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8. Krieg

In der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August wurde man aus dem Schlaf geweckt durch ein ungewöhnlich geräuschvolles Treiben innerhalb wie außerhalb des Hauses. Zuschlagen von Türen, laute Stimmen, statt des sorgsam gedämpften Schlürfens der Filzpantoffeln das rücksichtslose Dröhnen eisenbeschlagener Stiefel, draußen auf der Straße die wuchtigen Klänge der Wacht am Rhein. Was das zu bedeuten hatte, ließ sich leicht erraten. So war er also endlich da, der Krieg, der lange erwartete und lange vorbereitete Krieg. Den Rest der Nacht lag man mit offenen Augen und überdachte die Möglichkeiten der Zukunft.

Als wir am nächsten Morgen wieder in den Hof geführt wurden zum Matratzenmachen, erfuhren wir, daß es sich zunächst nur um eine Kriegserklärung Deutschlands an Rußland handle, die allerdings Frankreich mit auf den Plan rief, aber an ein Eingreifen Englands dachte niemand. Der Geheimrat, der freudeglänzenden Blicks seinen Rundgang machte, versicherte mit kühn geschwungenem Stock, diesmal werde man der Schwefelbande einen Denkzettel geben, und den Einwand, Englands Beitritt zum Zweibund möchte den Ausgang des Krieges in Frage stellen, wies er zurück voll Verachtung der militärischen Ohnmacht des Krämervolkes. Sie hätten ja keine Armee, die Shopkeepers. Jetzt komme es nicht mehr darauf an, wer das größte Maul habe, sondern jetzt sei Gott mit dem, der über die stärksten Bataillone verfüge. Also werde die Sache schon gut gehn. Er erwarte, daß jeder Gefangene an seinem Teil dazu beitrage, daß der Krieg gewonnen würde, in welchem Falle sicher auf eine Amnestie zu rechnen sei. Näheres darüber werde er noch bekanntgeben.

Kaum war er weg, so begann ein aufgeregtes Erörtern der Frage, wie der Krieg wohl unser Leben verändern werde und was wir von ihm zu hoffen hätten. Bloß Fridolin beteiligte sich nicht an dem Geschwätz, sondern hüllte sich in ein geringschätziges Schweigen. Unter vier Augen sagte er zu mir: »Die Esel lassen sich von dem Alten hinters Licht führen. Wenn sie wüßten, was ihrer wartet, würden sie den Schwanz einziehen und heulen. Deutschland wird den Krieg verlieren. Das ist zwar ein Glück für die ganze Welt, aber für uns ist es ein Unglück, denn ehe der Friede geschlossen wird, sind wir alle verhungert. Wie denken Sie darüber?« Ich erwartete auch nichts Gutes. »Jetzt steigen die Zeitungen im Preis,« fuhr er fort, »aber ich will dafür sorgen, daß Sie auf dem laufenden bleiben. Der Schänzer wird Ihnen die Blätter in den Schrank legen, während Sie im Hof sind.«

Die Arbeit wurde noch am selben Tage zu Ende geführt, wir mußten zurück in die Zelle. Die jüngeren Aufseher kamen sich verabschieden. Fast alle zogen freudig und siegesgewiß hinaus, wollten in einigen Monaten, spätestens bis Weihnachten, wieder da sein. Nur die Verheirateten waren in gedrückter Stimmung. An die Stelle der Ausgezogenen traten Zivilpersonen aus der Stadt, kleine Handwerker, denen man den Titel »Ablöser« gab. Es waren meist bejahrte Männer, nicht eben hochwertige Arbeitskräfte, die sich freuten, ein Plätzchen an der Staatskrippe erwischt zu haben, aber nicht gewillt waren, sich im Dienst abzurackern, mit den Gefangenen sich auf einen freundschaftlichen Fuß stellten und fünf gerade sein ließen.

