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12. Zwei Hinrichtungen

Im Mai 1922 fiel mir, als ich gegenüber einem der Spazierhöfe meinen Straßenarbeiten oblag, ein Gefangener auf, der mit gefesselten Händen und geleitet von zwei Aufsehern aus dem Hause herauskam und in den ersten der Bärenzwinger eingeschlossen wurde, worauf der eine Aufseher sich vor dem Gitter aufstellte und den Mann ständig im Auge behielt. Das war ungewöhnlich. Denn wenn es auch in seltenen Fällen einmal vorkam, daß ein besonders Gefährlicher im Hofe gefesselt blieb, so hielt man es doch nicht für nötig, ihn während des Spaziergangs auch von außen überwachen zu lassen. Der Gefesselte war ein großer, schlanker Mensch, Mitte der Zwanzig, mit kühngeschnittenen Gesichtszügen, und jetzt fiel mir bei näherem Zusehen weiter auf, daß er sein Haar ungeschoren trug. Er ging mit abgemessenen Schritten hin und her, indem er aufmerksam seine Umgebung betrachtete, es war also ein Neuling. Ich dachte mich bei dem Aufseher zu erkundigen. Aber wie ich mich ihm nähere, wird mir sichtbar, daß er selber vom Fenster des Konferenzzimmers aus unter Beobachtung steht, was seine streng dienstliche Miene erklärt, die nicht zu einer Anrede ermutigt. Die Auskunft muß also woanders eingeholt werden; sie liefert folgendes Ergebnis.

Der Mann ist ein zum Tode verurteilter Doppelmörder. Er soll in einer benachbarten Universitätsstadt zwei dort zu Besuch weilende Akademiker überfallen und beraubt haben. Trotzdem die Mordwaffe bei ihm gefunden wurde, desgleichen Wertgegenstände aus dem Besitz der Ermordeten, leugnete er, die Tat begangen zu haben. Er ist Kommunist, und da die Regierung befürchtet, seine Parteigenossen möchten ihn aus dem kleinen Amtsgefängnis zu befreien suchen, hat man ihn, größerer Sicherheit halber, ins Zuchthaus übergeführt. Die öffentliche Meinung bezeichnet seine Hinrichtung als sicher, aber noch denkt niemand daran, daß dieselbe in der Strafanstalt stattfinden könnte. Denn es ist bisher Gepflogenheit gewesen, das Todesurteil in der Stadt vollstrecken zu lassen, wo die Gerichtsverhandlung stattgefunden hat.

Der Todeskandidat ist die wichtigste Persönlichkeit in der Anstalt geworden, jedermann interessiert sich für ihn. Nach und nach erfährt man Einzelheiten. Er ist sehr zuversichtlich und hält es für ausgeschlossen, daß er auf den Indizienbeweis hin geköpft werden kann. Beteuert immer noch seine Unschuld und schreibt seine Verurteilung dem Verrat eines Mädchens zu, die seine Geliebte gewesen war. Benimmt sich sehr anständig und weiß sich die Sympathie der Aufseher und Beamten zu sichern. Er wird von dem evangelischen Pfarrer besucht, ist aber Freidenker und religiösem Zuspruch nicht zugänglich. Seine Verwandten sind von seiner Schuld ebensowenig überzeugt wie seine Parteigenossen; von diesen wird er als ein Opfer der Klassenjustiz angesehen. Ein Versuch, ihn zu befreien, scheint wirklich im Bereich der Möglichkeit zu liegen. Unter den Gefangenen hat es viele, bei denen törichte Hoffnungen wach werden, daß bei dieser Gelegenheit eine allgemeine Ausräumung der Anstalt stattfinden wird.

So vergehen der Mai und der Juni in gespannter Erwartung, da wird ruchbar: das Reichsgericht hat die Revision verworfen. Obwohl das ja eigentlich selbstverständlich war, so erhöht es doch die Spannung, und es wird im ganzen Haus mit Leidenschaft über die Frage gestritten, ob der Mann hingerichtet wird oder nicht. Dabei kann man die Wahrnehmung machen, daß fast alle Gefangenen und Aufseher im Grunde davon überzeugt sind, daß ein zum Tode Verurteilter nicht hingerichtet werden darf, wenn er nur auf Indizien hin verurteilt wurde. Das Volk hat das Empfinden: es ist nicht richtig, jemand aufs Schafott zu schicken, der möglicherweise sich nachher als unschuldig erweist; mag er noch so belastet erscheinen, menschliches Urteil ist fehlbar; besser, daß hier und da einmal ein Schuldiger mit dem Leben davonkommt, als daß ein Unschuldiger dem Henker überliefert wird, denn ein Justizmord ist etwas Gräßliches.

