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An einem Hochsommertag öffnet sich gegen fünf Uhr morgens die Tür, die vom vierten Flügel in den Hof führt, und heraus marschiert, geleitet von einem älteren Aufseher, ein Häuflein Gefangener und macht halt vor einem Schuppen, neben dem in langen Reihen Holzscheite aufgestapelt liegen. Der Aufseher hält eine kurze Ansprache, die üblichen Warnungen und Strafandrohungen. Darauf verteilt er Sägeböcke, Sägen und Beile, und der eine Teil der Leute beginnt mit der Arbeit des Holzzerkleinerns.
Etwas abseits vom Holzplatz richtet der andere Teil eine Werkstatt ein für Matratzenbearbeitung. Ein Gefangener, der Sattler und Tapezierer von Beruf ist, wird als Vorarbeiter eingesetzt und erhält zwei Lehrlinge zur Ausbildung zugewiesen. Von den übrigen vier Mann sollen drei solche Arbeiten verrichten, die keine besonderen Fachkenntnisse erfordern, wie z. B. das Zupfen des neuen Seegrases, das Auftrennen der alten Matratzen, Waschen der Hüllen und dergleichen mehr, während einer an der Nähmaschine tätig ist. Bald ist der Betrieb in vollem Gange.
Über dem mit Obstbäumen bestandenen Hügel, der sich jenseits der Mauer erhebt, ist die Sonne aufgegangen. Manch sehnsüchtiger Blick schweift hinüber nach dem kleinen Stück freier Natur, mit tiefen Zügen wird die würzige Morgenluft eingeatmet in die sich weitende Brust. Welch eine Wohltat nach langem Hocken in enger Zelle. Aber auch welch ein Schmerz beim Anblick der schönen Welt, von der man ausgeschlossen ist.
Der Vorarbeiter oder Meister, wie er genannt wurde, ein hagerer Mensch in vorgerücktem Alter, mühte sich redlich um die Ausbildung seiner beiden Lehrlinge. Der eine derselben war ein junger Kaufmann von leichtsinnigem Wesen. Der andere war ich. Wir wurden, da uns das Sprechen natürlich nicht verboten war und der Aufseher sich meist woanders aufhielt, rasch näher bekannt.
Wenn Gefangene zusammenkommen, dreht sich gewöhnlich das Gespräch zunächst um die Frage, wie man ins Zuchthaus hineingeraten ist. Selten wird dabei die Wahrheit gesagt. Entweder zeigt sich das Bestreben, die Schuld auf andere zu schieben, oder die Straftat wird so zurechtfrisiert, daß sie nach mehr aussieht, als sie ist. Die größte Offenheit findet man bei den Unverbesserlichen. Spricht einer gar nicht über diesen Punkt, so lohnt es sich, ihn näher zu betrachten.
Also die beiden erzählen. Der Kaufmann irgendeine banale Betrugsgeschichte. Der Meister, ein behäbiger Bürger und Familienvater, hat ein Testament gefälscht. Er legt Wert darauf, mir klarzumachen, wie er, der es doch gar nicht nötig hatte, dazu kam, ein solches Verbrechen zu begehen – eine solche Dummheit zu machen, sagt er. Es handelte sich um das Testament seiner Schwester. Die alte Schachtel habe sich weiß Gott wie viele Jahre von ihm päppeln lassen. Alles habe er für sie getan. Jeden Wunsch ihr erfüllt. Denn warum? Sie hatte was. Grundstücke und Bares. Er der Nächste dazu. Und da geht nun der Drache hin und wird zu guter Letzt bigott und vermacht den größten Teil ihrer Habe einem Kloster. Speist ihn ab mit einer »Bagalie«. Sollte er sich das gefallen lassen? – Ich frage ihn, ob er denn als guter Katholik nicht Bedenken getragen habe, seine Hand an Klostergut zu legen. Da poltert er los: Ach quatsch, guter Katholik, alles habe seine Grenzen, in die Kirche gehe er wohl, weil sich das gehöre, aber was zuviel sei, sei zuviel. Haben die Pfaffen nicht schon Sach' genug? Brauchen sie ihm, der eine Familie zu ernähren hat, auch noch das Geld abzuluchsen, das er sauer verdient? Denn das könne ich ihm glauben, es sei kein Vergnügen gewesen, mit der Alten sich herumzuschlagen. Was habe er nicht alles schlucken müssen! Blut habe er geschwitzt. Und da kommen diese verdammten Erbschleicher und wollen ihm die Früchte seiner Bemühungen entreißen. Nein, was zuviel ist, ist zuviel.
Was zuviel ist, ist zuviel – er wiederholte es immer wieder und sah mich dabei an mit Zustimmung heischenden Augen. Ich machte ein bedenkliches Gesicht. Die fromme Stiftung hätte er doch nicht antasten dürfen. Ob er denn für diese schwere Sünde habe hoffen können, Absolution zu erhalten? Der Beichtvater hätte doch sicherlich darauf bestanden, daß er das ungerechte Gut zurückgebe. Und dann wäre die Fälschung ja doch zwecklos gewesen. Darauf kniff er die wässerigen kleinen Augen zu und sagte, er könne mir das jetzt nicht so recht auseinandersetzen, vielleicht später einmal, aber für so dämlich sollte ich ihn doch nicht halten, daß er zuerst ein Testament fälsche und dann hingehe und seine Arbeit unnütz mache.
Später erfuhr ich dann des Rätsels Lösung. Er kannte in einer benachbarten größeren Stadt einen alten Geistlichen, der fast taub war, aber noch immer Beichte hörte.