Nähmaschinen wurden in gewaltigen Mengen herangeschafft, es hieß, das Haus solle eine einzige große Schneiderwerkstatt werden zur Anfertigung von Militärmänteln. Zunächst erging die Aufforderung: Freiwillige vor! Wer will fürs Vaterland schneidern? Ich für meine Person hätte lieber weiter Schachteln beklebt, aber als ich dies dem umfragenden Oberaufseher mitteilte, wurde mir bedeutet, es hätten sich alle ohne Ausnahme gemeldet, worauf ich mich natürlich den Patrioten anschloß. Einer der Ablöser, ein altes, verhutzeltes, unsauberes Männchen voll täppischer Neugier und unersättlicher Schwatzhaftigkeit, stellte sich vor als mein Lehrmeister in der edlen Schneiderkunst. Es sei ihm eine Ehre. Er habe schon viel von mir gehört; freue sich, mich kennen zu lernen. Wir würden schon gute Freunde werden. Wenn er irgend etwas für mich tun könne ... und so weiter. Ehe viel Wochen vergangen waren, hatte er mir einen fix und fertigen Fluchtplan vorgelegt. Billig: zehntausend Mark. Halb umsonst. Auch Briefe war er erbötig hinauszuschmuggeln. Ich lehnte alles dankend ab, hatte aber Mühe, mich seiner Zudringlichkeit zu erwehren. Den Polizeidienst in unserem Stockwerk versah jetzt ein prächtiger Alter mit weißem Patriarchenbart, der 35 Jahre lang Aufseher in einem kleinen Amtsgefängnis gewesen und vor kurzem in den wohlverdienten Ruhestand getreten war, nun aber bei Ausbruch des Krieges, nachdem er seine beiden Söhne ins Feld geschickt, sich dem Staate wieder zur Verfügung gestellt hatte. Ein ehrwürdiger Greis, gewissenhaft im Dienst, mit dem Herzen eines Kindes. Er war der einzige alte Aufseher von allen, die ich kennengelernt, den ein so langer Verkehr mit Gefangenen weder härter noch schlechter gemacht hatte. Eine Ausnahme und ein Wunder. Auf die Frage, wie das möglich gewesen sei, entgegnete er, er habe es niemals über sich bringen können, einen der seiner Obhut anvertrauten Unglücklichen roh zu behandeln; er glaube, daß auf solcher Roheit ein besonderer Fluch ruhe; zu wiederholten Malen in seinem Leben habe er beobachten können, wie Gott die Grausamkeit gegen wehrlose Gefangene in auffallender Weise bestrafte; so sei er als junger Aufseher in einem Zentralgefängnis angestellt gewesen, dessen Direktor sich durch besondere Brutalität ausgezeichnet und dem Gott zur Strafe ein furchtbares Leiden zugeschickt habe, dergestalt, daß er bei lebendigem Leibe verhungert sei, er, der so manchen Gefangenen hatte hungern lassen; ein anderer Direktor habe sich, wegen Unterschlagungen zur Rechenschaft gezogen, aus dem Fenster gestürzt. »Auch der Geheimrat hat schon seine Strafe dahin. Seine Tochter, ein hübsches, liebes Mädel, ist mit einem schrecklichen Knochenfraß am Bein behaftet, die Ärmste; sie wird wohl nie einen Mann kriegen. Und wenn der Vater so weiter macht, wird ihn unser Herrgott auch noch selber am Hinterbein packen, Sie werden sehn.«

Alle paar Tage fand ich bei der Rückkehr vom Hof eine Zeitung vor, nicht selten eine Frankfurter. Der rasche Siegeslauf der deutschen Heere durch Belgien und Nordfrankreich machte auch den Skeptiker Fridolin irre; er schrieb mir, am Ende gewinne der Michel doch noch den Krieg, und schloß seine Briefe einige Male mit der spöttischen Frage: Wo bleibt denn Ihr Freund John Bull? Fast wäre ich meinem Grundsatz untreu geworden, niemals einem Gefangenen etwas Schriftliches von mir in die Hand zu geben, und hätte geantwortet: gedulden Sie sich noch ein Weilchen. John ist ein langsamer Bursche, muß erst ein wenig aus seinem Phlegma aufgeprügelt werden (siehe Burenkrieg), aber dann beißt er die Zähne aufeinander und läßt nicht locker, bis der Gegner niedergeboxt ist; er hat noch nie einen Krieg verloren; er wird auch diesen gewinnen, wenn auch vielleicht erst mit Hilfe Bruder Jonathans.