An einem der letzten Tage des Juli begegnete mir in dem Gang, der nach den Tobzellen führt, ein seltsamer Zug. Voran schritt mit ernster Miene einer der Inspektoren, hinter ihm gefesselt der Verurteilte, den Schluß bildeten zwei Aufseher. Blitzschnell war mir die Bedeutung des Zuges klar. Bleich, aber gefaßt, ging der dem Tode Geweihte an mir vorüber, und da er mich im Hofe öfters gesehen hatte, warf er mir im Vorübergehen einen letzten Blick zu, einen stummen Abschiedsgruß, der mich so sehr erschütterte, daß ich nach meiner Zelle eilte, mich einschloß, und Stunden brauchte, bis ich das Gleichgewicht wieder errungen hatte.

Hinter dem Holzschuppen richteten sie am nächsten Tage das Blutgerüst auf, an einer Stelle, die von keinem Fenster aus sichtbar war. Kein Gefangener durfte mehr aus der Zelle heraus. Der Verurteilte verbrachte diesen letzten Tag seines Lebens in einer der Tobzellen, es war ständig ein Aufseher bei ihm und ein anderer draußen im Gang; auch besuchten ihn viele der Beamten, besonders sein Pfarrer, mit dem er sich bis tief in die Nacht hinein unterhielt, aber nicht von religiösen Dingen, sondern von seinen Erlebnissen im Felde. Als Henkersmahlzeit wurde ihm auf seinen Wunsch ein Fleischgericht aus der Stadt besorgt, dazu Wein und Zigarren.

Lange lag ich an diesem Abend wach und schlief erst gegen Mitternacht ein. Da weckten mich kurz nach Tagesanbruch die schrillen Klänge des Armsünderglöckleins; es war die Glocke auf unserem Turm, eine Ersatzglocke aus der Kriegszeit mit einem stählernen Ton, der mir von jenem Morgen an verhaßt war, sooft ich ihn hörte; ich fuhr aus dem Bett empor und lauschte. Nichts zu hören außer dem hastigen Schlagen der Glocke. Mit entsetzlicher Langsamkeit schlichen die Minuten vorüber, – da – jetzt hörten die Glockenschläge auf – es mußte vorüber sein – immer noch kein Laut zu hören. Bis ein Buchfink schüchtern seine Stimme erhob, den schönen Sommermorgen zu begrüßen. Kam es mir nur so vor, oder sang der Vogel wirklich nicht so wie sonst. Dann auf dem Wege draußen ein Rollen von Wagenrädern. Ich stieg ans Fenster. Ein Sarg wurde vorübergefahren, begleitet von drei Aufsehern, die munter miteinander plauderten, wie wenn sie von einer Theateraufführung kämen. So merkwürdig kurz war der Sarg.

Dann kamen noch andere Aufseher in Gruppen vorüber, nach ihnen die Beamten mit Gehrock und Zylinder, auch einige Bürger aus der Stadt; auf der Mauer erdröhnte der Marschschritt einer Schupoabteilung, die aufgeboten war, um etwaigen kommunistischen Störungsversuchen entgegenzutreten. Nach einer Viertelstunde lag der Hof wieder still und ruhig da, die Sonne schien, die Spatzen lärmten, wie wenn nichts geschehen wäre.

Erst um neun Uhr wurde meine Zellentür aufgeschlossen. Mein erster Gang war nach dem Holzschuppen. Nichts mehr zu sehen, alle Spuren verwischt. Der Holzmann saß auf einem Bretterstapel und wartete darauf, mir alles zu erzählen. Seine Zelle lag in Steinwurfweite vom Richtplatz. Was er gesehen und gehört hatte, ergänzten später andere Berichte von Augenzeugen.