Von seinen kleinen Schwächen abgesehen, war der Meister eine durchaus tüchtige und selbstbewußte Persönlichkeit. Man konnte was bei ihm lernen. Der junge Kaufmann freilich, mein Mitlehrling, hatte es darauf nicht abgesehen und zog sich wegen seiner Gleichgültigkeit gegenüber den Geheimnissen der Kunst des Matratzenmachens den Unwillen des Meisters zu. »Was bildet sich der Grünschnabel von Heringsbändiger eigentlich ein? Er meint wohl, er sei zu gut dazu, ein ehrliches Handwerk zu erlernen. Er soll sich ein Beispiel nehmen an Ihnen, Herr Doktor. Sie sind ein Mensch, der Bildung hat, und passen auf, wenn ich Ihnen etwas zeige. Sie haben auch Geschick zur Arbeit. Wenn Sie so fortfahren, garantiere ich Ihnen, daß ich noch einen ganz brauchbaren Gesellen aus Ihnen mache. Aber aus diesem Esel, der sich Kaufmann nennt – wer schimpft sich nicht alles Kaufmann –, wird seiner Lebtag nichts. Will sehen, daß ich ihn loswerde.«
Gesagt, getan. Bei der nächsten Gelegenheit nahm er sich den Aufseher beiseite und verhandelte mit ihm. Ich bemerkte, daß dieser, ein krummbeiniges Männchen von gedrücktem Wesen, nicht gleich auf die Sache eingehen wollte, aber am Ende schien er doch einverstanden, und als nach einiger Zeit der Oberaufseher der Hauswirtschaft daherkam, um Inspektion zu halten, sprach er mit ihm und erhielt die Erlaubnis, einen Personalwechsel vorzunehmen. Der junge Kaufmann wurde zu den Holzarbeitern versetzt, an seine Stelle trat ein älterer Mann, von dem mir der Meister alsbald mitteilte, daß derselbe schon über zwanzig Jahre im Haus und in jeder Beziehung ein feiner Kerl sei. Die zwanzig Jahre Zuchthaus sah man dem Fridolin an. Ihre Geschichte war eingeschrieben in den tiefen Furchen seines grauen Gesichts. Er ging gebückt, aber sein Geist hatte nicht gelitten; was er sagte, traf den Nagel auf den Kopf, und die sichere, ruhige Art, mit der er jede Arbeit angriff und in tadelloser Weise ausführte, machte den besten Eindruck. Mir war er gleich von Anfang an sympathisch. Auch bei dem Aufseher – sie nannten ihn den schwarzen Bruno – schien er einen schweren Stein im Brett zu haben. Wir drei genossen unbeschränkte Redefreiheit. Zunächst hatte ich dessen weiter kein Arg, aber mit der Zeit mußte es doch auffallen, wie der Aufseher den Meister, den Fridolin und mich mit viel größerer Rücksicht behandelte als die anderen Matratzenmacher, von den Holzarbeitern ganz zu schweigen, die er ziemlich barsch anfuhr und in strenger Aufsicht hielt. Ferner war zu bemerken, daß Fridolin mit dem Mann an der Nähmaschine in besonders engen Beziehungen stand. Die beiden waren so verschieden wie möglich, der eine ein einfacher Handwerker, der andere ein Privatbeamter in höherer Stellung. Der Maschinist hatte sich mir, als wir einmal unter vier Augen waren, mit einer zeremoniellen Verbeugung vorgestellt und mit Nachdruck betont, daß er »nur wegen eines sogenannten Sittlichkeitsdelikts« bestraft sei, dessen er sich überdies nicht schuldig fühle. Stets zeigte er sich taktvoll und entgegenkommend. Sein vertrautes Verhältnis zu dem alten Einbrecher schien mir rätselhaft. Eine diesbezügliche Bemerkung dem Meister gegenüber entlockte diesem ein vielsagendes Lächeln; ich würde mit der Zeit schon dahinter kommen, meinte er. Ich sei noch sehr wenig bekannt mit den Dingen, die im Hause vorgingen; solle nur die Augen aufmachen und die Gosch zu, dann würde ich bald Bescheid wissen. Vorläufig ständen mir die Leute noch mit einigem Mißtrauen gegenüber, das aber, davon sei er überzeugt, unbegründet sei; er werde für mich bei den anderen gut Wetter machen. Ich gelobte, mich seiner Protektion würdig zu zeigen.
Während wir an unseren langen Tischen saßen, eifrig an den Matratzen garnierend, hemdsärmelig und gegen die heißen Sonnenstrahlen durch breitrandige Leinenhüte geschützt, erschien der Herr Direktor in sehr aufgeräumter Stimmung, ließ sich Bericht erstatten und sprach mit jedem Gefangenen ein paar Worte. Mich rief er abseits, fragte, wie mir die Beschäftigung im Freien zusage und geruhte zu wünschen, daß mir die Sommerfrische eine gesündere Farbe bringen möge. Sonderbar, wenn der Mann sich wohlwollend gab, verursachte er ein Gefühl des Unbehagens; es war einem wohler zumute, wenn er tobte. Das ging nicht nur mir so, sondern auch den anderen. Fridolin gab dem Ausdruck, als er fort war, und sagte: »Wissen Sie, warum der alte Leuteschinder so gut gelaunt war?« Ich hatte keine Ahnung. »Ja, Sie wissen auch gar nichts davon, was in der Welt passiert. Haben Sie schon gehört, daß der österreichische Thronfolger in Serajewo ermordet worden ist?« – »Machen Sie keine schlechten Witze. Woher wollen Sie das wissen?« – »Ich habe es in der Zeitung gelesen.« – »Wo denn?« fragte ich lachend, »im Tageblatt oder in der Kölnischen?« – »In der Frankfurter. Wenn Sie wollen, bringe ich sie Ihnen morgen mit. Es wird wohl Krieg geben. Darüber freut sich der Herr Oberst, aber die Freude soll ihm wohl versalzen werden. Übrigens hat er noch einen anderen Grund zu seiner guten Laune. Sie haben ihm den Geheimratstitel verliehen. Als Anerkennung seiner staatserhaltenden Tätigkeit hier im Zuchthaus. Der verfluchte Seelenmörder!« Seine Augen funkelten. Ich bat ihn, sich zu mäßigen, indem ich auf den Aufseher deutete, der nur wenige Schritte entfernt stand. »Bah,« versetzte er, »der darf ruhig hören, was ich sage. Er denkt genau wie ich. Die Aufseher hassen den Alten womöglich noch mehr als wir.«
Am folgenden Tage brachte er die Zeitung. Als ich sie mit Dank zurückgab, erklärte er sich bereit, mir in Zukunft öfter Zeitungen und Bücher zukommen zu lassen durch die Vermittlung unseres Schänzers, der ein guter Freund von ihm sei. So habe er gerade eine Anzahl französischer Bücher in der Zelle, die er für den Assessor einbinde, es seien ganz tolle Sachen darunter. Ich war erstaunt; ob er denn französisch lesen könne. Nein, das nicht, aber die Bücher seien illustriert und die Illustrationen durchaus, unmißverständlich; der Herr Assessor scheine Bedürfnis zu haben nach gepfefferter literarischer Kost.
