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Ich war nun schon seit vier Jahren Straßenwart; da wurde mir bedeutet, ein neuerdings von meiner Mutter eingereichtes Gesuch habe sichere Aussicht auf Erfolg. Daß ich so lange auf dem Posten aushalten würde, hätte wohl niemand geglaubt. Zu wiederholten Malen war ich daran, in die Einsamkeit zurückzuflüchten, denn meine Erlebnisse im Hause waren häufig danach angetan, einem den Verkehr mit den Menschen zu verleiden, aber immer wieder hatte ich diesen Schritt verschoben auf das letzte Halbjahr meiner Haft, als deren Endtermin mir der 15. April 1925 galt. Die letzten sechs Monate wollte ich dazu verwenden, die gesammelten Eindrücke zu sichten, wollte mich von meinen geliebten Büchern verabschieden und mich vorbereiten auf den »geordneten Rücktritt ins bürgerliche Leben«, wie die Hausordnung so schön sagt. Ich sah ihm mit gemischten Gefühlen entgegen, diesem Rücktritt ins bürgerliche Leben. Sein Hauptwert bestand für mich darin, daß er mir die Ellenbogen frei machte für den Kampf um mein Recht, den ich entschlossen war zu führen mit allen Mitteln. Natürlich würden Jahre darüber vergehen; Jahre, denen es an Inhalt und Zweck nicht fehlen würde. Aber nachher? Was sollte ich beginnen, wenn der Kampf vorüber war? Angenommen, ich blieb Sieger. Dann würde mir das Stigma des Verbrechers offiziell abgenommen, und ich durfte mit reiner Tafel von vorn anfangen. Und die vergangenen achtzehn Jahre, ließen sich die so einfach auslöschen wie das Fehlurteil, dessen Folge sie gewesen? Gesundheitlich hatten sie mir nicht geschadet, im Gegenteil. Es war sogar nicht einmal so leicht zu sagen, ob sie mir seelisch geschadet hatten; Vorteile und Nachteile mochten sich ungefähr die Wage halten; es sah nicht aus, als ob ich untauglich geworden sei für den Kampf ums Dasein. Wenn der innere Antrieb vorhanden war, würde ich wieder hochkommen in der Welt. Vielleicht erwachte während der kommenden Kampfjahre dieser Antrieb wieder, zurzeit schlief er; das Treiben der Menschen, die Jagd nach Reichtum und Glück, schien mir ziemlich sinnlos. Es lohnte nicht, sich daran zu beteiligen. Was dabei bestenfalls herauskam, kannte ich ja von früher zur Genüge; ich verspürte kein Gelüste nach einem zweiten, verdünnten Aufguß dieser problematischen Dinge, die man nur begehren kann, wenn man jung ist und Illusionen hat.
Angenommen, ich blieb nicht Sieger. War es nicht wahrscheinlich, daß die Gerichte sich meinen Anträgen verschließen würden? Eine abgeurteilte Sache wieder aufzunehmen, wie schwer ist das. Auch ein ganz unvoreingenommener Richter wird nicht leicht dafür zu haben sein. Und auf unvoreingenommene Richter durfte ich gar nicht rechnen, denn ich wußte aus vielen kleinen Anzeichen, daß in den maßgebenden Kreisen der gleiche Geist herrsche, der meine Verurteilung verschuldet hatte. Oft dachte ich an den Ausspruch des Justizministers: Formell zwar manches nicht in Ordnung, aber materiell ist ihm kein Unrecht geschehen. Das war eine Formel, die meinen Bemühungen wenig Gutes verhieß. Wenn ich nun mit meinem Gesuch überall abgewiesen wurde und alle Rechtsmittel erschöpft waren, was dann? Dann durfte ich als begnadigter Verbrecher unter den Menschen leben. So oft meine Gedanken bei diesem Punkt anlangten, kam ich in Gefahr, die Selbstbeherrschung zu verlieren. Nicht weiter auf dem Wege!