Der Verurteilte hatte einige Stunden geschlafen und war gegen vier Uhr geweckt werden. Er kleidete sich an und bestieg das Auto, das die Schupoleute mitgebracht hatten. Dabei sagte er zu dem ihn begleitenden Pfarrer, indem er auf die beiden großen Torflügel deutete: »Ich hatte gehofft, daß diese da sich einmal öffnen würden, mich in die Freiheit hinauszulassen, und jetzt muß ich in den Tod fahren.« Langsam fuhr das Auto innerhalb der von dem Militär besetzten Mauern um das Haus herum und hielt kurz vor der Richtstätte. Er sprang vom Wagen herunter, warf mit einer raschen Bewegung des Kopfes sein langes Haar in den Nacken und ging elastischen Schrittes auf das Schafott zu. Hier verlas ihm einer seiner Richter das Todesurteil und brach den Stab über ihn. Darauf bat er um die Erlaubnis, noch einige Worte sprechen zu dürfen. Sie wurde gewährt. Er sagte, es dränge ihn dazu, vor seinem Tode den Beamten und dem Personal der Anstalt seinen Dank auszusprechen für die humane Behandlung, die ihm zuteil geworden sei. Er sterbe nicht als Mörder, sondern als Mensch. Er sei so wenig schuldig wie dieser hier – dabei hob er das Kruzifix in die Höhe, das er in der rechten Hand hielt. Als er sich aber über diesen Punkt weiter auslassen wollte, trat der Staatsanwalt mit brüsker Geste vor ihn hin, schnitt ihm das Wort ab und befahl: »Scharfrichter, tun Sie Ihre Pflicht.« Die Henker griffen zu, und in einer Minute war das blutige Drama vorüber.

Als sich das Militär auf der Mauer gezeigt hatte, war es von den Gefangenen mit Wutschreien und Verwünschungen begrüßt worden. »Bluthunde! Mörder! Staatsbestien!« Die Hinrichtung selber verursachte eine ungeheure Aufregung.

Im Laufe der Zeit wurde es sodann zur Legende im Hause, daß der Hingerichtete unschuldig gestorben war. Man wob ihm eine Art Heiligenschein. Rührende Geschichten aus seinem Leben wurden herumkolportiert und von vielen geglaubt. Alle sprachen voll Bewunderung von dem männlichen Mut, mit dem er in den Tod gegangen war. Mit Unwillen und Verachtung äußerte man sich über die Kommunisten, die zu feige gewesen seien, für den unschuldig verurteilten Genossen etwas zu tun. Es hieß, der Bruder des Toten, der ihn am Tage vor der Hinrichtung besuchte, habe eine Andeutung fallen lassen, er brauche die Hoffnung noch nicht ganz aufzugeben, in letzter Stunde könne noch eine Wendung eintreten; und dann hätten die Feiglinge doch nichts gewagt. Fragte man, was denn hätte getan werden können angesichts der mit Militär und Maschinengewehren besetzten Mauern, so bekam man unbestimmte Antworten. Irgend etwas hätte getan werden müssen. Was, wußte niemand.

Und dann tauchte nach Jahr und Tag plötzlich das Gerücht auf, der wirkliche Täter sei nach Amerika geflüchtet und habe dort auf dem Sterbebett ein Geständnis abgelegt. Es stand in der Zeitung. Es mußte wahr sein. Hatte man es nicht immer gesagt, daß der Ärmste unschuldig gestorben sei? Wieder ein Justizmord mehr. Jetzt gehörten aber die Richter und der Staatsanwalt geköpft, besonders der Staatsanwalt, diese brutale Kanaille, die nicht einmal einen Todgeweihten seine letzten paar Worte aussprechen ließ. Wie eine Epidemie ging das Gerücht und die dadurch ausgelöste Wut durch das Haus. Und als beide endlich erloschen, weil es sich herausstellte, daß an der Geschichte kein wahres Wort sei, blieb doch etwas übrig. Der Heiligenschein war ein wenig größer geworden.