Anfang September schrieb Fridolin, er halte nunmehr Deutschlands Sieg für gewiß und bitte mich, ein Gnadengesuch für ihn aufzusetzen, das er nach Friedensschluß einreichen wolle in der festen Erwartung, man werde bei dieser Gelegenheit auch gegen einen armen Sünder wie ihn Milde walten lassen. So aussichtslos mir die Sache vorkam, ich konnte ihm seine Bitte nicht gut abschlagen. Doch ließ ich ihn dringend auffordern, mein Konzept, wenn er es abgeschrieben, sogleich zu vernichten; was er auch versprach.

Zu meinem Leidwesen mußte ich bald erfahren, daß er sein Versprechen nicht gehalten hatte. An demselben Tage, an dem Antwerpen fiel, wurden meine Zelle aufs peinlichste untersucht und meine sämtlichen Bücher hinausgeschleppt. Einsam und verlassen blieb ich zurück, böser Ahnungen voll.

Was war geschehen? Fridolins Freund, der Maschinist, stand unmittelbar vor seiner Entlassung, ein Viertel seiner Strafe sollte ihm geschenkt werden. Fridolin ließ ihm die letzten Bücher, die er für ihn – ohne den Fiskus mit Meldungen und Rechnungen zu behelligen – eingebunden hatte, durch Bruno zustellen und legte in eines derselben einen Abschiedsbrief, der in sehr indiskreter Weise sarkastische Anspielungen auf gewisse Zustände im Hause enthielt und insbesondere den braven Bruno schwer bloßstellte. Der Maschinist blätterte die Bücher flüchtig durch und fand den Brief nicht. Wohl aber fand ihn anderen Tags der Herr Assessor, der die Privatbibliothek des Gefangenen zu untersuchen hatte, ehe sie aus dem Hause hinaus durfte. Sofort ließ er bei Bruno Haussuchung halten, die natürlich den armen Kerl hinreichend verdächtig erscheinen ließ; so hinreichend, daß er mitten aus dem Dienst heraus verhaftet wurde. Er gestand. Es half nichts mehr, daß sowohl Fridolin wie der Maschinist tapfer drauflos logen und jede Schuld in Abrede stellten. Es half schon deshalb nichts mehr, weil in Fridolins Zelle die unglaublichsten Dinge gefunden worden waren, Lebensmittel aller Art, Zigarren, Zeitungen – und unter anderem auch das von mir aufgesetzte Gnadengesuch, das er zu faul gewesen war abzuschreiben und im Original aufgehoben hatte. Der Assessor erkannte meine Handschrift, stellte Nachforschungen an, der Schänzer wurde ins Gebet genommen und wollte sich ein rotes Röcklein verdienen durch sensationelle Enthüllungen über die zwischen Fridolin und mir bestehende Intimität.

Der Assessor führte die vorläufige Untersuchung mit dem glühenden Eifer des Anfängers, der sich seine Sporen verdienen will; er tat, wie wenn er die Korruption im Zuchthaus mit Stumpf und Stiel herausreißen wolle. Aber nur noch gegen zwei junge Hilfsaufseher brachte er gleich zu Beginn der Untersuchung genügend Belastungsmaterial zusammen, dann versiegten plötzlich alle Quellen. Es war nichts weiter aus den Leuten herauszubringen. Sie hatten alle, wie auf Kommando, das Gedächtnis verloren. Stundenlange Kreuzverhöre blieben ohne Ergebnis.

Über alle diese Vorkommnisse auf unterirdischem Wege genau unterrichtet, erhielt ich eines Abends Meldung, daß ich am nächsten Morgen vorgeführt und als Zeuge vernommen werden würde, der Assessor wisse, daß ich zu den Wissenden gehöre, aber Einzelheiten wisse er nicht; man erwarte, daß ich das in mich gesetzte Vertrauen rechtfertige. Ich meldete zurück: Diskretion Ehrensache.

Das Verhör war von kurzer Dauer. Nach einigen einleitenden Bemerkungen kam die Frage, ob mir etwas bekannt sei von den Durchstechereien und Unterschleifen, die den Gegenstand der gegenwärtigen Untersuchung bildeten. Antwort: Ja. Sehr befriedigtes Lächeln des Herrn Assessors, er fordert den Protokollführer auf, das Zimmer zu verlassen. »So, jetzt sind wir ganz unter uns. Nun erzählen Sie mir doch mal ganz ungeniert, was Sie über die Sache in Erfahrung gebracht haben. Es ist ja eine wahre Wohltat für mich, einmal einen anständigen und gebildeten Menschen als Zeugen hören zu können. Also schießen Sie los.«

