äußern sich befand; es waren lauter von der Sonne gebräunte Gesichter, die sie mit offenem Munde erstaunt betrachteten. Die Pferde zogen langsamen Schrittes den Hügel hinauf. Das junge Mädchen konnte mit Muße die schöne breite Lindenallee bewundern, die zum Schlosse führte, und den riesigen Park mit seinen herrlichen Baumgruppen, der dasselbe umgab, mit seinem Schmuck von kleinen Seen, dem saftigen Grün und dem wohlthuenden Schatten, der zur Ruhe und zum Frieden einlud. Malwina freute sich darob. Es überkam sie bereits ein wohliges Vorgefühl des Genusses, den ihr diese Stille und die köstliche Luft, die sie in vollen Zügen einsog, bereiten würde. Das Schloß, welches hinter den Bäumen vollständig verborgen lag, erschien vor ihren Blicken erst, als der Wagen bereits auf den freien Platz vor demselben einbog. Es war ein echt mittelalterliches Kastell, wie durch Feenhände in ein köstliches Friedensasyl verwandelt. Die massiven Mauern sprachen von der Festigkeit und Stärke ihrer Quadern, die großartige Marmortreppe hingegen, die den Mittelpunkt der Front ausfüllte, der riesige Saal und eine Terrasse mit Glaswänden gaben Zeugnis, daß die modernen Bewohner dem alten Gebäude die den früheren Zeiten anhaftende Strenge abzustreifen bemüht gewesen waren, um dem leichteren und sorgloseren Leben unserer Zeit Raum zu gestatten. Das Ganze bildete somit zugleich ein Gemisch von Ernst und Heiterkeit, von Melancholie und Frohsinn.

Wer es allein bewohnt hätte, wäre an Schwermut zu Grunde gegangen; eine muntere Gesellschaft würde hier das irdische Paradies gefunden haben.

Malwina fand das, was ihr Herz benötigte: Stille und Einsamkeit. Die riesigen Säle, die hohen, düsteren Zimmer, die Wiesen, von dichtbelaubten Bäumen beschattet, die Waldwege, wo sie überall ungesehen und ungestört sich ihrem Kummer hingeben, ihren Schmerz verbergen konnte, war so ganz nach ihrem Sinne und sie ließ sich hier mit Freuden nieder. Sie durfte wenigstens weinen und klagen und seufzen, ohne daß jemand sie um die Ursache befragte.

Am folgenden Sonntag sah sie mit Genugthuung die Pfarrkirche nur von Bauersleuten mit ihren gutmütigen Gesichtern gefüllt, und sie konnte niemand bemerken, der die Prätension haben würde, Bekanntschaft mit ihr anzustreben. Sie wollte ein verborgenes Leben führen und dieser Ort war wie geschaffen dazu.

Mit der aufrichtigsten Befriedigung versicherte sie ihrem Vater, daß sie sich hier wohl fühle, und bat ihn nochmals inständig, ihr keine Gäste zuzuführen; sie wolle durchaus niemand sehen.

Herr Arnaldi war ganz erstaunt über eine so plötzliche und sonderbare Veränderung; auch Laura wußte sich dieselbe nicht zu deuten; aber im Grunde war sie hoch erfreut darüber. Nicht mehr die Familie Varelli beständig im Hause zu haben, war ihr an und für sich schon eine Genugthuung.

Malwina verlebte somit ihre Tage in völliger Abgeschiedenheit, mit dem einzigen Gedanken an die Wunde beschäftigt, die Conti ihrem Stolze geschlagen hatte. Täglich erwartete sie die Ankündigung des Hochzeitstages, auf die sie sofort mit ihren bestgemeinten Glückwünschen antworten und zugleich ein Hochzeitsgeschenk für Lina beifügen wollte, das so kostbar sein sollte, daß jeder, der es zu sehen bekäme, darüber erstaunen würde.