Einen Juristen, der bei der Hinrichtung zugegen war, fragte ich später einmal, ob die Worte, mit denen der Mann seine Unschuld beteuerte, den Klang der Wahrheit gehabt hätten. Nach einigem Überlegen kam die Antwort: Ja, den hätten sie gehabt. »Halten Sie es für wahrscheinlich,« fuhr ich fort, »daß er in der letzten Minute vor seinem Tode über diesen Punkt die Unwahrheit sagte?« – »Warum denn nicht?« – »Was soll er dabei für ein Motiv gehabt haben?« – »Weiß ich nicht. Kann ich nicht wissen. Der Mann war schuldig. Belastendere Indizien hat es noch nie gegeben. Wenn wir auf solche Indizien hin nicht verurteilen dürfen ...« – »Das Argument kenne ich. Lassen wir es dahingestellt. Aber was sagen Sie zu den Worten: ich bin so wenig schuldig wie dieser Gekreuzigte?« – »Dazu ließe sich manches sagen. Unter anderem könnte man sagen, daß darin gar keine Beteuerung der Unschuld liegt.« – »Da bin ich neugierig.« – »Nun, war denn Jesus von Nazareth unschuldig? War er nicht tatsächlich ein Volksaufwiegler? Ein Hochverräter am Judentum? Ein Gotteslästerer, nach dem Gesetze Mosis des Todes schuldig?« – »Ach, und da glauben Sie, dieser Mann aus dem Volke, ein Schmied ist er ja wohl gewesen, war im Angesichte des Todes einer so subtilen Dialektik fähig? Wenn er ein Jurist gewesen wäre, dann vielleicht. Aber auf den Gedanken, daß die Worte so gemeint waren, kann nur ein Jurist kommen.«

Etwas mehr als ein Jahr war vergangen seit dem Blutgericht im Hof, das, wie versichert wurde, sich nicht wiederholen würde, nachdem sowohl die städtische Behörde wie die Anstaltsdirektion beim Ministerium in diesem Sinne vorstellig geworden waren, da ging eines Tages wieder ein Gefesselter hinter dem Gitter hin und her. Wieder ein junger Mensch, zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt. Die Erregung und Spannung im Haus ist nicht so groß wie bei dem ersten Fall. Diesmal scheinen auch die Aussichten auf eine Begnadigung günstiger zu sein. Es ist kein Doppelmörder, sondern nur ein einfacher Mörder. Allerdings ein Raubmörder der abscheulichsten Art. Der Mann ist vollständig überführt, hat aber noch kein Geständnis abgelegt. Er will auch kein Gnadengesuch einreichen, weil er fest davon überzeugt ist, daß man in Anbetracht seiner Jugend und mit Rücksicht auf die Zeitverhältnisse das Urteil nicht vollstrecken wird. Die Zeit bringt es ja so mit sich, daß Bauernburschen zuerst sich aufs Schieben legen und zuletzt die Leute auf der Straße totschlagen. Das haben schon andere vor ihm so gemacht und sind nicht geköpft worden, warum also soll das gerade ihm zustoßen? Er benimmt sich sehr trotzig, weist den katholischen Geistlichen ab. Einem der Aufseher, der ihm den guten Rat erteilt, rechtzeitig umzusatteln und sich vor allem die Fürsprache des sehr einflußreichen Herrn Pfarrers zu sichern, gibt er zur Antwort, er brauche keine Fürsprache, und die Fürsprache eines Pfaffen verschmähe er unter allen Umständen. Der Aufseher sagt ihm: Passen Sie auf, es geht um Ihren Kopf. Er will es nicht glauben. Und schlimmstenfalls, nun, was liegt daran, es geht ja rasch vorüber.

Fast alle Gefangenen halten es für sicher, daß der Mann hingerichtet wird, und die meisten haben sich mit dem Gedanken abgefunden, daß die Hinrichtung wieder im Hofe stattfinden wird. Nur einige wenige reizt dieser Gedanke zu Ausbrüchen heftigen Zornes. Besonders einer der Schänzer, dem ein auswärtiger Gönner Ibsens sämtliche Werke geschenkt hatte, konnte sich gar nicht beruhigen, sondern erging sich immer wieder in bitterer Polemik gegen die Todesstrafe im allgemeinen und insbesondere gegen deren Vollstreckung innerhalb der Anstalt. Was er denn machen wolle? Irgend etwas, Beschwerde beim Ministerium, irgendeine Protestaktion, ruhig hinnehmen würde er die Sache auf keinen Fall.