Ich hatte schon seit Jahr und Tag kein französisches Buch mehr gelesen und war freudig überrascht, als ich auf der Liste, die er mir brachte, Namen fand wie Stendhal, Barbey d'Aurevilly, Flaubert. Daneben freilich eine Unzahl obskurer Pornographen. Ein komischer Zufall wollte es, daß mir kurze Zeit nachher der Herr Assessor einen Besuch machte und dabei großes Interesse zeigte für die Bücher, die in meiner Kiste lagen. Er nahm mehrere heraus, um darin zu blättern, und wenn er noch zwei oder drei weitere herausgenommen hätte, wäre er auf seine » Diaboliques« gestoßen, die ich da unten verstaut hatte, und das hätte wohl Anlaß zu einer hübschen Szene gegeben. Ich erinnere mich noch gut, mit welcher Spannung ich dem Augenblick entgegensah, mit einem merkwürdigen Gemisch von Besorgnis und Vergnügen. Als ich ihn fragte, ob er auch Interesse habe für die neuere französische Romanliteratur, versicherte der Heuchler mit der scheinheiligsten Miene von der Welt, er lese lieber Montaigne und Montesquieu.
Bald darauf wurde den Gefangenen beim Rapport bekanntgegeben, daß sie von nun an den Herrn Direktor mit Herr Geheimrat anzureden hätten.
Fridolin schloß sich, nachdem ich Gelegenheit gehabt, ihm einige Gefälligkeiten zu erweisen und nachdem er sich überzeugt hatte, daß ich vertrauenswürdig sei, immer mehr an mich an. Eines Tages sagte er zu mir: »Man hat Sie bisher in unseren Kreisen falsch beurteilt. Auch mir war es eigentlich außer Frage, da ich doch die Juristen genau kenne, daß Sie selbst nach Ihrer Ausstoßung aus der Kaste innerlich sich mit ihr solidarisch fühlten. Die Annahme, Sie stünden auf der anderen Seite, schien selbstverständlich. Wir hielten das freundliche Wesen, das Sie gegen uns zur Schau trugen, für berechnet. Viele hielten Sie für einen Spion der Beamten. Wir haben Ihnen unrecht getan. Sie werden zugeben, daß unser Irrtum verzeihlich war.« – »Sicher. Das war nicht anders zu erwarten.« – »Es geht das Gerücht, Sie wollten nach Ihrer Entlassung über den Strafvollzug ein Buch schreiben.« Er sah mich forschend an. Ich zuckte die Achseln und sagte: »Nach meiner Entlassung? Sie wissen doch, daß ich lebenslänglich habe.« – »Nun ja,« entgegnete er, »das weiß ich natürlich, aber erstens kommt es mir ziemlich wahrscheinlich vor, daß Sie den Tag einer zweiten Begnadigung erleben werden, und zweitens ... Sie könnten ja fliehen. Sie schütteln den Kopf. Warum? Sie halten ein Entkommen aus der Strafanstalt für unmöglich? Ich selber bin schon einmal ausgebrochen, ohne jede Hilfe von draußen. Sie freilich würden eine solche Hilfe nicht entbehren können. Aber Sie würden sie auch unschwer finden. Doch davon ein andermal. Bitte, beantworten Sie meine Frage, beabsichtigen Sie wirklich, ein Buch zu schreiben über das Zuchthaus?« Die Frage setzte mich in Verlegenheit. Belügen mochte ich ihn nicht; die Wahrheit zu sagen, schien bedenklich. Schließlich sagte ich: »Es ist nicht ausgeschlossen, daß ein solches Buch erscheint.« Er nickte lächelnd. »Gesprochen wie ein Jurist. Ich verstehe. Aber Sie hätten mir gegenüber gar kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchen. Von meiner Seite dürfen Sie jeder Unterstützung gewiß sein. Und ich denke, die können Sie brauchen. Denn was Sie bisher über das Leben und Treiben im Zuchthaus wissen, ist nicht der Rede wert. Es müssen Ihnen erst noch die Augen geöffnet werden. Sie haben doch wohl schon bemerkt, wie rücksichtsvoll Bruno uns drei, die wir hier zusammensitzen, behandelt. Sehen Sie, wie er jetzt eben wieder drüben mit den Holzarbeitern umspringt, ganz brüllender Löwe. Gegen uns ist er sanft wie ein Lämmlein. Warum?« – »Ja, das frage ich mich auch. Wahrscheinlich mag er Sie und den Meister besonders gut leiden.« Fridolin lachte laut auf. »Hat sich was, gut leiden. Nein, der Grund ist nicht so sentimental. Unser Meister hat ihm vor kurzem einen Schulranzen gemacht für seinen Jungen.« – »Nun, was soll da dabei sein? Da er Sattler ist von Beruf, kann er wohl einen Schulranzen machen.« – »Sie sind schwer von Begriff. Hinten herum hat er ihm den Ranzen gemacht. Ohne daß der Werkmeister etwas davon wußte. Ohne daß der übliche Bestellschein geschrieben wurde, ohne daß der Fiskus die übliche Bezahlung erhielt. Verstehen Sie?« – »Aber woher hatte er denn das Leder?