Unter den Gefangenen verbreitete sich das Gerücht: Der Straßenwart wird entlassen. Viele wünschten mir Glück. Mancher fragte neugierig, was ich zu tun gedächte, wenn ich die Freiheit wiedergewonnen hätte. Alle, die mit mir sprachen, setzten als selbstverständlich voraus, daß ich den Gang aus dem Zuchthaus mit frohem Herzen antreten würde als einen Gang aus dem Elend ins Wohlleben. »Jetzt haben Sie's überstanden, nun kommen wieder bessere Tage für Sie, bald werden Sie das Schwere, das hinter Ihnen liegt, vergessen haben« – das war so die Rede, die ich oft genug zu hören bekam. Nur ein älterer Aufseher, der mich seit vielen Jahren gut kannte, sagte zu mir: »Ich will Ihnen nur das eine wünschen, daß es Ihnen mit Ihrer Wiederaufnahme glückt, denn andernfalls täten Sie am besten, gleich wieder zu uns zu kommen.« Worauf ich erwiderte: »Wenn ich nicht fest darauf vertraute, daß es glückt, bliebe ich lieber hier.«
Daß mein Aufenthalt im Zuchthaus sich dem Ende zuneige, wußte ich seit Anfang August. An einem der ersten Tage dieses Monats ließ mich der Direktor vorführen und gab mir Kenntnis von einem Schreiben des Ministeriums, in dem ich aufgefordert wurde, mich darüber zu äußern, ob ich gewillt sei, die Bedingungen anzunehmen, unter denen eventuell eine Entlassung erfolgen würde. Was für Bedingungen? Nun, die allgemein üblichen Bedingungen seien, daß der Entlassene sich gut führe, mit Staatsanwalt und Polizei nicht in Konflikt gerate, pünktlich seine Steuern bezahle, nicht in Trunksucht verfalle, und dergleichen. Diese Bedingungen war ich gern bereit anzunehmen; sonst nichts? Der Direktor zuckte die Achseln; was das Ministerium etwa sonst noch vorschreiben werde, könne man im Augenblick noch nicht sagen, aber jedenfalls werde nichts für mich Unannehmbares darunter sein. Ein wenig mißtrauisch verließ ich das Bureau.
War es ein Danaergeschenk, das sie mir da machen wollten? Daß ich nach meiner Entlassung mit aller Macht die Wiederaufnahme zu betreiben vorhatte, wußten sie im Ministerium ganz genau, darüber konnte nie ein Zweifel sein. Das Recht der Wiederaufnahme mir zu beschneiden durch eine diesbezügliche Bedingung bei der Entlassung, durften sie doch gar nicht wagen, das würde den schlechtesten Eindruck machen. Es wäre überdies eine juristische Anomalie. Also das war ausgeschlossen. Aber vielleicht würden sie von mir verlangen, daß ich außer Landes ging. Auch das war nicht wahrscheinlich, denn die Gesuchstellerin, die persönlich im Ministerium gewesen war, hatte dem Minister ausdrücklich gesagt, ich würde zu ihr nach Hause kommen; womit der Minister sich einverstanden erklärt hatte. Vielleicht würde man mir Vorschriften machen bezüglich meines Wohnsitzes. Aber auch das war eigentlich kaum tunlich, denn man konnte doch im voraus gar nicht wissen, ob es mir möglich sein würde, in dem kleinen Städtchen, das meine Mutter bewohnte, Beschäftigung zu finden. Je mehr ich über diese in Aussicht gestellten Bedingungen nachdachte, desto übler gefiel mir die Sache.
Inzwischen traf ich alle Vorbereitungen zur Abreise, packte meine Bücher ein und schickte sie nach Hause. Die nötigen Kleidungsstücke wurden beschafft. Geistesabwesend ging ich umher und verrichtete nur das unbedingt Notwendige von meinen Geschäften. In der heißen Mittagsstunde, wenn überall die größte Ruhe herrschte, begab ich mich auf den Dachboden hinauf und sah hinaus in die Welt. Da führte hinter der Anstalt eine Straße an einem Hügel entlang durch Acker und Weinberge. Es war ein freundliches Stück Natur. Die mit Früchten vollbehangenen Obstbäume, die gelben Weizenfelder, die grünen Reben, das alles verschlang ich mit den Augen, konnte mich nicht sattsehen. Auf einer Wiese, die an die Mauer grenzte, lagen Wäschestücke zum Bleichen, ein junges Mädchen hantierte dazwischen mit in der Sonne funkelnder Gießkanne. Wie flink und emsig sie sich auf den schmalen grünen Pfaden zwischen den weißen Laken bewegte. Ob sie wohl hübsch war? Die Entfernung war zu groß, man konnte die Gesichtszüge nicht unterscheiden. Auf der Straße zogen Fuhrwerke vorüber, langsam, mit Kühen bespannt, Frauen darauf mit hellen Kopftüchern, der Bauer schritt gemächlich neben den Tieren her und ließ die Peitsche knallen. Scherzworte und Lachen drangen herauf zu der grauen Gestalt an der Dachluke.
