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Fünfzehntes Kapitel.
Im Elend

Ein feiner Regen fiel herab; tiefe Stille herrschte im Orte; auf den einsamen Straßen sah man nur ab und zu einen Vorübergehenden hastig nach Hause eilen, vorsichtig die Pfützen vermeidend, die der schwache Schein einiger weniger Laternen erkennen ließ. In den Häusern verschwand ein Licht nach dem anderen; die Fensterläden wurden geschlossen, und alles versank in Schweigen.

In einem hübsch aussehenden weißen Häuschen am Eingange des Dorfes war noch ein Fenster beleuchtet. Es herrschte jedoch Grabesstille in demselben, nur unterbrochen von dem Röcheln eines Sterbenden. Noch jung, aber mit tief eingesunkenen Augen, farblosen Lippen, schwer atmend, die Haare an der Stirne klebend, vom Todesschweiße genäßt, lag es außer Frage, daß der arme junge Mann dem Erlöschen nahe war. Neben ihm kniete eine ebenfalls noch junge Frau, die ihrem Aussehen nach viel durchgemacht haben mußte. Thränenden Auges blickte sie ihren Gatten an, mit Herzensangst lauschte sie seinen Atemzügen, die immer langsamer wurden; sie fühlte seinen Puls, der allmählich schwächer ward, und mit Schrecken sah sie den letzten Augenblick herannahen.

Ihr gegenüber betete ein ehrwürdig aussehender Priester, der Pfarrer des Dorfes, mit leiser Stimme die Sterbegebete. Zu Füßen des Bettes stand ein zehnjähriger Knabe; ganz eingenommen von dem Schmerze der Mutter, beobachtete er jede ihrer Bewegungen, und in seinen schönen Augen drückten sich sein Schmerz und das vollkommene Begreifen des ihm bevorstehenden Verlustes aus.

Der Sterbende, der bis dahin die Augen geschlossen hatte, als ob er bereits dem irdischen Leben entrückt wäre, öffnete dieselben einen Augenblick, ließ sie umherschweifen und schloß sie von neuem. Die Brust hob sich nicht mehr, der Puls hörte auf zu schlagen Der Kranke schien zu schlafen; und er schlief auch wirklich. Es war der Todesschlaf.

Der Priester ließ die Hand, die er in den seinen gehalten hatte, sanft auf die Decke gleiten, kniete nieder und betete mit lauter Stimme das De profundis.

Die junge Frau, auf einen Stuhl niedersinkend, brach in ein trostloses Weinen aus, in welches der kleine Knabe einstimmte. Da näherte sich der Diener Gottes voll tiefer Teilnahme und sagte:

»Frau Marquise (denn es war Isabella, und alle im Dorfe hatten die Gewohnheit beibehalten, sie so zu nennen), – Frau Marquise, ergeben Sie sich auch dieses Mal in den Willen Gottes. Er wird Sie auch jetzt nicht verlassen, wie er Sie in Ihrem vergangenen Leid nicht verlassen hat. Denken Sie daran, daß Ihnen ein Sohn bleibt und daß Sie für ihn leben müssen!«

Das Kind schaute die Mutter mit so bittenden Augen an, daß es dem Zuschauer beinahe das Herz zerriß. Die Mutter vermochte nicht zu antworten; aber sie nahm ihr Kind in die Arme, und es lange an sich drückend, vermischten sich ihre Thränen mit den seinen.

Nach einigen weiteren Trostesworten entfernte sich der Priester, ging die Treppe hinunter und klopfte an eine Thür des Nebenhauses. Ein Fenster wurde geöffnet und der Kopf einer Frau ward sichtbar.

»Maria,« sagte der Pfarrer, »habt die Barmherzigkeit und kommt herunter, um die Nacht bei der Marquise zu verbringen!«

»Ist der Doktor Giulio gestorben?«

»Ja,« erwiderte der Pfarrer.