An einem Sonnabend im November wurde dem Verurteilten eröffnet, daß er am folgenden Montag in der Frühe hingerichtet würde. Der junge Mensch brach zusammen. Vorbei war es mit dem Trotz, vorbei mit der Verstocktheit. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an den Pfarrer und ließ ihn nicht mehr von sich. Er legte ein reumütiges Geständnis ab.

Sonntags nach der Messe forderte der Geistliche mit bewegter Stimme alle Gefangenen auf, zu beten für einen unglücklichen Leidensgefährten, der in schwerer Not sei. Die meisten Anwesenden wußten, wer gemeint sei, und das Vaterunser wurde gesprochen mit einem Ernst und einer Andacht, wie sie sonst nicht üblich waren. Den Rest des Tages verbrachte der Pfarrer bei dem Verurteilten. Gerne hätte er noch etwas getan, ihn zu retten. Zusammen mit dem Direktor wandte er sich an den Staatsanwalt, der sich bereits eingefunden hatte, und erklärte sich bereit, beim Minister vorstellig zu werden. Aber der Staatsanwalt war dagegen. Erstens sei es zu spät; und zweitens müsse das Urteil vollstreckt werden, weil die Volksstimme das fordere. Die Leute in der Gegend, wo die Tat geschehen war, seien in größter Aufregung und verlangten Sühne für den Mord. Darum halte er einen Schritt beim Minister nicht für angebracht. Man solle der Gerechtigkeit freien Lauf lassen. Es sei ja jetzt, nachdem der Mörder geständig, alles in schönster Ordnung. Der Herr Pfarrer möge seine Aufgabe darin erblicken, den Mann gut vorzubereiten für seinen letzten Gang.

Die ganze Nacht hindurch hörten die Gefangenen, deren Zellen nach dem Krankenhaus zu lagen, das nur selten aussetzende gemeinsame Gebet des Geistlichen und des Verurteilten. Der Unglückliche hielt seine Gedanken ausschließlich auf das Jenseits gerichtet. Die Henkersmahlzeit hatte er abgelehnt. Gegen drei Uhr empfing er die Sakramente.

Dann schlug es vier Uhr. Viertel. Halb. Dreiviertel. Ich hörte draußen vor meinem Fenster Tritte und Stimmen. Diesmal war das Schafott in unmittelbarer Nachbarschaft aufgerichtet. Ich kleidete mich an und sah hinaus. Auf der Mauer standen einige Aufseher als Wachen. Unten strebten immer mehr Gestalten durch den Nebel der Richtstätte zu. Es wurde langsam heller.

Fünf Uhr. Das Glöcklein beginnt zu läuten. Noch einige Minuten, dann schlägt in der Ferne eine Tür, die in den Hof hinausführt, krachend zu. Schritte nähern sich. Von einer Kette von Aufsehern umgeben, kommt der arme Sünder daher, in schwarze Leinwand gekleidet, entblößten Hauptes. Ihn mit dem Arme stützend, neben ihm der Pfarrer. »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel, Amen.« Vorüber. Ich sehe nichts mehr.

Eine Stimme wird laut, undeutlich, eintönig. Das Urteil wird verlesen. Gemurmel. Ein, zwei Minuten schleichen dahin, auf bleiernen Sohlen. Dann – ein markerschütternder dumpfer Schlag, das Beil fällt. Rauschend ergießt sich das Blut in den Sack. Todesstille.

Der Geistliche spricht. Nur einzelne Worte dringen an mein Ohr; mir scheint, ich höre mehrere Male »Schieber« und »Schafott«. Etwa zehn Minuten dauert das, sie kommen mir vor wie Stunden, ich stehe betäubt, sehe mit geschlossenen Augen, wie die Henkersknechte den Leichnam losschnallen und in den Sarg legen, der Scharfrichter nimmt den abgeschlagenen Kopf aus dem Sack – wie ein Blitz durchfährt mich der Gedanke: dieser hatte doch sein Haar ganz kurz geschoren, wo wird er ihn anfassen? – Scheußlich, scheußlich.

Ich taumele von dem Stuhl hinunter, werfe mich aufs Bett.