Es gab Tage, während welcher sie ihre Gemächer nicht einen Moment verließ, so daß man das Schloß für unbewohnt hätte halten können, wenn nicht Laura, als gewissenhafte Hausverweserin, in den Räumen aus und ein gegangen wäre, um die Fenster zu öffnen oder die Jalousien herabzulassen.

Dann gab es wieder Zeiten, wo sie sich tagsüber keinen Moment im Hause aufhielt; sie ritt auf ihrem schönen Braunen und, gefolgt vom alten Diener Michele, galoppierte sie dahin, ohne Ziel und ohne Rast. Sobald sie jedoch Leute bemerkte, lenkte sie ungesäumt in einen anderen Weg ein; war keiner da, so flog sie mit verhängten Zügeln vorbei, ohne die Vorübergehenden mit einem Blick zu streifen, die erschreckt zur Seite flüchteten und ihr erstaunt nachblickten, während sie dahinsauste, eine Staubwolke hinter sich zurücklassend.

Wenn sie dann mit erhitztem Gesicht und atemlos anhielt, um sich etwas zu erholen, nahm sich Michele ein Herz, ihr zu sagen: »Gnädiges Fräulein, kehren wir um!« und sie ließ sich von ihm leiten wie ein Kind, mit ihren Gedanken in weiten Fernen weilend. Nach Hause zurückgekehrt, aß sie hastig, zog sich auf ein Stündchen in ihr Zimmer zurück, und kehrte dann in den Park zurück, wanderte auf den einsamen Wegen dahin oder lagerte auf dem Grase unter dem Schatten der Bäume, um bis zum Abend hier zu verweilen.

Sie schrieb keine Briefe und erhielt nur ab und zu Nachrichten von den Cousinen, die sie beredeten, doch endlich ihre Einsamkeit zu verlassen, ihr von der eleganten Männerwelt, die sich in ihrer Gesellschaft befand, und von den Festen, bei denen nur sie fehlte, erzählend. Malwina überflog diese Episteln, zerriß sie verächtlich und sah zu, wie der Wind die Fragmente weit davontrug, indem sie ausrief: »Ich will niemand sehen! Ich will allein sein!« Dabei erhob sie stolz den Kopf, während ihre Augen Zornesblitze schleuderten.

Endlich war der lang gefürchtete und zugleich ersehnte Hochzeitstag gekommen. Lina hatte der Freundin einen zärtlichen Brief geschrieben, in welchem sie ihr nach einigen milden Vorwürfen über die Kälte und Vernachlässigung, deren sie sich in der letzten Zeit ihr gegenüber schuldig gemacht hatte, den Tag anzeigte, an dem Conti sie zum Altare führen würde. Sie schilderte ihr die Sorge und Furcht, die sie manchmal beherrschten, und die hoffnungsvolle Freude, die ihr Herz erfüllte. Sie empfahl sich ihrem Gebete und lud sie zur Trauungsfeier nach Mailand ein.

Nachdem sie fertig gelesen hatte, schrieb Malwina sogleich an ihren Vater, mit der Bitte, zu ihr zu kommen, und an Lina, um ihr alles Glück zu wünschen und zu bedauern, daß sie leider nicht zur Hochzeit kommen könne, daß sie aber mit ihren Gedanken getreulich bei ihr weilen würde.

Den folgenden Tag traf Herr Arnaldi ein; Malwina war, ganz gegen ihre Gewohnheit, an die Bahn gefahren, um ihn abzuholen.

»Lieber Papa,« sagte sie, ihn liebkosend, »möchtest du mir ein Geschenk machen?«

»Warum nicht?« antwortete dieser.