Das war die Welt, in die ich jetzt wieder zurückkehren sollte. Schön war sie, diese Welt. Wieder durch einen Wald gehen dürfen – Heidelbeergesträuch, hochragende Buchen, Rauschen der Wipfel – welch eine Wonne mußte das sein. Oder auf einem Flusse fahren im Nachen, die Finger in die kühlen Fluten getaucht. Und erst das Meer! Wenn ich das Meer zum erstenmal wiedersah, mußte ich mein Herz fest in beide Hände nehmen, sonst zersprang es. Ja, schön war die Welt und berauschend der Gedanke, ihre Schönheiten wieder genießen zu können. Aber, aber die Menschen ...
War ich abends in der Zelle allein und die Dunkelheit hereingebrochen, dann stellte ich den Stuhl an das geöffnete Fenster und schaute hinaus in die geheimnisvolle Sommernacht. Wie unsagbar herrlich war der Sternenhimmel. Wie würzig die Luft. Wie gern lauschte ich dem eintönigen Zirpen der Grillen; wenn es eine Minute aussetzte, wie beruhigend umfing das tiefe Schweigen die Seele. Töricht, sich Sorgen zu machen.
So vergingen einige Wochen. Am Montag, dem 26. August, wurde ich aus dem Hofe geholt, wo ich gerade auf den Steinen kniete und mit einem Messer das Gras auskratzte; ich folgte dem Aufseher, der mich zum Arbeitszimmer des Direktors geleitete. Nach einer Weile öffnete der Inspektor die Tür und winkte mir, einzutreten. Hinter dem Tisch standen der Direktor und sein Stellvertreter, ein Staatsanwalt, der vorübergehend im Gefängnisdienst tätig war. Der Direktor hatte gerade Urlaub, aber da er sich zufällig am Orte befand, wollte er bei meiner Entlassung zugegen sein. Er hielt ein Schriftstück in der Hand und sagte, er freue sich, mir eröffnen zu können, daß meine Begnadigung nunmehr durch das Staatsministerium verfügt sei; er hoffe, daß ich mich auch darüber freue, und ich solle mir meine Freude nicht beeinträchtigen lassen durch die Bedingungen, die man mir aufzulegen für notwendig erachtet habe. Es seien Bedingungen, die man als ungewöhnlich bezeichnen müsse. Er sei angewiesen, meine Unterschrift zu verlangen unter einer Erklärung, in der ich verspräche, nach meiner Entlassung zwei Dinge nicht zu tun. Erstens dürfe ich eine gewisse Persönlichkeit, die in meinem Prozeß eine wichtige Rolle gespielt, nicht angreifen; und zweitens dürfe ich die Begebenheiten des Prozesses und der Haft nicht zum Gegenstand sensationeller Darstellungen machen; beide Einschränkungen gälten für die Dauer von sechs Jahren; ob ich bereit sei, eine entsprechende Erklärung zu unterschreiben. Ich überlegte. Bezüglich des ersten Punktes dachte ich kein Wort zu verlieren. Aber der zweite Punkt war gefährlich. Was ist sensationell, und wer entscheidet, ob meine Darstellung sensationell ist oder nicht. Natürlich das Ministerium. Als ich meine Bedenken aussprach, meinte der Direktor, man werde das Wort nicht so auslegen, daß mir dadurch die Hände allzusehr gebunden seien. Er vermute, daß man sich nur gegen Exzesse sichern wolle, gegen tendenziöse Übertreibungen. – Gut, also die Wahrheit würde man doch sagen dürfen? Angenommen nun aber, die Herren fänden meine Darstellung sensationell, was dann? – Dann würde die Entlassung rückgängig gemacht und ich wieder inhaftiert. – Lebenslänglich? – Nein, nur für die Dauer der acht Monate, die noch übrig seien bis zum 15. April. – Wenn ich nun wartete bis zu diesem Termin, würde man mich dann bedingungslos entlassen? – Davon sei er überzeugt, sagte der Direktor, denn in dem Staatsministerialerlaß, der damals meine Begnadigung verfügte, habe nichts gestanden von dergleichen besonderen Bedingungen. – Aber ganz sicher sei es doch nicht? – Seiner Meinung nach ganz sicher.