*

In einem Zimmer vorn am Tor zählte ich später am Vormittag Wäsche, als der Geistliche im Ornat, begleitet vom Meßner und zwei Weihrauchfässer schwenkenden Knaben, nach der Totenkammer ging, um die Leiche einzusegnen. Er hielt den Kopf tief gesenkt und setzte mit Anstrengung einen Fuß vor den andern. Das sonst von Gesundheit gerötete energische Gesicht war bleich und müde und trug die Spuren schweren seelischen Kampfes. Ja, Schweres hatte dieser Mann durchgemacht in den letzten vierundzwanzig Stunden. »Während der vier Kriegsjahre habe ich manches Furchtbare erlebt,« erzählte er später, »aber nichts, was mich so mitgenommen hat wie diese Hinrichtung.« Seine moralische Kraft allein war es, die den Verurteilten instand setzte, sich bis zum Tode aufrechtzuhalten. Er hat ihn gestützt, fast getragen, auf dem letzten Gang. Seine Hand hielt der Unglückliche fest, als er schon auf dem Brett lag, und das Beil traf nicht bloß den Hals des Mörders, sondern schlug auch auf die Nerven des Seelsorgers.

Genoß der Pfarrer schon früher im Hause Respekt und Verehrung, jetzt wurden beide noch größer. Er suchte in seinen Gesprächen mit den Gefangenen den Fall apologetisch zu verwerten. Eine Religion, die in so schwerer Bedrängnis so großen Trost und so große Stärke verleihe, erweise dadurch ihren göttlichen Ursprung. Ein Skeptiker meinte dagegen, der Fall sei nicht deswegen interessant, weil er die Göttlichkeit der christlichen Religion beweise – jede andere Religion hätte in gleichem Falle das gleiche geleistet –, sondern deswegen, weil man daraus wieder einmal ersehen könne, wie groß der Einfluß einer starken Persönlichkeit sei. Daß ein Starker für eine kurze Zeit einen Schwachen stark machen könne, daß es möglich sei, sittliche Kraft zu übertragen durch das Medium bloßer Glaubensmeinungen – das sei das Merkwürdige.

Der Ibsen-Schänzer meldete sich kurz nach der Hinrichtung aus der Kirche. Das war seine Protestaktion gegen die »Schlächterei«. Er wolle nichts mehr wissen von einer Religion, die solche Abscheulichkeiten sanktioniere. Voll Stolz machte er mir bei der ersten Gelegenheit Mitteilung von diesem Schritt und war überrascht, als ich ihm meine Mißbilligung kundgab. »Ihre Handlungsweise ist unlogisch und töricht«, sagte ich ihm. »Inwiefern?« – »Unlogisch ist sie, weil die Kirche keinerlei Schuld trägt daran, daß auch heute noch der Mord mit dem Tode bestraft wird.« – »Sie duldet es aber doch.« – »Was soll sie denn dagegen tun? Der Staat läßt sich von ihr nicht in seine Angelegenheiten hineinreden. Glauben Sie, daß es einen Wert hätte, wenn der gesamte Klerus Deutschlands eine Petition an den Reichstag schickte und die Abschaffung der Todesstrafe verlangte? Wahrscheinlich gibt es auch im Klerus Anhänger der Todesstrafe. Es ist kein Beweis moralischer oder intellektueller Minderwertigkeit, wenn man glaubt, ohne die Todesstrafe gehe es nicht. Da hat jeder das Recht, sich seine eigene Meinung zu bilden. Und sobald die Zahl der Gegner dieser Strafe groß genug geworden ist, wird sie abgeschafft. Also handeln Sie unlogisch, wenn Sie die Kirche für diese Hinrichtung verantwortlich machen wollen. Sie ist dafür so wenig verantwortlich wie der Männergesangverein, dem Sie die Ehre hatten anzugehören, oder wie der Verein der Ibsen-Freunde, dem Sie die Absicht haben sich anzuschließen. Aber ganz abgesehen davon, und was wichtiger ist, Ihre Handlungsweise muß auch als sehr töricht bezeichnet werden.« – »Wieso?« – »Fragen Sie doch nicht so dumm. Sie haben doch die Absicht, demnächst ein Gesuch zu machen. Weitere Ausführungen erübrigen sich wohl. Überlegen Sie sich die Sache noch einmal.«

Er hat es sich nochmal überlegt, und als ich nach einiger Zeit an seiner Zelle vorbeikam, hing das Schildchen mit dem Buchstaben K wieder an der Tür.