« – »Das Leder hat Bruno im Magazin geklaut. Gelt, da schauen Sie. Ich habe vor einigen Wochen eine Zeitschrift gebunden, Sie kennen sie gewiß, es sind die Hefte, die Professor Aschaffenburg erscheinen läßt über Kriminalpsychologie, da stand ein prächtiger Artikel drin über das Verhältnis zwischen Aufsehern und Gefangenen, in ihm kam ein Passus vor, etwa so: Der Aufseher spricht mit dem Gefangenen nur das dienstlich Notwendige; darüber hinaus wird zwischen den beiden kein Wort gewechselt; das Beispiel stiller, schweigsamer Pflichterfüllung, das er so täglich vor Augen hat, ist für den Gefangenen von größtem erzieherischem Wert. – So die graue Theorie. Der bewußte Baum des Lebens schaut ein wenig anders aus. Giftgrün.« Da er mein Erstaunen sah, fuhr er fort: »Sie denken vielleicht, das ist ein Ausnahmefall. O nein, mein Lieber. So wie der Meister unserem Bruno Schulranzen fabriziert, so schneidert ihm der Maschinist drüben für seine Buben Hosen und Wämse, so binde ich ihm Bücher, rahme ihm Bilder ein und repariere ihm tausend Dinge, die ihn nichts kosten oder nur sehr wenig kosten. Denn hie und da hat er das Bedürfnis, sich mit ein paar Äpfeln oder einem Stück Wurst erkenntlich zu zeigen.« – »Oder mit einer Frankfurter Zeitung, die er für Sie kauft.« – »Kauft? Lassen Sie sich auslachen. Die kauft er nicht. Die klaut er oben im Konferenzzimmer, wo die Zeitungen für die Oberbeamten ausliegen.« – »Na, das ist ja in der Tat ein erzieherisch sehr wirksames Beispiel. Aber Bruno wird wohl eine Ausnahme sein.« – »Keine Ausnahme, sondern die Regel. Es gibt hier im Hause nur wenige Aufseher, die in dieser Beziehung ganz sauber sind. Sogar unter den Bureaubeamten hat es solche Spitzbuben. Die Werkmeister werden mit der Zeit alle wohlhabend, kaufen sich Äcker und Häuser, wovon? Nicht von den armseligen paar hundert Mark Arbeitsprämien, die sie am Ende des Jahres erhalten.«
Ich äußerte mein Befremden darüber, daß von all diesen Spitzbübereien nie etwas ans Licht komme.
»Das ist gar nicht befremdlich. Erstens suchen sich die Aufseher ihre Leute mit Vorsicht aus, sie wissen ganz genau, wer den Mund hält und wer nicht, denn sie kennen ihre Pappenheimer seit vielen Jahren; es handelt sich fast immer um rückfällige Diebe. Für diese liegt gar kein Anlaß vor, die Durchstechereien zu verraten, denn sie stehen sich gut dabei. Schwatzt aber einmal einer aus der Schule, so geschieht das, um Rache zu nehmen für eine erlittene Unbill, und wer glaubt ihm da? Wer glaubt überhaupt unsereinem? Wir sind nur dann glaubwürdig, wenn wir uns selber eines Verbrechens bezichtigen. Der Aufseher stellt, wenn er angeklagt wird, alles in Abrede, nimmt seine Aussage auf den Diensteid, bringt auch wohl noch einen Kollegen bei als Eideshelfer, und der Ankläger wandert wegen Verleumdung in den Turm. So eine Dummheit macht er nie wieder, und die anderen ziehen aus dem Fall die entsprechende Nutzanwendung. Stehlen und stehlen lassen. Warum soll es innerhalb der Zuchthausmauern anders zugehen als draußen?«
Ich wandte ein, daß da doch wohl ein Unterschied bestehen sollte, das Zuchthaus sei doch eine moralische Anstalt, deren Zweck illusorisch gemacht werde durch das von ihm geschilderte Treiben. Auch übertreibe er wohl. Die Sache komme mir ungeheuerlich und unglaublich vor.
Das ärgerte ihn. Er erging sich in einem langen Vortrag über seine auf diesem Gebiete gesammelten Erfahrungen, erzählte hundert Einzelheiten, kurz, er gab sich die größte Mühe, mich zu überzeugen. Er ging noch weiter. Um mir zu beweisen, wie gänzlich er Bruno in der Hand habe, ließ er den Bedauernswerten ein paar Stunden lang nach seiner Pfeife tanzen. Da hieß es: »Bruno, geh her und halt mir den Faden«, »Bruno, geh hin und hol' mir die Nadel«, »Bruno, mach' dich fort, wir brauchen dich hier nicht« – der Bär kam und ging, brummend, aufs äußerste gereizt, aber er wagte nicht zu mucksen.
Der Maschinist, der den Vorgang lächelnd beobachtet hatte, kam herüber, um sich zu erkundigen, was los sei. Der Zweck der Übung wurde ihm auseinandergesetzt. Er bestätigte die Aussagen seines Freundes. Ihm persönlich seien die Spitzbübereien verhaßt, aber nachdem er sich einmal darauf eingelassen, könne er sich den an ihn ergehenden Aufträgen nicht mehr gut entziehen, übrigens nehme er für seine Dienste keinerlei Bezahlung an. Sein Kumpan verhöhnte ihn wegen dieses Zartgefühls und meinte, einer solchen Bande gegenüber sei Zartgefühl nicht am Platz.