»Aber ein kostbares Geschenk, mußt du wissen!«

»Das ist einerlei!«

»Wie viel wärst du geneigt, auszugeben?«

»Das ist schwer zu sagen! Wie viel willst du?«

»Zum Beispiel tausend Franken? Scheint dir das zu viel?«

»Nein, nein! Um dir eine Freude zu machen und dich froh zu sehen, würde ich dir auch eine größere Summe zur Verfügung stellen.«

»O, danke! Morgen gehen wir nach Turin, wenn du mit einverstanden bist, um eine Wahl zu treffen.«

Sie reisten demnach nach Turin ab und verfügten sich zu einem Juwelier; Malwina reichte ihre Visitenkarte hin. Gleich darauf erschien der Besitzer selbst mit einem großen, eingehüllten Gegenstand, den er dem jungen Mädchen überreichte mit den Worten: »Ich hoffe, Sie befriedigt zu haben.«

Es war ein prachtvolles Kästchen von rotem Samt, reich in Gold gestickt. Die Stickerei stellte wilde Rosen und Vergißmeinnicht dar, und der Mittelpunkt einer jeden Blume war mit Brillanten besetzt. Das Innere der Truhe, mit gelber Seide auswattiert, trug die Initialen L. C. B., in roter Seide gestickt, auf denen mehrere Rubinen glänzten. Es war ganz einzig schön.

»Gefällt es dir? Soll ich es nehmen?« fragte Malwina ihren Vater.

»Was beabsichtigst du damit?« fragte seinerseits Herr Arnaldi.

»Du wirst sehen, lieber Vater.«

Dann sich an den Juwelier wendend, erkundigte sie sich nach dem Preise.

»Es ist mir nicht möglich, nur einen Centesimo davon abzuziehen, gnädiges Fräulein. Es kostet tausend zweihundert Franken.«

Malwina blickte auf ihren Vater, der lächelnd meinte: »Wenn es dir gefällt, so nimm es, liebes Kind.«

Und indem er seine Brieftasche hervorzog, zählte er dem Juwelier die Banknoten hin, während Malwina die Adresse von Lina Boschis angab.

Als sie in den Wagen gestiegen waren, fragte sie mit blitzenden Augen: »Papa, wirst du mich zanken?«

»Du schlimmes Kind! das fragst du, nachdem die Sache schon beschlossen ist?«

»Verzeih', Vater! Mir kam der Wunsch, diese Truhe zu kaufen, und ich wollte mit der Kundgebung desselben nicht warten, weil ich fürchtete, daß mir das reizende Kästchen entkommen könnte, und dann wußte ich ja, daß du es mir nicht verweigern würdest. Weißt du, für wen es bestimmt ist?«

»Nein.«

»Für Lina Boschis.«

»Lina Boschis? Warum?«

»Sie ist Braut. Sie heiratet Conti.«

»Conti? Was sagst du?«

»Aber ja; weißt du es denn nicht?«

»Wie kann ich es wissen, nachdem du mir nie davon gesprochen hast?«

»Da sieh'! Was für ein vergeßliches Wesen ich bin! Aber ich glaubte, alle Welt wisse darum!«

»Durchaus nicht! Jetzt verstehe ich, warum er sein Haus in Vercelli ganz neu herrichten läßt! Also Conti verheiratet sich! Und wann?«

»Übermorgen; ich wurde zur Hochzeit eingeladen.«

»Gehst du hin?«

»Nein, nein! Ich bin ein ganz scheues Reh geworden!«

»Gieb dann nur acht, daß nicht ein Jäger dich zur Beute wählt!«

»O, der Himmel bewahre mich davor!«

Malwina war befriedigt in dem Gefühle, daß ihr lang beabsichtigtes Projekt so gut gelungen sei, und dachte an das Erstaunen, welches das junge Paar beim Eintreffen des fürstlichen Geschenkes offenbaren würde. Auch schmeichelte sie sich mit dem Gedanken, daß ihr Name in dankbarer Anerkennung von ihnen genannt würde.