»O, die Ärmste! Ich komme sofort, und besten Dank, daß Sie mich gerufen haben. Wenn ich gewußt hätte, daß es schlimmer ging, wäre ich schon früher gekommen; aber die Marquise wollte ihren Mann stets nur allein pflegen.«

»Ich verstehe, ich verstehe! Aber jetzt darf sie nicht mehr allein bleiben.«

»Ich komme gleich.«

Der Doktor Giulio, Sohn des Herrn Antonio, hatte also aufgehört zu leiden. Der unerwartete Tod des Vaters, dessen Verzeihung er nicht mehr erlangen konnte, seine Enterbung, der Gedanke an seine Frau, die zu einem kummervollen Leben bestimmt war, alles hatte dazu beigetragen, ihn in eine tiefe Melancholie zu stürzen, die nach und nach in Abzehrung ausartete und seinem Leben ein frühes Ziel steckte. Unmöglich wäre es, die Trostlosigkeit der armen Isabella zu beschreiben, die ihren Gatten Tag für Tag schwächer werden sah! Was sollte sie ohne ihren Giulio thun? Wäre nur sie allein gewesen, hätte sie sich nicht so sehr gesorgt; aber was sollte aus ihrem Sohne werden, dem kleinen Alfonso? Ihre Furcht war auch allzu gerechtfertigt. Sie war Witwe und ohne Mittel. Sie hatte ihren teuren Kranken ganz allein pflegen wollen, vor allem aus Liebe, zugleich aber auch deshalb, weil sie nicht imstande gewesen wäre, eine Wärterin für deren Mühe zu entschädigen. Denn Isabella besaß, wenn nicht den Hochmut ihres Vaters, doch einen gewissen natürlichen Stolz, der keinen Dienst annehmen wollte, ohne ihn belohnen zu können. Dies war der Grund, warum sie allein die Pflege ihres Gatten übernommen hatte.

Ihre Leiden sollten auch jetzt noch nicht ihr Ende erreichen. Die durchwachten Nächte am Lager des Kranken, Sorge und Herzensangst hatten ihre Gesundheit erschüttert. Die arme Frau vermochte sich kaum aufrecht zu halten, wollte aber ihrem Kinde nicht merken lassen, wie viel sie leide. Der aufgeweckte und äußerst empfindsame Knabe hätte sich sonst zu sehr gekränkt.

Eines Morgens jedoch fühlte sie sich unfähig, aufzustehen. Ein hitziges Fieber war ausgebrochen. Sie rief ihren Alfonso zu sich und sagte ihm: »Alfonso, ich bin nicht ganz wohl, ich bleibe heute zu Bett. Du darfst dich aber nicht ängstigen; ich hoffe, daß es nur vorübergehend sein wird. Bete zum lieben Gott, daß ich nicht krank werde!«

Dem armen Kinde waren die Thränen in die Augen getreten; es wollte sie jedoch standhaft zurückdrängen. Es fühlte seine Kehle sich zusammenschnüren, überwand sich aber, um die gute Mutter nicht noch mehr zu betrüben. Als er sich ein wenig gesammelt hatte, fragte Alfonso: »Soll ich den Doktor rufen, Mama?«

»Nein, mein Liebling. Ich brauche nur etwas Ruhe; das Übel wird vorübergehen. Warten wir. Wenn ich mich morgen noch nicht besser fühle, dann kannst du ihn holen.«

Alfonso verließ seine Mutter den ganzen Tag über nicht einen Augenblick; er vergaß die Freunde, das Spielen, um ihr Gesellschaft zu leisten. Sie versuchte immer wieder, ihn zum Ausgehen zu bereden, damit er sich ein wenig zerstreue. Aber es war umsonst. Alfonso war nicht dazu zu bewegen.

Den folgenden Tag hatte sich der Zustand verschlimmert. Isabellas Gesicht glühte, ihre Augen leuchteten im Fieberglanz.

Alfonso fragte nicht weiter, ob die Mutter den Doktor wünsche, sondern lief aus eigenem Antrieb fort, ihn zu holen. Dieser, ein rauher, ungebildeter Mann, der eben erst im Orte angekommen war, kam spät abends, als man ihn nicht mehr erwartete. Er befühlte den Puls, ließ sich die Zunge zeigen und verordnete eine Arznei, die jede halbe Stunde zu nehmen war; dann verließ er die Kranke, ohne irgend einen beruhigenden Ausspruch zu thun, worauf mit so viel Ungeduld gewartet worden war.