»Es tut mir leid, Herr Assessor, Ihre Erwartungen enttäuschen zu müssen. Ich kann zu der Angelegenheit keine weiteren Aussagen machen.«

»Aber Sie sagten doch, Sie wüßten ...«

»Gewiß weiß ich allerhand, teils aus eigener Wahrnehmung, teils vom Hörensagen. Aber ich bin nicht in der Lage, davon Mitteilung machen zu können.«

»Warum nicht?«

»Ich bin auch nicht in der Lage, die Gründe angeben zu können, die mich zum Schweigen bestimmen.«

Das Gesicht des Herrn Assessors wurde sehr lang. Er schüttelte den Kopf und erklärte in verzweifeltem Tone, da solle der Teufel eine Untersuchung führen. Darauf versuchte er in liebenswürdigster Weise, mich zum Reden zu bringen. Es kam nichts heraus dabei.

Zu guter Letzt sagte ich ihm folgendes. Er habe allen Grund, sich's an dem bisherigen Ergebnis der Untersuchung genügen zu lassen. Er habe erreicht, was unter den Umständen zu erreichen gewesen sei. Den ganzen Rattenkönig von Spitzbübereien aus der Strafanstalt auszurotten, sei eine Herkulesarbeit. Selbst wenn sie, was ich für unmöglich halte, gelänge, so würden die Zustände nach einiger Zeit genau wieder dieselben sein. Denn die Luft im Hause sei zu voll von Keimen moralischer Fäulnis. Da gebe es nur ein einziges Heilmittel: radikale Änderung des Systems, wozu die hochmögenden Herren am grünen Tisch wenig Lust hätten. Sie seien mit dem Strafvollzug zufrieden und wollten in dieser Zufriedenheit weder selber gestört sein, noch sähen sie es gern, wenn Publikus diesbezüglich in Aufregung versetzt würde. Publikus sei ja auch zufrieden. Also wozu diese schöne Zufriedenheit gefährden.

Nachdenklich hörte er zu, ging nicht weiter auf die Sache ein, sondern ließ nur meine Weigerung, Aussagen zu machen, protokollieren.

Einige Tage nachher kam der Geheimrat selber zu mir und versuchte sein Glück. Zuerst im guten. Er klagte beweglich, wie schwer es für ihn sei, mit so pflichtvergessenen Untergebenen sein verantwortungsvolles Amt in der rechten Weise zu verwalten. Er sitze ja wie auf einem Vulkan. Ich dachte bei mir: säßest du doch nur auf einein wirklichen Vulkan, und zwar möglichst weit weg, in Mexiko oder Hinterindien, auf dem Popokatepetl oder Krakatau, ich sähe dich lieber dort als hier vor mir. Laut antwortete ich ihm in der höflichsten Weise, ich hätte für seine üble Lage volles Verständnis; müsse aber sehr bedauern, daß meine eigene üble Lage mir nicht gestatte, ihm zu Hilfe zu kommen. Er versicherte hoch und heilig, es würde mein Schaden nicht sein. Entschiedene Weigerung meinerseits, diese Versicherung für bare Münze zu nehmen. Darauf ging er von Moll zu Dur über. Ich durchlebte eine tolle Viertelstunde. Wenn er auch nicht alle Rücksichten vergaß, sein Toben ging mir doch auf die Nerven. Zum Schluß erklärte er, die Sache werde nunmehr dem Untersuchungsrichter des zuständigen Landgerichts übergeben, und der werde wohl Mittel und Wege finden, bockige Zeugen kirre zu machen. Inzwischen müsse er wegen Übertretung der Hausordnung eine Disziplinarstrafe über mich verhängen, wolle aber, »um mir keinen Klecks in die Konduite zu machen«, von einer regelrechten Hausstrafe absehen und mir nur bis auf weiteres alle meine eigenen Bücher entziehen mit Ausnahme des Neuen Testaments. Auf die Art hätte ich dann Zeit, mir alles gründlich zu überlegen. Vielleicht bringe mich das doch noch zur Räson.