Mir schien das nicht so ganz sicher. Was sollte das Ministerium hindern, mir am 15. April dieselben Bedingungen aufzuerlegen wie heute? Besonders dann, wenn ich jetzt durch eine Weigerung, die geforderte Erklärung zu unterschreiben, meine Absicht zu erkennen gab, gerade das zu tun, was die Herren mir verwehren wollten. Und dann: durfte ich meine Mutter, die mich mit Sehnsucht erwartete, enttäuschen durch eine solche Weigerung?
Nach einigem Nachdenken erklärte ich mich bereit, die Unterschrift zu vollziehen, und bat um die Erlaubnis, meine Mutter telegraphisch verständigen zu dürfen, damit sie jemand schicken könne, mich abzuholen. Selber zu kommen, wie ursprünglich geplant, war sie durch Krankheit verhindert. Schon hatte der Direktor Papier und Bleistift in der Hand, um das Telegramm aufzusetzen, da mischte sich der Herr Staatsanwalt ins Gespräch. Ein solcher Aufschub meiner Abreise sei nicht statthaft. In dem Ministerialerlaß sei die sofortige Entlassung angeordnet. Er könne die Verantwortung nicht auf sich nehmen, mich auch nur einen halben Tag länger in Haft zu halten, als angeordnet sei, denn wenn mir in dieser Zeit irgend etwas zustoße, gerate er in des Teufels Küche. – Aber um Gottes willen, wandte ich ein, was sollte mir denn zustoßen? Siebzehn Jahre lang sei mir im Hause nichts zugestoßen, warum denn jetzt am letzten Tage? – Man könne nicht wissen. Sicher sei sicher. Er schlage vor, daß ich am heutigen Tage etwa bis Frankfurt reise und dort im Hotel warte, bis man mich abhole. Die Polizei in Frankfurt solle benachrichtigt werden, daß sie mich in Ruhe ließe. Er empfehle mir als Absteigequartier, ganz in der Nähe des Bahnhofs, das Hotel Soundso. Nachmittags könne ich mir Frankfurt etwas ansehen, mich abends ins Bett legen, und am nächsten Morgen würde ich dann abgeholt. – »Danke,« sagte ich, »mir Frankfurt anzusehen, verspüre ich keinen besonders heftigen Drang; ich will lieber hier warten, bis ich abgeholt werde, übrigens bitte ich Sie, zu bedenken, daß es für mich jetzt nicht so ganz einfach ist, allein in eine Welt hinauszufahren, die mir fremd geworden ist, und in der ich mich vielleicht sehr schwer zurechtfinde.« – »Lieber Himmel, Sie haben doch früher ganz andere Reisen gemacht als diese Reise nach Frankfurt.« – »Früher hatte ich auch nicht achtzehn Jahre hinter Kerkermauern gesessen. Herr Direktor, haben Sie die Güte, mich noch ein oder zwei Tage in Haft zu behalten.«
Hier intervenierte der seitwärts stehende Inspektor – der einzige seines Standes, für den ich in all den Jahren meines Aufenthalts im Hause immer nur Achtung empfunden habe, ein gerader Mann, streng im Dienst, aber gerecht und wohlwollend – und fuhr mich halb lachend an: Donnerwetter noch mal, so was sei ihm doch noch nie passiert, daß einer eine Stunde länger dableiben wolle als er unbedingt müsse, ich solle doch machen, daß ich hinauskäme.
Der Direktor sah nachdenklich vor sich hin, das Argument seines Stellvertreters schien nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben zu sein. Ich fühlte, daß ich in Gefahr stand, wider Willen mit Gewalt vor das Tor befördert zu werden, da fiel mir ein Ausweg ein. Ich erbat mir zweimal vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit, um mir die Bedingungen nochmals zu überlegen. Inzwischen konnte das Telegramm abgeschickt werden. Damit war man zufrieden, ich wurde in die Zelle zurückgeführt, die ich jetzt nicht mehr verlassen durfte.
Daß ich nicht anders konnte als unterschreiben, war klar. Von zwei Übeln mußte das geringere gewählt werden. Zwar die acht Monate bis zum 15. April würde ich ja wohl überstehen, und wenn es ganz sicher gewesen wäre, daß die Entlassung dann mit keinerlei Bedingungen verknüpft sein würde, so hätte ich vorgezogen, bis dahin zu warten. Aber so gut sie mir jetzt eine Kette ans Bein legten, an der sie mich nach ihrem Belieben wieder in den Kerker zurückziehen konnten, ebensogut würden sie mir nächstes Jahr eine solche Kette anlegen können. Ich hatte mich wohl mit dem Gedanken vertraut zu machen, diese Kette sechs Jahre lang tragen zu müssen. Nun, es war ja keine Kette von Eisen oder Stahl, sondern eine elastische Kette, die es in meinem Belieben lag so sehr in die Länge zu ziehen, daß die Herren schließlich an ihrem Ende vergebens zogen. Solange ich ihrem Zugriff ausgesetzt war, durfte ich nicht hoffen, Ruhe zu finden; aber ihre Macht reichte ja nur bis zur Grenze.