Alfonso, der eine für sein Alter ungewöhnliche Klugheit und ein außerordentlich zartes Gemüt besaß, war ganz empört über eine solche Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit. Er weinte aus Zorn über diesen Menschen, er hätte Arzt sein wollen, um seine Mutter zu heilen, und als er den anderen Tag bemerkte, daß die Medizin das Übel nicht gemindert hatte, war er voll Verzweiflung. Er hatte in seiner Einfalt gedacht, daß die Arznei eine unmittelbare Wirkung bei der Kranken hervorrufen würde und meinte, nachdem die Medizin den erwünschten Erfolg nicht gehabt hatte, daß die Schuld den Arzt träfe, der seine Pflicht nicht recht erfüllt habe. In seinem Innern beschloß er, Arzt zu werden, um vor allem seiner geliebten Mutter und dann der Menschheit im allgemeinen helfen zu können … Aber der arme Kleine war erst zehn Jahre alt! …

Es war der Typhus im höchsten Grade, der bei Isabella ausgebrochen war. Sie hatte starkes Delirium und rief nach ihrem Gatten, nach ihrer Mutter, nach Alfonso. Und letzterer antwortete stets: »Ich bin hier, Mama, neben dir; siehst du mich nicht?« Und wenn sie so fortfuhr zu rufen, ohne ein Zeichen zu geben, daß sie ihn erkenne, warf sich der Kleine weinend auf die Kniee und beschwor sie, ihm zu glauben; dann wandte er sich zu Gott und bat ihn, Mitleid mit ihm und mit seiner armen Mutter zu haben.

Der Pfarrer hatte eine Frau geschickt, um die Kranke zu pflegen. Aber sei es, weil sie schon etwas ältlich war, oder zu ermüdet von den Mühen der vorhergehenden Tage, – es kam öfters vor, so sehr sie auch bestrebt war, mit bestem Willen ihre Aufgabe zu erfüllen, daß sie einschlief, wenn die Kranke ihrer Pflege bedurfte.

Alfonso hingegen, obwohl in so zartem Alter, ließ sich nicht leicht vom Schlafe überwinden. Mit welcher Sorgfalt erneuerte er die Eisüberschläge auf ihrem Kopfe, und wie gewissenhaft reichte er ihr die Arznei oder stand der Wärterin bei, wenn die Mutter, außer sich, zum Bett herausstürzen wollte, um zu fliehen, wie sie sagte, weil man ihr das Leben nehmen wollte! …

Das waren schreckliche Augenblicke für den armen Knaben, der in dieser abgezehrten Gestalt, in den eingesunkenen, gläsernen Augen seine gute, zärtliche Mutter gar nicht mehr zu erkennen vermochte, und er rüstete sich mit aller Kraft, um sie mit sanften Worten zu beruhigen und zurückzuhalten.

Zu anderen Zeiten nannte sie ihn mit ganz fremden Namen, und er litt darunter unsäglich.

Da heftete er dann seine Augen auf das Kruzifix, das über dem Bette hing, und betete mit einer Inbrunst, wie er es noch nie bisher gethan hatte.

Aber ein weiterer Kummer sollte das arme Kind treffen, das so früh schon die Schmerzen des Lebens erprobte. Nicht nur, daß es seines Vaters beraubt war und daß seine Mutter so schwer krank danieder lag! Alfonso sah mit Schrecken den kleinen Geldvorrat, der schon infolge der Krankheit des Vaters sehr zusammengeschmolzen war, von Tag zu Tag dahinschwinden. Der Ärmste zitterte bei dem Gedanken, der Mutter nicht mehr das Nötigste verschaffen zu können. Was sollte er thun, wenn er kein Geld mehr hätte? Es kam ihm gar nicht in den Sinn, sich an irgend jemand zu wenden. Seine Mutter hatte ihn in einem gewissen Gefühle persönlicher Würde auferzogen, die ihm derartiges niemals gestattet hätte.

Leider mußte der Tag kommen, an welchem der kleine Alfonso gar nichts mehr besitzen würde! …

Die Mutter hatte, dank ihres jugendlichen Alters, ihrer kräftigen Natur und der Pflege ihres Sohnes die Krankheit überwunden. Das Fieber war gewichen; es blieb nur noch eine große Schwäche zurück und um sich vollkommen zu erholen, sollte sie sich recht schonen und kräftig nähren.