Graue Herbsttage zogen ins Land. Ich saß auf meinem Arbeitstisch mit untergeschlagenen Beinen und nähte. Und fror wie ein Schneider. Kein Mensch traute sich mehr zu mir herein, ich wurde gemieden wie ein Pestkranker, die Hand des Herrn lag schwer auf mir. Nur spärlich sickerten die Nachrichten durch. Bücher gab es keine mehr, meine einzige Lektüre war die englische Ausgabe des Neuen Testaments, die mir nach meiner Verurteilung durch die Londoner Bibelgesellschaft übersandt worden war und die ich jetzt zum erstenmal mit Aufmerksamkeit durchlas; was zwar meinen Sprachkenntnissen sehr zugute kam, aber meine Stimmung nicht verbesserte. Mit Grauen sah ich den siebenten November herannahen, den Tag meiner Verhaftung. Waren wirklich schon acht Jahre verflossen seitdem? Wie deutlich stand mir alles noch vor Augen! Wieder einmal durchlebte ich die schicksalsvollen Stunden des letzten Tages der Freiheit. Nicht als ob es nur die Phantasie gewesen wäre, die nachträglich einen dunklen Schleier zog über alle Geschehnisse. Die Wirklichkeit war grau in grau. Die Fahrt von Ostende nach Dover über das graue, vom Regen gepeitschte Meer – ich lag auf dem obersten Deck im Liegestuhl und sah die Küste des Festlandes verschwinden, Trauer und Sehnsucht im Herzen – Dover, der sturmumheulte Landungsplatz, das lange Warten in dem Zug, der gar nicht abfahren wollte – plötzlich hörte der Regen auf, die Sonne kam heraus und warf ihre letzten schwachen Strahlen über die Äcker und Obstgärten Kents – vorüber an dem altersgrauen Canterbury – dann ein hübsches, farbiges Bild: Herren und Damen in rotem Dreß reiten heim von der Fuchsjagd, an der Spitze ein junges Paar, strahlend von Glück und Lebenslust; sie setzen ihre Hunter in Galopp und fegen eine Zeitlang neben dem Zuge her, der sie langsam überholt – Dämmerung, nebelumhüllte Vorstädte, Charing Croß – im Cab nach dem Hotel – als ich ausstieg, schlug Big Ben sechs. Und dann die letzten Minuten am Teetisch mit Frau und Kind. Jäher Blitzstrahl, Betäubung, Entsetzen.

Ich sitze auf meinem Arbeitstisch mit untergeschlagenen Beinen und nähe Knöpfe an. Stich um Stich, Knoten drauf, Faden abgerissen. Ja, reißen wir den Faden ab.

*

Aus allem, was man hörte, ließ sich entnehmen, daß der Krieg in ein neues Stadium getreten war. Die Siegesberichte, die anfangs jeden Sonntag in der Kirche verkündet worden waren, wurden seltener, gedämpfter im Ton. Von einem baldigen Friedensschluß war nicht mehr die Rede. Zu Weihnachten würden die ins Feld gezogenen Aufseher wohl nicht zurückkommen. Einige würden überhaupt nicht zurückkommen.

Ende November wurde ich vor den Untersuchungsrichter geführt. Dieses Mal ging man mir mit allen Schikanen zu Leibe. Am meisten ärgerte der Herr Landgerichtsrat sich darüber, daß ich jede Diskussion über die Gründe meines Verhaltens ablehnte. Er äußerte endlich, ich hätte wohl Angst vor der Rache, die an mir genommen werden könnte von den Kollegen der Verratenen; in dieser Hinsicht brauchte ich nichts zu befürchten, da man mich nötigenfalls in eine andere Anstalt versetzen würde. Ich ging nicht darauf ein. Er fuhr fort: »Sie sind doch Jurist, es muß Ihnen also doch auch daran gelegen sein, der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen.« Ich konnte mich nicht enthalten, ihm mit einiger Bitterkeit zu bemerken, daß ich zu besagter Gerechtigkeit alles Vertrauen verloren hätte und nichts mehr mit ihr zu schaffen haben wollte. Nach dreistündigem Hin und Her waren wir so weit wie am Anfang, der Herr Untersuchungsrichter klappte den Aktendeckel zu und sagte: »Nun gut, wenn Sie jetzt hier nicht reden wollen, werden Sie einfach als Zeuge geladen zur Verhandlung, man wird Sie vereidigen, und Sie wissen ja, welche Strafe auf Meineid steht.«