Wenige Tage später langte unter ihrer Adresse eine schöne, mit weißem Atlas überzogene Bonbonniere an, voll der feinsten Süßigkeiten, auf welcher die Initialen M. A. angebracht waren, in Begleitung eines liebenswürdigen Briefes von der Hand der jungen Frau, in welchem sie versicherte, daß ihr Geschenk nicht nur eines der kostbarsten wäre, sondern zugleich das liebste, weil es von ihr käme. Als sie dann am Schlusse noch einige von Contis Hand geschriebene Zeilen erblickte, der ihr ebenfalls für die Zuneigung dankte, die sie seiner Frau bewies, war Malwina in der That zufriedengestellt. Ihm gegenüber wenigstens war der Schein gewahrt; sie hatte den gewünschten Erfolg erzielt. Sie erfuhr zugleich aus dem Briefe, daß sich das Paar auf eine dreimonatliche Hochzeitsreise begebe; sie konnte demnach diese ganze Zeit über noch frei aufatmen.

Frau Varelli war unterdessen in die Stadt zurückgekehrt. Da sie ihre Nichte dortselbst nicht vorfand, schrieb sie mehreremal, um anzufragen, ob sie wirklich die Absicht habe, den Winter auf dem Lande zuzubringen. Malwina antwortete stets, daß sie bald kommen würde; indessen dachte sie nicht daran.

Herr Arnaldi machte seine Tochter endlich aufmerksam, daß, wenn sie sich nicht entschließe, in die Stadt zurückzukehren, eines schönen Tages die Varellis mit den Freundinnen im Schloß erscheinen würden. Malwina mußte sich ergeben. Sie fühlte sich so wohl hier, in dem riesigen Hause; zur jetzigen Jahreszeit ließen die entlaubten Bäume das Schloß ganz frei, und das junge Mädchen konnte ihre Blicke weit über die endlose Ebene schweifen lassen, die, ihres Grün beraubt, die entschwundene schöne Jahreszeit zu betrauern schien; oder nach der anderen Seite zu über die Hügelkette, die, in einem Halbkreis sich hinziehend, der Landschaft einen ganz verschiedenen Charakter verlieh.

An dem Morgen jedoch, an dem Malwina in der That den lieb gewordenen Aufenthalt verlassen sollte, fand sie die ganze Gegend mit einer Schneehülle bedeckt. Der Himmel, welcher die vorhergehenden Tage einförmig grau gewesen war, strahlte im reinsten Blau und die Kälte war so intensiv geworden, daß Herr Arnaldi sich gezwungen sah, ein energisches Machtwort zu sprechen und mit seiner Tochter in die Stadt zurückzukehren.

Nun war der Zeitpunkt gekommen, wo Malwina den Schwatzereien, die sie so sehr fürchtete, und die sie so lange von allem Verkehr entfernt gehalten hatten, die Stirn bieten mußte. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, überlegte die Gespräche, die sie über Contis Heirat vermutlich hören würde, die Antworten, die sie geben wollte, wenn man sie ausfragen sollte, und wie sie ihr Benehmen einzurichten habe, um sich nicht zu verraten.

Am Bahnhofe erwartete sie der Wagen; als derselbe vor dem Palast hielt und der Schlag geöffnet wurde, peitschte ein eisiger Wind ihr Gesicht, so daß sie, um ihm zu entgehen, sich beeilte, auszusteigen, ohne zu warten, daß man ihr dabei behilflich sei. Unglücklicherweise hatte sich der Schnee infolge der Kälte verhärtet, und Malwina glitt aus und fiel auf den linken Ellbogen. Einen Augenblick lang war sie wie betäubt; aber dann raffte sie sich auf und schritt in das Haus, mit der Versicherung, daß sie sich nicht verletzt habe.

An demselben Tage war ganz unerwartet die Signora Amalia, die Tante ihres Vaters, gekommen, eine Dame von etwa sechzig Jahren, von stattlichem Äußern, mit weißen Haaren und einem freundlichen, herzgewinnenden Antlitz.