Das Buch zu schreiben war ich fest entschlossen. Auf jede Gefahr hin. Und ich würde es so schreiben, wie es mir paßte. Ich würde es nicht schreiben, um Sensation zu machen; aber wenn irgendeine spießbürgerliche Seele darüber Sensation schrie, so konnte mir das gleichgültig sein.
Langsam gingen der Montag und der Dienstag herum. Den Rest meiner Habseligkeiten schenkte ich dem Schänzer, der besonders über das feine Rasiermesser sehr beglückt war. Am Dienstag in der Mittagsstunde, als die Luft sauber war, schlich sich vorsichtig ein älterer Aufseher in meine Zelle, den ich seit langem gut kannte und gut leiden mochte, und der das Bedürfnis fühlte, mir zum Abschied noch etwas zu sagen. Es bedrückte ihn nämlich die Angst, ich könnte ihn, wenn auch ohne Absicht, in meinem Buche bloßstellen. »Ich bitte Sie um Gottes willen, Herr Doktor, seien Sie ja vorsichtig, bedenken Sie, wie leicht ein Eingeweihter, auch wenn Sie keine Namen nennen, erraten kann, wer gemeint ist.« – »Beruhigen Sie sich, ich werde Sorge tragen, daß niemand durch mich zu Schaden kommt.« – »Ja, können Sie denn das überhaupt?« – »Ich denke doch.« – »Müssen Sie das Buch eigentlich schreiben? Sie gehen ja doch bald wieder zurück nach Amerika, und da haben Sie sicher andere Dinge im Kopf als das Zuchthaus.« – – »Das kann wohl sein, mein Lieber, aber vorher werde ich jedenfalls das Buch schreiben.« – »O jegerle, o jegerle, und wir sitzen hier und müssen die Geschichte ausbaden. Das ist nicht schön von Ihnen. Wir haben Sie doch immer gut behandelt.« – »Das habt ihr. Weshalb? Aus purer Menschenfreundlichkeit? Wohl kaum. Irgendeine Verpflichtung meinerseits ist dadurch gewiß nicht begründet worden. Aber seien Sie zufrieden, ich gebe Ihnen die feierliche Versicherung, daß ich den Schleier der christlichen Liebe über alles hängen werde, was Sie verborgen zu halten wünschen müssen. Ich habe ja auch nicht den Wunsch, an irgend jemand Rache zu nehmen. Das Persönliche ist mir gänzlich einerlei, es geht mir nur um die Sache. Aber das verstehen Sie nicht. Hier haben Sie meine Hand darauf: es geschieht Ihnen nichts.« Einigermaßen beruhigt, schickte er sich an zu gehen. An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Sehen Sie, Herr Doktor, wenn Sie es dem Schulze oder dem Lehmann eintränken würden, diesen schäbigen Schuften, das fände ich begreiflich. Die sind Ihnen ja auch immer Feind gewesen. Denen könnten Sie gut eins versetzen, da hätte ich gar nichts dagegen. Was meinen Sie?« – Ich lachte. »O nein, Verehrtester, so haben wir nicht gewettet. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Der eben erwähnte Schleier deckt alle oder keinen. Pfui, schämen Sie sich, so unkollegialisch zu denken.« Grinsend zog er ab.