Abends, auf der Zelle, sann ich nach über das Gehörte. Daß die mir gemachten Angaben im wesentlichen richtig seien, daran durfte ich nicht zweifeln. Einiges mochte wohl zu subtrahieren sein, aber, was blieb, genügte, um auf den Strafvollzug im Hause ein eigentümliches Licht zu werfen. Die Intimität, die zwischen gewissen Aufsehern und Gefangenen bestand, war mir schon lange aufgefallen. Jetzt wußte ich, worin sie ihren Grund hatte. Was sollte ich mit meiner neuen Wissenschaft beginnen? Irgend etwas tun, um dem Übel entgegenzutreten? Aber einen Aufseher zu überführen, war offenbar sehr schwierig, wenn nicht unmöglich. Und wäre es gelungen, was hätte ich dann erreicht? Die anderen würden etwas mißtrauischer und vorsichtiger werden, das wäre alles. Und mich selber würde ein solches Unternehmen in die größte Gefahr bringen. Ich kannte jetzt den Betrieb im Hause zur Genüge, um zu wissen, daß ein Gefangener keinen schlimmeren Fehler machen kann, als sich die Feindschaft der Aufseher zuzuziehen. Besser, die Oberbeamten zu Feinden zu haben, als das Personal. Jene sieht man alle Monate einmal auf ein paar Minuten, mit diesen kommt man täglich in Berührung. Jene sind immerhin Menschen von Anstand und Bildung, diese machen einem das Leben zur Hölle. Ich mußte damit rechnen, noch viele Jahre im Hause zu verbleiben, sollte ich mich da berufen fühlen, in ein solches Wespennest zu greifen? Ferner: was ich erfahren hatte, war mir im Vertrauen gesagt worden. Aber ganz abgesehen von alledem, war es überhaupt meine Sache, Mißstände im Zuchthaus zu bekämpfen? Ich war doch selber nur ein Objekt des Strafvollzugs, ein Opfer der Justizmaschine. Diese Maschine, oder vielmehr den Geist, der dahinter steckte, haßte ich. Dem hatte ich das Todesurteil zu verdanken, die Ausstoßung aus der Gesellschaft. Was hat ein Ausgestoßener für Pflichten gegenüber der Gesellschaft, die ihn – ungerechterweise – ausgestoßen hat?
Basta, was geht mich diese Regierung an und ihr Strafvollzug! Mögen beide bleiben, wie sie sind, sie passen zueinander.
Ich behielt also, was ich erfahren hatte, für mich und machte keinen Gebrauch davon. Das hatte eine unerwartete Folge. Eines Abends erschien in meiner Zelle ein Aufseher, den ich schon seit langem gut leiden mochte, und trug mir nach einigen Umschweifen und Verlegenheitspausen ein Anliegen vor. Ich sollte ihm für sich und seine Frau ein gemeinschaftliches Testament aufsetzen. Als ich ihn fragte, wie er dazu gekommen sei, mich mit einer derartigen Sache zu befassen, sprach er sich offen aus. Er und seine Kollegen hätten schon öfters meine Dienste in Anspruch genommen, aber sie hätten sich nicht getraut. Man habe eben nicht gewußt, wie ich mich verhalten würde. Jetzt nun sei unter ihnen bekanntgeworden, daß ich über die Zustände im Hause Aufschluß erhalten hätte durch Fridolin, der sich für meine Diskretion verbürge. Ich hätte ja auch tatsächlich reinen Mund gehalten. Darum habe er den Mut gefaßt, sich als erster an mich zu wenden, da wir immer gut zueinander gestanden hätten und er sich von mir keiner unfreundlichen Handlung versehe. Das alles brachte er vor mit einer Miene, die bei aller zur Schau getragenen Zuversicht doch nicht ganz frei war von Zweifel und Besorgnis. Ich wußte erst nicht recht, was ich sagen sollte, dann lachte ich. Also ich war jetzt auch schon aufgenommen in den Orden? Eine große Ehre. Sehr schmeichelhaft. Selbstverständlich würde ich Diskretion beobachten. Selbstverständlich würde ich ihm sein Testament aufsetzen. Selbstverständlich sei ich jederzeit bereit, ihm und seinen werten Kollegen meine juristischen und sonstigen Kenntnisse zur Verfügung zu stellen. Erfreut schüttelte er mir die Hand, ich nahm Papier und Bleistift, schrieb auf, was er zu sagen hatte. Nach einigen Tagen holte er das fertige Schriftstück ab und fragte nach seiner Schuldigkeit. Ich machte ihm eine humoristische Auseinandersetzung, daß ich, da nur in den Vereinigten Staaten und nicht in Deutschland als Anwalt zugelassen, keine Bezahlung – auch nicht in Naturalien – von ihm annehmen dürfe, wobei er sich gern beruhigte. Er schüttelte mir nochmals dankend die Hand, versprach, mich zu empfehlen und ging. Wirklich muß er mich bei seinen Kollegen gut empfohlen haben, denn ich hatte bald eine blühende Praxis. Dann und wann, wenn einer mit einer unsauberen Geschichte zu mir kam, lief mir die Galle über, und ich warf den Klienten zur Tür hinaus. Einmal konsultierte mich ein junger Aufseher, der in eine verzweifelte Lage geraten war und im Begriffe stand, einen Meineid zu schwören, um sich eine Alimentenklage vom Halse zu schaffen; er hat dann den Meineid nicht geschworen, und er ist mir später dafür sehr dankbar gewesen.