Malwina eilte ihr entgegen; sie hatte sofort in ihr die kluge und tugendhafte Frau erkannt und fühlte eine lebhafte Sympathie für dieselbe.

»Warum hat mich Papa nie zu dir geführt?« fragte sie.

»Du mußt wissen, liebes Kind,« antwortete die Tante, »daß ich das ganze Jahr über auf dem Lande wohne; mir gefällt das Landleben so außerordentlich!«

»Auch mir, Tante, weißt du!«

»Hätte ich früher von deiner Vorliebe gewußt, würde ich dich eingeladen haben, die Herbstmonate in der Favorita zu verleben. Du hättest meine sechs Sterne kennen gelernt, denn so werden meine sechs Töchter genannt, die allerdings nicht durch Schönheit leuchten; hingegen, unter uns gesagt, sehr lieb und gut sind und ebenso meine drei fröhlichen Söhne.«

»Sind sie erwachsen?«

»Der jüngste ist achtzehn Jahre alt; aber er ist wirklich noch ein Kind. Sie tragen viel zu unserer Unterhaltung bei, und wir verleben reizende Abende, wenn sie alle zugegen sind; natürlich haben wir keine Feste zu bieten, wie man sie hier in der Stadt gewöhnt ist; ab und zu wird getanzt, aber ganz unter uns, in einfacher Haustoilette. Ich würde es nie wagen, zu derlei armseligen Vergnügungen eine junge Dame der Gesellschaft aufzufordern!«

»Wie gern wäre ich gekommen, hätte ich geahnt, daß ich eine Tante, wie du, mit einer solch sympathischen Familie besitze!«

»Aber … was hast du, Malwina? Ich sehe Blut an deinen Fingern!«

Malwina blickte erstaunt auf ihre blutende Hand.

»Wie sonderbar! Was könnte das nur sein?«

Sie hob den Ärmel in die Höhe; er war voll Blut. Das junge Mädchen erbleichte.

»Schnell, schnell,« drängte die Tante, »laß mich sehen, was du dir gethan hast!«

Malwina dachte jetzt erst wieder an ihr Ausgleiten auf dem festgefrorenen Schnee, und sich von ihrer Bestürzung erholend, sagte sie: »Es ist gar nichts, Tante; ich bin gefallen und habe mir den Ellbogen aufgeschlagen, aber ohne mir dabei weh gethan zu haben; der beste Beweis liegt in der Thatsache, daß ich mich dessen gar nicht mehr erinnerte. Ich will jedoch nachsehen, und wenn es von irgend einer Bedeutung ist, werde ich dich benachrichtigen lassen.«

»Nein, nein; ich will gleich selbst mit dir gehen!«

In demselben Augenblicke jedoch wurden die Varellis mit anderen Damen gemeldet, und Tante Amalia mußte bleiben, um sie zu empfangen. Malwina war indessen in ihr Zimmer geeilt, hatte ihr Kleid abgeworfen, und als sie das Blut aus der Wunde rinnen sah, tauchte sie ihr Taschentuch ins Wasser, legte es auf und rief Laura, damit sie die Wunde verbinde.

»Fräulein,« rief dieselbe sofort beim Eintreten aus, »wie blaß sind Sie! Sie müssen sich nicht wohl fühlen!«

Und als sie die Wunde und das viele Blut sah, fügte sie ganz besorgt hinzu: »Das muß der Doktor untersuchen; ich werde ihn rufen lassen.«

»Nein, Laura, ich will es nicht. Du darfst es nicht thun. Es ist nicht im geringsten nötig. Du wirst sehen, daß es gar nicht von Belang ist.«

»Aber die Wunde da!«

»Ein wenig Blut, weiter nichts! Hilf mir den Arm verbinden und sprich mit niemand darüber.«

»Thun Sie nach Ihrem Belieben; aber ich versichere Ihnen, daß Ihr Arm schwerer verletzt ist, als Sie denken.«