»Ich werde den Eid verweigern.«

»Das dürfen Sie nicht. Es wird Ihnen doch bekannt sein, daß gesetzlich nicht begründete Eidesverweigerung strafbar ist.«

»Mit sechs Wochen Gefängnis, soviel ich mich erinnere. So sperren Sie mich halt sechs Wochen ins Gefängnis. Es wird eine nette Abwechslung sein. Aber Sie werden mich weder wegen Eidesverweigerung einsperren noch überhaupt unter Eid nehmen. Aus dem einfachen Grunde, weil Sie mich gar nicht vorladen werden. Das gäbe ja einen famosen Skandal, wenn der lebendig Begrabene da plötzlich im Gerichtssaal auferstünde und von Rechts wegen aufgefordert würde, seine Erlebnisse im Zuchthaus zu erzählen.«

Damit war die Tortur beendet, ich wurde abgeführt. Tortur? Nun ja, eine Art Tortur ist so was. Freilich nur eine abgeschwächte Abart des so bewährten genialen Mittels, durch das Frau Justitia in früheren Jahrhunderten leichte Siege zu erfechten pflegte.

Bruno wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die beiden Hilfsaufseher kamen mit gelinderer Strafe davon. Alle drei brauchten ihre Strafe nicht abzusitzen, sondern wurden an die Front geschickt – Schützengraben anstatt Gefängnis, eine merkwürdige Gleichung. Fridolin dagegen erhielt eine Zusatzstrafe von anderthalb Jahren Zuchthaus, die er bis zum letzten Tage absitzen mußte; der Maschinist neun Monate Gefängnis, außerdem wurde der Erlaß der zwei Jahre Zuchthaus rückgängig gemacht, was ihn, da er sich schon ganz auf die vorzeitige Entlassung eingerichtet hatte, sehr hart traf. War diese Strafausmessung gerecht?

Wenn ein Gefangener und ein Aufseher gemeinsam den Fiskus betrügen, wer hat die größere Schuld? Bei wem ist der Willensentschluß freier? Ein Dieb sitzt hinter Schloß und Riegel, er soll gebessert werden. Eines der staatlichen Organe, das zu seiner Besserung berufen ist, sucht ihn zum Diebstahl zu verleiten. Sagt er ja, so sind ihm mancherlei Vorteile gewiß; sagt er nein, so macht er sich einen Vorgesetzten zum Feind, der ihn die Weigerung auf mehr als eine Weise entgelten lassen kann. Und weshalb soll er nein sagen? Er ist ja schon ein Gebrandmarkter, hat keine Reputation mehr zu verlieren. Gegen die Gesellschaft und ihre Ordnung erbittert, hält er Rechtlichkeit und Ehrlichkeit für Maske; hat er nicht jetzt wieder einen Beweis dafür, wie richtig seine Auffassung ist? Sogar die Beamten in der Strafanstalt sind Spitzbuben. Die es doch wahrhaftig nicht nötig hätten, denn der Staat gibt ihnen ein auskömmliches Gehalt. Die sich doch wahrhaftig schämen sollten, sie, die Träger der Uniform. Sie stehlen trotzdem. Also warum soll er, der staatlich abgestempelte Spitzbube, nicht auch stehlen? Wo alles stiehlt, kann er allein nicht – die Standarte der Tugend hochhalten. Nun bringt ein böser Zufall die Sache ans Licht, das ungleiche Paar tritt vor die Schranken des Gerichts. Und siehe da, den Verführten trifft die Schärfe des Gesetzes, während der Verführer so gut wie frei ausgeht. Warum? Weil eine Krähe der anderen die Augen nicht aushackt denkt Fridolin.