Nach diesem zweiten Fall schien es klar, daß die Regierung nicht gesonnen war, die von seiten der Stadt und der Direktion gemachten Einwendungen zu berücksichtigen, sondern beabsichtigte, die Hinrichtungen regelmäßig im Zuchthaus abhalten zu lassen. Es dauerte denn auch nicht viel mehr als einen Monat, da wurde schon der dritte Todeskandidat eingeliefert. Ich befand mich an dem Tage gerade auf der Kammer.

Hereintrat oder vielmehr hereingeschoben wurde ein bleicher, abgezehrter Mensch, fast noch ein Jüngling, mit blödem Gesichtsausdruck, der seine Umgebung gar nicht beachtete, teilnahmslos vor sich hinstierte und den Finger in den Mund gesteckt hielt. Er markiert den wilden Mann, sagten die drei Polizeibeamten, die ihn gebracht hatten. Auf alle Fragen, die an ihn gestellt wurden, gab er keine Antwort. Von Zeit zu Zeit stieß er einen tiefen Seufzer aus und klagte: O du lieber Vatter! Als man ihn auszog, wurden an seinem Leibe vielfarbige Striemen sichtbar. Er mußte furchtbar verprügelt worden sein.

Während sich noch der Kammeraufseher Mühe gab, etwas aus ihm herauszubringen, und ihm in Güte zuredete, er solle doch die Dummheiten sein lassen und sich benehmen wie ein vernünftiger Mensch, kam einer der Inspektoren herein, stellte sich mit auf die Hüften gestemmten Armen vor das Jammerbild hin und begann ihm die Leviten zu lesen. »Du nichtswürdiger Halunke, bilde dir doch ja nicht ein, daß du hier mit solchen Lausbubereien etwas erreichst. Ja, das könnte dir wohl passen, erst ein paar Menschen zu morden und dann nachher den Geisteskranken zu spielen und dich in einer Anstalt füttern zu lassen bis an dein seliges Ende. Nee, mein Lieber, das gibt's nicht. Mit deinesgleichen wissen wir schon fertig zu werden. Die kriegen wir schon zahm – so, schau her!« er machte mit der rechten Hand eine leicht verständliche Bewegung, aber der Angeredete hielt den Kopf gebeugt und murmelte nur halblaut vor sich hin: O du lieber Vatter! Das erboste seinen Peiniger noch mehr. Zum Schluß stellte er ihm in Aussicht, daß nicht viele Wochen vergehen würden, bis man ihn einen Kopf kürzer mache. »Totschlagen sollte man dich wie einen tollen Hund.«

Man brachte den Mann in eine der benachbarten Tobzellen, wo er sich auf den Boden hockte und das vor ihn gestellte Essen unberührt ließ. Schon seit mehreren Tagen nahm er keine Nahrung mehr zu sich. Als später nachgeschaut wurde, hatte er das Essen ausgeschüttet und spielte mit den Brocken wie ein Kind mit Bausteinen. Am Nachmittag kam der Arzt und ordnete seine Überführung auf die Irrenstation an.

»Der arme Kerl ist doch wirklich übergeschnappt, das sieht ein jeder«, meinte der Kammerschänzer. Der Aufseher zuckte die Achseln. Das sei nicht so gewiß; vielleicht simuliere er auch bloß, um sein Leben zu retten; jedenfalls werde man ihn genau beobachten, ehe man diese Frage entscheide. »Und wenn die Ärzte ihn nach soundso viel Monaten für geistig gesund erklären, wird er dann hingerichtet?« – »Selbstverständlich wird er dann hingerichtet, und wenn Jahre darüber vergehen.« – »Wenn sich aber die gelehrten Herren nicht einigen können? Mit absoluter Sicherheit können die's doch auch nicht wissen, ob er spinnt.« – »Sie werden sich schon einigen.«

Der Fall schien nicht so einfach zu sein. Die Gelehrten waren noch nicht einig, als ich ein halbes Jahr später die Anstalt verließ.


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