Alfonso ließ es ihr an nichts fehlen, sorgte auch freundlichst für die Wärterin, und war nur ängstlich bedacht, vor derselben ihre beklagenswerte Lage zu verheimlichen. In seinem Herzen, für sich allein, weinte er und seufzte und schüttete seinen Kummer vor dem lieben Gott aus. In Gegenwart der Mutter, des Pfarrers und der Wärterin zeigte er sich stets ergeben und heiter. Er magerte jedoch ab, weil er sich nie satt zu essen getraute.

Der Tag der Prüfung war gekommen. Seine Mutter hatte ihm gesagt: »Ich meine, Alfonso, daß etwas starker Wein, zum Beispiel Marsala, mir recht gut thun würde!«

Alfonso fühlte einen Schauer seinen Körper überlaufen. Den letzten Rest Marsala, der noch im Hause war, hatte seine Mutter, ohne davon zu wissen, bereits während der Krankheit aufgezehrt; es war kein Tropfen mehr vorhanden, und überdies besaß er nicht die kleinste Münze, um für Ersatz zu sorgen. Die arme Frau hatte so viel gelitten und ihr Gedächtnis war so geschwächt, daß sie sich ihrer Verhältnisse gar nicht mehr bewußt war und nicht im entferntesten daran dachte, daß ihr Alfonso Geld benötigen könnte. Der Knabe durchsuchte alles; er hoffte, daß sich vielleicht ein Geldstück in irgend einem Winkel eines Kastens vorfinden würde; aber umsonst! Er hätte sich so gern Geld verschafft, wußte aber nicht, auf welche Weise; er war zu jung, um in derlei Dingen einen Entschluß fassen zu können ohne fremden Rat. Mehrere Stunden lang blieb er so in tiefstem Kummer versunken und wagte nicht mehr zu seiner Mutter zurückzukehren, weil er fürchtete, daß sie dieselbe Frage wiederholen würde.

Dann schritt er die Treppe hinunter; als er jedoch zur Hausthüre hinausgetreten war, hatte er nicht mehr den Mut, einen Schritt weiter zu machen; er wußte weder wohin gehen noch an wen sich wenden, um zu erhalten, was er wünschte. In diesem Moment durchfuhr sein zehnjähriges Gemüt eine Angst, so packend und überwältigend, daß er wähnte, es müsse sich das Schlimmste verwirklichen. Alfonso glaubte, daß seine Mutter sterben würde, wenn er ihr nicht den Wein, den sie verlangte, verschaffen konnte … Und er wußte nicht, wie er das ermöglichen sollte! … Er ließ sich auf die Stufen der Hausthür gleiten und brach in verzweiflungsvolles Schluchzen aus.

Es war an einem schönen Junitag, gegen Abend. Auf den Straßen war es still und leer, weil die Bauern noch bei der Arbeit waren, und die Frauen zu Hause das Abendbrot bereiteten.

An eben diesem Tage ging die Dame, welche das Schloß bewohnte, zu Fuß an die Station, um ihren Gatten abzuholen, der von der benachbarten Stadt zurückerwartet wurde. Sie führte an der Hand ihr Töchterchen, ein schönes, lebhaftes Kind, das lachend ihr braungelocktes, reizendes Köpfchen schüttelte. Da bemerkte die Dame den armen Knaben, der, sich allein glaubend, so verzweiflungsvoll weinte. Inniges Mitleid erfüllte ihr Herz; sie näherte sich ihm und fragte nach der Ursache seines Kummers. Alfonso heftete seine thränenvollen Augen auf sie, vermochte jedoch der schönen Dame, die er nicht kannte, nichts zu erwidern. Als sie das Kind so ärmlich gekleidet sah, vermutete sie, daß es wohl hungrig sei; sie legte ein Geldstück in die Hand des kleinen Mädchens und flüsterte ihm zu, dasselbe dem Knaben zu geben und ihm zu sagen, daß er nicht mehr weine.

Das Kind that, wie ihm geheißen. Indem es jedoch den Arm ausstreckte, schien es zu befürchten, daß sein elegantes Kleidchen den armen Knaben streifen könne, und machte einen Schritt zurück, während es sein Kleid an sich zog.

In den Augen Alfonsos, der diese Bewegung beobachtet hatte, leuchtete ein Blitz des Zornes auf; er nahm das Geld und wollte es fortschleudern, als der Gedanke, daß seine Mutter dessen bedürftig sei, ihn davon abhielt. Er wollte die Beleidigung ignorieren.