Am Mittwoch morgen öffnete jemand, ich konnte nicht sehen, wer, für einen Augenblick die Klappe an der Tür und flüsterte herein: Abreise heute nachmittag um drei. Kurz nachher wurde ich wieder in das Zimmer des Direktors geführt. Diesmal war nur der Stellvertreter anwesend. Er teilte mir mit, daß eine Schwester meiner Mutter gekommen sei, und daß er mit ihr die Stunde der Abreise festgesetzt habe. Ursprünglich hätten sie einen um drei Uhr abgehenden Zug gewählt gehabt, aber dann sei meine Tante beim Fortgehen von einem Aufseher gefragt worden, um welche Zeit ich die Anstalt verlassen würde, habe ihm, ohne Arges zu denken, Bescheid gegeben, sei aber später mißtrauisch geworden und noch einmal zu ihm zurückgekommen. Es scheine ihm dringend geboten, die Stunde des Abschieds geheimzuhalten. Er habe Grund, anzunehmen, daß um zwei Uhr Reporter und Filmleute sich am Tor einfinden und mich zum Objekt ihrer Tätigkeit nehmen würden. Das müsse unter allen Umständen vermieden werden. Darum habe er mit der Dame verabredet, daß nicht der Drei-Uhr-Zug benutzt werden solle, sondern ein zwei Stunden früher abgehender. Um zwölf Uhr werde mich der Kammeraufseher abholen zum Einkleiden.
Darauf unterschrieb ich die Erklärung. Der Herr Staatsanwalt wünschte mir alles Gute auf meinem weiteren Lebensweg und entließ mich.
Noch eine endlos lange Stunde des Wartens. Dann kam der Aufseher, und wir begaben uns auf die Kammer. Ich legte die Gefängniskleidung ab und zog die bereitliegenden Sachen an. Bis zu diesem Augenblick war meine Stimmung weder gut noch schlecht gewesen; ich fühlte nur eine ungeheure Spannung. Jetzt aber überkam mich eine tiefe Traurigkeit, und als ich diese gewaltsam abschüttelte, ein Grimm, wie ich ihn nie im Leben verspürt hatte. Und daß ich noch gute Miene machen mußte zum bösen Spiel, erbitterte mich aufs äußerste. Ich hätte aufschreien mögen, dreinschlagen – und mußte die gutgemeinten Wünsche des Kammeraufsehers und seines Schänzers über mich ergehen lassen, die bei mir nur Glückseligkeit über die wiedergewonnene Freiheit voraussetzten. Die Hände zitterten mir vor Zorn, so daß ich die Schuhriemen nicht zubinden konnte; der Schänzer tat es für mich, indem er sagte: er findet vor lauter Freude die Ösen nicht. Ich wurde mit dem Selbstbinder nicht fertig; der Aufseher schlang mir einen kunstgerechten Knoten und sagte: »Ja, ja, das ist kein Wunder, daß man in einer solchen Stunde sich vor Glück nicht zu fassen vermag.« Endlich war alles erledigt, man hielt mir einen Spiegel vor. Ich sah eine fremdartige Gestalt in dunklem Anzug, ein bleiches Gesicht mit brennenden Augen. So also schaut ein Lebenslänglicher aus am Tage der Entlassung.
Dann kam der Direktor herein, alle anderen verließen das Zimmer, wir standen einander zum letztenmal gegenüber. Ich riß mich zusammen und brachte einige Worte des Dankes heraus. Den Mann persönlich achtete und verehrte ich, aber in diesem Augenblick konnte ich in ihm nur das Organ jener Gewalt sehen, die mich vor achtzehn Jahren aus der bürgerlichen Gesellschaft gerissen, unrechtmäßig verurteilt, ein halbes Menschenleben lebendig begraben hatte, und die mich nunmehr aus Gnade wieder laufen ließ, bedeckt mit dem Brandmal des Zuchthäuslers. Aus Gnade! Nicht zu ertragen war der Gedanke. Oh, daß ich ihnen doch das Geschenk der Freiheit hätte vor die Füße werfen können!
Von dem, was mir der Direktor mit bewegter Stimme in diesen letzten Minuten sagte, ist mir nur das eine in der Erinnerung: »Machen Sie einen Strich unter die Vergangenheit und suchen Sie zu vergessen. Auch wenn Ihnen Ihre Rehabilitation nicht gelingen sollte, bleibt doch noch viel Schönes für Sie übrig.« Worte, die kein Echo weckten in meiner Brust. Vergessen können würde ich nie. Und wenn mir meine Rehabilitation nicht gelang, so blieb nur noch dies für mich übrig: der Weg hinaus.
Der alte Inspektor geleitete mich zum Tor und schüttelte mir mit herzlichen Abschiedsworten die Hand. Dann tat sich die schwere eiserne Pforte auf, ich schritt hinaus.
Hügelabwärts, zwischen Gärten, der Straße zu. Ein feiner, warmer Regen rieselte herab, die Blumen dufteten, Mittagsstille. Unten wandte ich mich um. Ein letzter, langer Blick nach dem Hause des Todes, dann trat ich den Gang an ins freie, weite, schicksalsreiche Leben.
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