Natürlich wurde ich zu der Verhandlung nicht geladen. Ich durfte ruhig fortfahren, Knöpfe anzunähen an die Militärmäntel, von denen vielleicht einer vom Schicksal dazu bestimmt war, den Vaterlandsverteidiger Bruno im Schützengraben warm zu halten; wäre mir doch durch ein Gesicht geoffenbart worden, welcher Mantel das war, ich hätte an demselben die Knöpfe mit besonderer Liebe besonders fest angenäht. Ich las in dem Neuen Testament jeden Tag ein Kapitel oder zwei. Meine Sehnsucht nach etwas minder frommer Lektüre wurde immer stärker. Zeitungen und Kriegsbroschüren hätte ich wieder haben können, so viele ich wollte, denn die Geschonten waren bereit, sich dankbar zu erweisen. Aber ich trug Verlangen nach meinen eigenen Büchern; das Interesse für Krieg und Kriegsliteratur war fast ganz geschwunden. Der neue Pfarrer, der um diese Zeit seinen Dienst antrat, hielt in der Kirche über die neue Kriegslage einen langen Vortrag, aus dem, ungeachtet alles Fanfarenblasens, zu entnehmen war, daß es weder im Westen noch im Osten sonderlich glänzend stand. Die übermäßig kriegerische Gesinnung, die der geistliche Herr zur Schau trug, gab den Gefangenen Anlaß zu Spott; an seine Siegesberichte glaubte man bald nicht mehr.

Einige Zeit vor Weihnachten erhielt ich ganz unerwartet aus der Anstaltsbibliothek einen Band »Hochland« zugestellt. Ich traute meinen Augen nicht. »Ist das kein Irrtum?« fragte ich den Weißbart. Der gute Alte schmunzelte und meinte, das Herannahen der Weihnacht habe wahrscheinlich das harte Herz erweicht. Ich blätterte in dem Buche hin und her, freute mich über die Bilder, suchte wählerisch nach dem Artikel, dessen Überschrift am meisten versprach, die Schneiderarbeit war vergessen. Als ich beim Essen saß, öffnete sich die Tür, und herein trat der Gestrenge mit einem Herrn, der mir unbekannt war. Dieser stellte sich vor als der neue Ministerialreferent. Ein vornehmer Mensch von einfachem und offenem Wesen. Er erkundigte sich eingehend nach allem möglichen, unter anderem auch nach meiner Ihering-Übersetzung, wobei ich Gelegenheit nahm, mich zu beklagen über die nachträgliche Entziehung der vor fünf Jahren zugesicherten Publikationserlaubnis. Er vertröstete mich auf später. Zurzeit sei ja an eine solche Publikation überhaupt nicht zu denken, nach Kriegsende werde man sehen. Lange könne der Krieg wohl nicht mehr dauern. Als der hohe Herr sich zum Gehen anschickte, ergriff unser Tyrann den auf dem Tisch liegenden Band und hielt ihn, ohne ein Wort zu sagen, dem Ministerialrat entgegen, so daß derselbe den Titel lesen konnte. »Ah, Hochland? Das ist ja etwas Ausgezeichnetes. Damit werden Sie doch sicher zufrieden sein?« Natürlich war ich zufrieden, sehr zufrieden.

Wie sollte ich auch nicht zufrieden sein mit diesem Weihnachtsgeschenk des durch das Herannahen des Liebesfestes – oder war es das Herannahen des Ministerialkommissars? – zur Milde gestimmten Herrn Geheimrats. Ich dachte, das Eisen muß man schmieden, solange es heiß ist, und bat ihn bei seinem nächsten Besuch um Rückgabe meiner Bücher. Aber da kam ich schön an. Er fauchte los wie ein auf den Schwanz getretener Tiger. Wo ich eigentlich dächte, daß ich sei? Etwa in einer Bibliothek? Oder in einem Sanatorium? Ich sei im Zuchthaus. Und er wolle dafür sorgen, daß mir das noch zum Bewußtsein gebracht werde, falls ich es bisher noch nicht gemerkt hätte. Er habe mich früher mit Wohlwollen behandelt. Dieses Wohlwollen hätte ich verscherzt. Verscherzt durch mein ganz unqualifizierbares Verhalten in einer wichtigen Angelegenheit, von der ich genau gewußt hätte, wie sehr sie ihm am Herzen lag. Nicht wie ein anständiger Mensch, für den er mich immer gehalten, hätte ich gehandelt, sondern mich auf die Seite der Spitzbuben geschlagen, was er mir nie vergessen werde, solange er lebe. Grimmig sei er enttäuscht worden. Und ich dürfe mich keiner Gunst mehr von ihm versehen, damit sei es vorbei für alle Zeit.

In der Tat, ich bekam meine Bücher erst zurück nach seinem Tode. Sein Nachfolger ließ mir die Kiste in die Zelle stellen am Tage vor Weihnachten. Diesmal war es ein wirkliches Weihnachtsgeschenk, das größte, das mir je gemacht worden ist.


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