In demselben Moment war der Pfarrer um die Straßenecke gebogen und hatte den Blick des Unwillens auf dem Antlitze des Knaben aufgefangen und gesehen, wie er zitternd vor Ingrimm das Geldstück in die Hand drückte; er hatte auch die Thränen des beleidigten Ehrgefühls bemerkt, die über seine Wangen liefen.

Als der Knabe den ehrwürdigen Priester herankommen sah, versuchte er zu entfliehen, aus Furcht, eine Erklärung geben zu müssen, die ihn mit Scham erfüllt hätte; aber er hatte keine Zeit mehr dazu. Der Pfarrer ergriff ihn beim Arme und fragte ihn mit strenger Stimme: »Alfonso, was hast du gethan?«

Das Kind antwortete nicht.

»Hast du um dieses Geld gebeten?«

»Nein, Hochwürden,« beeilte sich das Kind zu sagen.

»Wie kommst du dann dazu?«

»Ich weinte, und sie haben es mir gegeben.«

»Und du hast es angenommen?«

Das Kind errötete bis zu den Haarwurzeln und stotterte: »Sie kennen mich nicht, und ich weiß auch nicht, wer sie sind.«

»Und ist das vielleicht ein Grund, daß du, der Sohn des Doktors Giulio und der Marquise Isabella, ein Almosen annehmen durftest, das wohl besser in bedürftigere Hände hätte gelangen sollen?«

Alfonso fing an, noch heftiger zu schluchzen.

»Und warum weintest du?«

Der Knabe meinte zu ersticken, und doch mußte er antworten.

»Weil … weil … Mama … Marsala … brauchte.«

»Hattet ihr keinen?«

»Nein, Herr Pfarrer.«

»Und Geld zum Kaufen?«

»Auch nicht; es ist schon alles ausgegeben …«

An die Mauer gelehnt, den Kopf in die Hände vergraben, weinte das Kind zum Erbarmen.

Der gute Pfarrer, der auf solche Enthüllungen nicht gefaßt war, wurde von schmerzlichem Erstaunen ergriffen und bereute, diesen Knaben, der bereits eine so tiefe Demütigung erlitten hatte, so hart angelassen zu haben. Er änderte sofort Stimme und Benehmen, und ihn liebkosend, rief er aus: »Armes Kind! armer Alfonso! komm' schnell mit mir! Warum bist du nicht gleich gekommen, um es mir zu sagen? Du weißt, ich bin hier der Vater aller, und wer etwas auf dem Herzen hat, der soll sogleich seine Zuflucht zu mir nehmen!«

Als sie im Pfarrhause angelangt waren, händigte er dem Knaben zwei Flaschen Marsala ein mit den Worten: »Geh' nun schnell zu deiner Mutter zurück; laß es ihr an nichts mangeln, und wenn du irgend etwas brauchst, komm' nur zu mir!«

An diesem Abend nahm der würdige Don Giuseppe seinen unterbrochenen Spaziergang nicht wieder auf. In sein Studierzimmer tretend, setzte er sich in seinen lederüberzogenen Lehnstuhl, stützte den Arm auf den Schreibtisch und das Haupt in die Hand, und blieb eine geraume Weile in dieser Stellung in ernstes Nachdenken versunken. Dann stand er rasch auf, durchschritt den anstoßenden Saal und ging in die Küche.

»Menika,« sagte er zur Haushälterin, welche eben beschäftigt war, die einfache Abendmahlzeit zu bereiten, »richte mir morgen früh meinen Sonntagsrock her und bereite mir etwas Warmes; denn ich will gleich nach der Messe fortgehen. Wahrscheinlich werde ich den ganzen Tag über ausbleiben.«

In sein Zimmer zurückgekehrt, las er sein Brevier; er schien jedoch etwas zerstreut; man merkte dies an seiner Hand, die öfters über die Stirn strich und an dem wiederholten Schütteln des Hauptes; das pflegte er stets zu thun, wenn er die Zerstreuungen verjagen wollte.

Des anderen Morgens begab sich Don Giuseppe im sonntäglichen Talar, mit dem Kragen auf den Schultern und dem weißen Schirm unterm Arm, gleich nach der Messe auf den Bahnhof und bestieg den Zug, der ihn zur nächsten Stadt führen sollte, um sich von dort aus, zweifelnd und hoffend, nach Bellavista zu begeben.


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