Wenn wir mit dem Garnieren und Abheften der alten Matratzen fertig waren, wobei Fridolin eifrig seiner Aufklärungstätigkeit oblag, und noch keine neuen Matratzen für uns gerichtet waren, setzten wir uns wohl zu den Seegraszupfern, halfen ein bißchen bei ihrer Arbeit und unterhielten uns mit ihnen. Ein interessanter Typ war darunter: ein breitschulteriger Hüne mit einem Gorillagesicht; über dem vorspringenden Kinn ein breiter Mund, in dem große Raubtierzähne sichtbar wurden, sooft die wulstigen Lippen sich zu einem Grinsen auseinanderzogen. Der Mensch hatte etwas Mysteriöses an sich, wollte Österreicher sein, aber seine Herkunft war nicht aufgeklärt, man hielt den von ihm angegebenen Namen für falsch und suchte vergeblich etwas über seine Vergangenheit zu erkunden. Mit großem Stolz hob er hervor, einem Kerl wie ihm könnten alle Richter und Staatsanwälte der Welt die Würmer nicht aus der Nase ziehen. Seine Sprechweise war nicht so sehr die eines Österreichers wie die eines Ungarn. Als ich ihm das sagte, gab er vor, viele Jahre in Ungarn gelebt zu haben, als Reitknecht bei einem Grafen. Einen unbeschreiblichen Widerwillen empfand ich immer, wenn er an der Waschschüssel stand mit offenem Hemd und hochgekrempelten Hemdsärmeln, Brust und Arme bedeckt mit dichten, rötlichen Borsten. Über seine Straftat sprach er mit zynischer Offenheit. Er hatte sich betrunken, war bei einem alleinstehenden älteren Fräulein eingebrochen und hatte die beinahe Sechzigjährige vergewaltigt. Sein Opfer schwebte wochenlang zwischen Tod und Leben. Zwölf Jahre bekam er dafür, viel zu wenig; nach Verbüßung der Strafe wird er aus dem Lande verschwinden, nach einiger Zeit irgendwoanders wieder auftauchen und abermals seine bestialischen Gelüste befriedigen – bis ihm vielleicht spät, am Ende einer langen Verbrecherlaufbahn, das Beil des Henkers den Stiernacken durchschlägt.
Mir gegenüber wurde er, als er hörte, ich sei öfters in Ungarn gewesen, zutraulich und erzählte gern von seinen Erlebnissen in diesem Lande, seiner Meinung nach dem schönsten der Welt. Welcher Art diese Erlebnisse waren, kann man sich denken. Die schönste Zeit habe er bei dem Grafen gehabt. Da sei er zuletzt zur Dienstleistung als Reitknecht bei der gnädigen Frau kommandiert gewesen. Ein fesches Weib, das seine Dienste auch sonst zu schätzen gewußt habe. Sie habe ihn gut füttern lassen, seine Gräfin. Ein famoses Weib, wie gesagt, aber doch, wie alle Weiber, komisch. Ob man das wohl begreifen könne: tagsüber habe sie ihn nie sehen wollen, und nachts, wenn sie ihn in ihr Schlafzimmer hereinließ, sei alles stockfinster gewesen. Unbegreiflich, nicht wahr?
Fridolin, der die Geschichte mit Widerwillen angehört hatte, fragte sarkastisch, wieso ihm denn das unbegreiflich vorkomme. Jawohl, beteuerte der andere, ganz unbegreiflich. Da zog Fridolin einen kleinen Spiegel aus der Tasche, reichte ihn hinüber und sagte: »Du Sauviech, da schau dir nur mal deine Visage an, und wenn du's dann noch nicht begreifst, bist du ein Esel.« Der Österreicher saß eine Weile starr, bis er die Größe der Beleidigung erfaßt hatte, dann blitzte es tückisch auf in seinen Augen, und er wollte sich auf den Beleidiger werfen. Aber die anderen hielten ihn fest, bis Bruno herbeigekommen war, der ihn kurzerhand abführen ließ.
Sein Nachfolger war ein junger Mensch von einnehmendem Äußern. Er log, daß sich die Balken bogen. Eine andere Eigenschaft von ihm war, daß er die haarsträubendsten Zoten zu erzählen wußte mit einem Gesicht so tugendhaft, daß der Aufseher aus einiger Entfernung glauben mußte, er bete das Vaterunser vor. Auch wußte er sich mit jedermann gut zu stellen, mich vollends würdigte er einer ebenso rasch entbrannten wie schwer abzuwehrenden Freundschaft. Die größte Kühle und Reserve meinerseits schien die Flamme nur mehr anzufachen. Bald hatte er mich zum Vertrauten seiner sämtlichen Schicksale gemacht, fabelhafter Münchhausiaden, die einem den Kopf verwirrten. Dann rückte er mir noch näher auf den Pelz, wollte das Licht der Welt erblickt haben in der Nähe meines Geburtsorts, wo er viele ihn sehr hochschätzende Verwandte habe, die wiederum mit meinen Verwandten sehr befreundet, wenn nicht zum Teil gar verwandt waren, bedauerte, daß er mir während meines Prozesses nicht mit seinem Rate habe zur Seite stehen können, in welchem Falle wohl alles anders gekommen wäre. Aber noch sei es nicht zu spät, ein günstiger Zufall habe uns zusammengeführt, oder vielmehr nicht der Zufall, sondern das Kismet: es stehe im Buche geschrieben, daß er mein Retter sein solle. Sobald seine Strafe zu Ende sei, was höchstens noch ein paar Jährchen dauere, wolle er mich aus dem Kerker befreien. Den Plan dazu habe er schon gemacht, ein Mißlingen sei ausgeschlossen. Ich hätte weiter nichts zu tun, als in der verabredeten Nacht durch das von ihm gemachte Loch im Fenstergitter zu kriechen, die draußen angelehnte Leiter herabzusteigen, einige Schritte über den Hof zu machen, dann dieselbe Leiter hinauf- und auf der anderen Seite der Mauer wieder hinunterzuturnen, in das bereitstehende Auto zu klettern und alles übrige ihm zu überlassen. Ich fragte ihn amüsiert, ob er die Rettungsaktion aus purer Menschenfreundlichkeit übernehmen wolle oder dafür ein Entgelt beanspruche. Ja, erwiderte er, zunächst und hauptsächlich aus Freundschaft, denn er habe sich auf den ersten Blick von mir angezogen gefühlt, indessen gebe er sich der Überzeugung hin, daß seine Dienste wohl nicht ungelohnt bleiben würden. »Wieviel?« fragte ich lakonisch. »Hunderttausend Mark.« Ich lachte. Das sei viel zu billig, er beleidige mich mit einer so niedrigen Einschätzung des Wertes meiner Freiheit. Darauf rückte er noch näher heran und flüsterte, es sei ihm freilich, wie auch noch einigen anderen Gefangenen, bekannt, daß auf einer Berliner Bank eine halbe Million bereitliege für denjenigen, der mich aus der Gefangenschaft befreie, aber als bescheidener Mensch wolle er sich mit hunderttausend Mark begnügen, da er von den Zinsen dieser Summe ein seinen Bedürfnissen entsprechendes Leben führen könne.