Nachdem sie wieder Toilette gemacht hatte, begab sich Malwina in den Salon, wo sie ungeduldig erwartet wurde. Die Cousinen und Freundinnen machten ihr erst einige Vorwürfe über ihre verspätete Rückkehr in die Stadt und hierauf erzählten sie von Contis Heirat, die so im verborgenen und in solcher Eile zustande gekommen war, worauf sie mit angenommener Gleichgültigkeit und ohne ein Zeichen der leisesten Bewegung erwiderte, daß die junge Frau eine ihrer Institutsfreundinnen gewesen, und ein vorzügliches Wesen und ihr sehr anhänglich sei.

Indem sie sprach, fühlte sie, daß sie aufmerksam beobachtet wurde.

Als sie des Abends allein in ihrem Zimmer war, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Sie hatte so viel Beherrschung aufbieten müssen, um den forschenden Blicken ihrer Gäste standzuhalten, daß sie sich ganz ermattet fühlte.

O, wie sehnte sie sich nach dem Frieden des Schlosses La Grand' Roche zurück!

Während der Nacht schlief sie wenig. Der Gedanke, noch so und so viele andere Verhöre und Fragen bestehen und das ironische Lächeln der Freundinnen sehen zu müssen, regte sie auf. Dazu gesellte sich ein stechender Schmerz im linken Ellbogen. Am Morgen stand sie mit dem Gefühle gänzlicher Erschöpfung auf; bei Tische hatte sie keinen Appetit und klagte über heftiges Kopfweh; sie mußte sich wieder legen.

»Was fehlt dir denn, mein Kind?« fragte Herr Arnaldi.

»Nichts Papa; nur der Arm schmerzt mich ein wenig infolge meines gestrigen Falles.«

»Der Arm hat geblutet,« bemerkte die Tante. »Ich fürchte, sie hat sich recht weh gethan!«

Laura, welche im selben Moment erschienen war, machte Herrn Arnaldi ein Zeichen, ihr ins anstoßende Zimmer zu folgen, und sagte ihm dort mit leiser Stimme: »Ihrer Tochter geht es nicht gut; haben Sie nicht beobachtet, wie bleich sie ist? Man muß den Doktor ohne Säumen rufen.«

»Warte, ich spreche erst noch mit der Tante.«

Dieselbe hatte sich an Malwina gewendet mit den Worten: »Ich schicke nach dem Arzte.«

»Höre, Tante; wenn mich der Arm morgen noch schmerzt, werde ich ihn rufen lassen; heute wollen wir noch zuwarten.«

Auch diese Nacht konnte das junge Mädchen kein Auge schließen, und den folgenden Morgen mußten sich alle überzeugen, daß dessen Zustand schlimmer geworden sei. Man schickte nach dem Hausarzte, Doktor Bizzi, einem guten alten Herrn mit weißem Bart, der Malwina, die er als kleines Kind gekannt, sehr lieb hatte. Unglücklicherweise herrschte in diesem Jahre die Influenza in der Stadt, und Doktor Bizzi war ebenfalls davon befallen und hatte sich den vorhergehenden Tag zu Bett legen müssen. Der vortreffliche Mann, dem dieser Zwischenfall unendlich leid war, gab den Rat, den Doktor Salvadeo, einen vorzüglichen jungen Arzt, der trotz seiner Jugend bereits Proben ungewöhnlichen Verstandes und außerordentlicher Geschicklichkeit abgelegt hatte, kommen zu lassen; er war ihm von einem Freund und Kollegen warm empfohlen worden, der ihm nur höchst Lobenswertes von ihm berichtet hatte.

Als Malwina erfuhr, daß ein anderer und zwar ein junger Arzt sie besuchen solle, wehrte sie sich entschieden dagegen, mit dem Bemerken, daß sie ihn nicht annehmen würde, und man es nicht versuchen solle, ihn kommen zu lassen.


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