So vorsichtig er mir diese Eröffnungen gemacht hatte, Fridolin roch Lunte, und sein Auge ruhte mit Mißfallen auf dem Herrn von Münchhausen. Er warnte mich vor ihm. Das sei ein ganz windiger Bursche, mit dem man sich nicht einlassen dürfe. Wir saßen an dem Tage auf einer kleinen Erhöhung neben dem Schuppen, von der aus man den ganzen Arbeitsplatz gut übersehen konnte. Darum hielt sich auch der Aufseher – Bruno hatte seinen freien Tag, der Ablöser war ein wegen seiner Roheit verhaßter Mensch – meistens bei uns auf, und wir konnten nur dann miteinander reden, wenn er uns den Rücken gewandt hatte. Bei einer solchen Gelegenheit raunte mir Münchhausen zu, ob ich nicht gemerkt hätte, wie der Aufseher nach Alkohol rieche. Ich hatte nichts bemerkt. Da kam ein anderer Aufseher des Weges, der im ganzen Hause als Säufer bekannt war, und die beiden Schnapsbrüder verschwanden für einige Minuten hinter dem Schuppen. Als der unsrige wieder zum Vorschein kam, pfiff er vergnügt vor sich hin, schlenderte zu uns herüber und ließ sich herab, einen Witz zu machen, und zwar auf Kosten des Herrn von Münchhausen. Dieser brauste auf, verbat sich die Anzüglichkeit und wurde prompt angebrüllt und abgeführt.
Das Nachspiel ließ nicht auf sich warten. Am nächsten Tage wurde ich in das Konferenzzimmer geführt, wo der Assessor mit Amtsmiene hinter dem grünen Tisch saß, zu seiner Linken ein Protokollführer. Er sei beauftragt, eine Untersuchung zu führen in Sachen der Anklage, die der Gefangene 453 erhoben habe gegen den Aufseher Wolfzahn, Schnapstrinken betreffend. Der Kläger habe mich angerufen als Zeuge dafür, daß Wolfzahn an dem fraglichen Morgen nach Alkohol gerochen habe. Ob das richtig sei. Ich gab an, nichts Bestimmtes darüber aussagen zu können. Nachdem das ad acta genommen war, wurde nur die zweite Frage vorgelegt. Ob ich gesehen, wie der Aufseher Wolfzahn hinter dem Schuppen aus der Flasche seines Kollegen getrunken habe. Antwort: Nein, das hätte ich nicht gesehen. Dritte Frage: Ob man von dem Platz, an dem wir Gefangene uns aufhielten, überhaupt habe sehen können, was hinter dem Schuppen vorging. Antwort: Nein. Der Herr Assessor nickte befriedigt, murmelte etwas von einer schnöden Verleumdung und entließ mich in Gnaden. Draußen sah ich die anderen stehen und mußte warten, bis alle durch das Verhör hindurchgegangen waren. Ihre Aussagen glichen sich, wie wir später feststellten, aufs Haar: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Zum Schluß wurden die beiden Aufseher vernommen und werden natürlich beteuert haben, so unschuldig zu sein wie neugeborene Böcklein. Damit war der objektive Tatbestand ermittelt, Frau Justitia knüpfte sich die Binde fester und fällte den Wahrspruch. Die Anklage wird als unbegründet abgewiesen. Der Kläger wegen frivoler Verleumdung mit 14 Tagen Dunkelarrest bestraft.
Eine Salbe auf die gekränkte Ehre des Herrn Wolfzahn war es, daß man den Verleumder an unserem Arbeitsplatz vorüber nach dem Turm führte. Münchhausen schritt stolz erhobenen Hauptes zwischen den zwei Schergen einher, jeder Zoll ein Protest gegen das ungerechte Urteil. Als er bei uns vorbeikam, blieb er stehen und deklamierte mit schönem Pathos: Das Laster siegt, die Tugend leidet. Für welche an und für sich ganz richtige Bemerkung er noch weitere drei Tage im Turm sitzen durfte.
Der Meister schaute düster vor sich hin und meinte, so gehe es in der Welt zu. Es sei nicht mehr schön. Fridolin hingegen empfand kein Mitleid mit dem unglücklichen Opfer, sondern erklärte, er habe sich alles selber zuzuschreiben, solche Dummheiten mache man nicht, Zuchthaus sei Zuchthaus, und ein Gefangener behalte niemals recht. Er habe vor kurzem in einem der Spazierhöfe eine Inschrift entdeckt an der Wand, die er jedem als Motto empfehle: Joggele, duck' dich!
Sobald er dann eine Gelegenheit fand, machte er mir unter vier Augen denselben Vorschlag, den der andere gemacht hatte. Auch er wollte mich befreien. Auch er hatte einen Plan, der freilich weniger phantastisch war und wirklich Erfolg versprach. Geld beanspruchte er keins, sondern wollte nur mein Versprechen haben, daß ich mich seiner draußen etwas annehmen würde. Groß war sein Erstaunen, als ich ihm sagte, ich legte auf ein Entkommen aus der Anstalt gar keinen Wert; das Ziel meines Lebens sei die Rehabilitation; diese aber könne ich erst in Angriff nehmen, wenn ich auf legalem Wege die Freiheit wiedererlangt hätte; als Flüchtling sei ich gezwungen, mich in irgendeinen abgelegenen Erdenwinkel zu verstecken, wozu ich gar keine Lust hätte. Es sei sonst nicht meine Gewohnheit, über diese Dinge zu sprechen, aber ich fühle mich ihm zu Dank verpflichtet und wolle ihm daher reinen Wein einschenken. Übrigens hoffte ich, daß damit die Angelegenheit zwischen uns begraben sei. Er fügte sich ungern, meine Verblendung bedauernd, da ich doch wissen müsse, wie aussichtslos ein Wiederaufnahmeverfahren sei.
An Münchhausens Stelle kam ein junger Italiener heraus, der den historischen Namen Marco Visconti führte. Er sprach fast gar kein Deutsch und verstand nur wenig. Dennoch war er, seines stillen und freundlichen Wesens halber, bei Aufsehern wie Gefangenen gut gelitten. Die leise Trauer, die über ihm lag und gut paßte zu seinen fein geschnittenen Zügen, gewann ihm die Herzen. Wie leuchteten seine Augen, als ich ihn in seiner Muttersprache anredete. Die drei Jahre Einzelhaft, die er hinter sich hatte, waren ihm, der als Romane ein starkes Bedürfnis hatte nach Verkehr mit Menschen, sehr schwer gefallen, dazu war es seine erste Strafe. Niemand, der ihn reden hörte, hätte geglaubt, daß er nur mit Mühe lesen konnte. Seine einzige Lektüre in den drei Jahren war ein dicker Band Italienische Anthologie mit vielen Gesängen aus Dante, Ariost, Tasso und Gedichtproben von Petrarka bis zu Manzoni und Giusti, ein sehr zerlesenes Buch aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts; Gott weiß, wie es in die Bibliothek des Zuchthauses gekommen sein mochte. Für ihn war das Buch ein Geschenk des Himmels. Es hatte ihm zum ersten Male die Kenntnis der Literaturschätze seines Volkes vermittelt. Früher hatte er kaum etwas anderes als die Zeitung gelesen, seine Schulbildung war so dürftig, daß ein deutscher Pädagoge die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Sollte man es für möglich halten, daß dieser Mensch, der als Artist halb Europa durchzogen hatte, nicht wußte, wie die Hauptstadt von Montenegro hieß? Er wußte nicht einmal, daß die Summe der Winkel in einem Dreieck zwei Rechte beträgt. Ja, hier war ein Zeitgenosse, der im zwanzigsten Jahrhundert noch fest davon überzeugt war, daß die Sonne sich um die Erde bewege, und der sich nicht so leicht vom Gegenteil hätte überzeugen lassen. Was ihn in das Haus geführt hatte, weiß ich nicht, er sprach nicht darüber, und fragen mochte ich ihn nicht.
Ich gab ihm » Le mie prigioni« zu lesen. Er verschlang das Buch mit leidenschaftlichem Interesse, war ganz erschüttert davon, daß ein Mann die Leiden der Gefangenschaft mit so heroischer Tapferkeit ertragen konnte – welch ein Trost und welch eine Erhebung! Ein Landsmann obendrein, dessen Namen er nie gehört, für den er jetzt, nachdem er sein Schicksal kennengelernt, eine verehrungsvolle und dankbare Liebe hegte, deren nur ein ganz kindlicher Leser fähig ist. Silvio Pelliko hätte mehr Freude und Stolz empfunden über die Wirkung, die sein Buch auf dieses naive Gemüt ausübte, als über sämtliche lobende Besprechungen aus den Federn der ersten Kritiker des Jahrhunderts. Als unsere Arbeit im Hofe zu Ende ging und er mir den Band zurückgeben wollte, brachte ich es nicht über mich, ihn von seinem Freunde zu trennen und schenkte ihm das Buch. Ihm war es mehr als mir.
Die schönsten Stellen aus der »Göttlichen Komödie« hatte er auswendig gelernt, es war ein Genuß, ihn sie rezitieren zu hören. Wunderbar schien es, mit welcher Treffsicherheit er die feinsten Perlen herausgefunden hatte aus dem größten Dichter seiner Rasse. Wunderbar, wie Dante, der den gebildetsten Geistern aller Nationen endlosen Stoff geliefert hat zu gelehrten Abhandlungen, hier seinen Thron aufgeschlagen hatte im Herzen eines einfachen Sohnes seines Volkes.
Ein kleines Gedicht, ich weiß nicht mehr, von wem es war, pflegte Visconti viel und gern herzusagen, wurde nicht müde, den darin enthaltenen Gedanken auszuspinnen. Es war eine Betrachtung der Nichtigkeit des Lebens. Die Vergangenheit, hieß es, ist nicht, sondern besteht nur in unserer Erinnerung. Die Zukunft ist nicht, besteht nur in unserer leichtgläubigen Hoffnung. Nur die Gegenwart ist, aber in einem Hauch verschwindet sie im Schoße des Nichts. Was ist also das Leben? Eine Erinnerung, eine Hoffnung, ein Punkt.
Die paar Verse waren nichts Besonderes, aber für diesen ins deutsche Zuchthaus verschlagenen italienischen Zirkusreiter hatten sie eine große Bedeutung gewonnen. Sie enthielten die Summe seiner Lebensphilosophie. Eine böse Sache, dieses Leben, aber man trägt es, denn was ist's, bei Licht besehen?
Una speranza, una memoria, un punto.