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An vier Tagen der Woche wurde morgens zur Kirche geläutet. Sonntags war Hochamt, Mittwochs stille Messe, Freitags Religionsunterricht und Samstags Gesangunterricht. Außerdem wurde alle vierzehn Tage um 1 Uhr Vesper abgehalten, eine Einrichtung, die wenig beliebt war, da sie die Mittagsruhe störte.
Zum Kirchenbesuch war der Gefangene verpflichtet; wer nicht wollte, hatte unter Angabe von Gründen einen Antrag auf Dispensation an die Konferenz zu stellen; der Fall wurde beraten und je nach den Umständen entschieden, nicht selten dahin, daß der Antragsteller nur weiter in die Kirche gehen solle, es könne ihm nichts schaden. Ein Wechsel des Religionsbekenntnisses war nicht gestattet. Damit wurde es erst anders nach der Revolution, als die neue Verfassung kam. Jetzt hörte der offizielle Zwang auf, allen Anträgen auf Enthebung vom Kirchenbesuch wurde ohne weiteres stattgegeben, es blieb nur noch eine Art inoffiziellen Zwangs, von dem in der Folge noch die Rede sein wird. Die meisten Gefangenen hätten eine noch größere Freiheit gewünscht, nämlich das Recht, von Fall zu Fall nach Gutdünken entscheiden zu dürfen, ob sie dem Gottesdienst beiwohnen wollten oder nicht. Natürlich wurde aus Gründen der Disziplin eine solche Freiheit nicht gewährt. Nach und nach schlich sich aber die Gewohnheit ein, wenn man nicht in die Kirche gehen wollte, einfach beim Öffnen der Tür dem Aufseher zu erklären, man fühle sich nicht wohl; worauf dieser dann wieder zuschloß und weiterging.
Drei- bis viermal im Jahre wurde den Katholischen Gelegenheit gegeben zum Empfang der Sakramente, die Evangelischen gingen vor Ostern und Weihnachten zum Abendmahl. Doch war dies selbstverständlich ganz freiwillig.
Zweimal während meiner Inhaftierung, im ersten und im letzten Jahre, fand Firmung statt. Das erstemal war es ein Weihbischof, der das Sakrament spendete. Seine Ansprache ist mir noch gut in der Erinnerung, da er die Taktlosigkeit beging, mich in derselben direkt anzupredigen. Er erzählte, es sei unlängst auch ein berühmter englischer Schriftsteller durch die Hand Gottes ins Zuchthaus geführt worden, wo er viel gelitten, aber auch die unschätzbare Gnade der Bekehrung erhalten habe. In Trauer und Verlassenheit sei ihm die Gestalt des göttlichen Erlösers erschienen, mit tränenüberströmtem Antlitz. Da habe das Weltkind gespürt, wie die Eisrinde des Unglaubens, die in den Jahren des Glücks sich um sein Herz gelegt, dahinschmolz, und er sei wieder ein Gotteskind geworden. Der Bischof zitierte die betreffende Stelle aus » De profundis« mit auffälliger Genauigkeit und bemerkte daran anschließend, er hoffe, daß unter den vor ihm Sitzenden einer sei, dem die Strafe in gleicher Weise zum Heile gereiche wie seinem englischen Vorbilde. Es war klar, daß dies auf mich gemünzt war. Als der Hausgeistliche das nächstemal zu mir kam, beschwerte ich mich. Er hatte den Namen Oscar Wilde nie gehört, ließ sich ausführlichen Bericht erstatten und meinte schließlich, es sei ja in gewisser Hinsicht für mich sehr schmeichelhaft, mit einem so geistreichen Literaten in Verbindung gebracht zu werden, aber das Anpredigen sei freilich ein Unfug; übrigens könne auch einem Bischof einmal eine Entgleisung vorkommen.
Einige Zeit vor dem Kriege erschien ein Domherr im Hause; wie es hieß, um sich von der ordnungsgemäßen Beschaffenheit unseres Kirchengesanges zu überzeugen. Es war ein sehr dicker Herr mit einem typischen Prälatengesicht. Er tat mir die Ehre an, mich in meiner Zelle zu besuchen. Ich hatte schon mancherlei Besuche empfangen, darunter sogar den eines preußischen Prinzen, aber bei keinem hatte ich so das Empfinden, der Neugierde zur Schau gestellt zu sein, wie bei dem Besuche dieses übrigens sehr liebenswürdigen Domherrn, der mich über alles mögliche ausfragte, sich meine Privatbibliothek zeigen ließ und beim Anblick der Plato, Spinoza, Locke, Hume, Kant seine Mißbilligung äußerte darüber, daß ich mir lauter Philosophen der Verneinung – so sagte er – zum Studium ausgesucht hatte, indem er als Antidoton – so sagte er – Thomas von Aquin empfahl. Ich erwiderte, ich hätte nicht das Bedürfnis, ein Gegengift einzunehmen; überdies fehle mir zur Lektüre des Aquinaten die theologische Vorbildung.
Tags darauf, ich war gerade im Spazierhof, kam der Geheimrat des Wegs, blieb stehen, wie wenn ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf ginge, und kam dann zu mir ans Gitter. Zuerst redete er über irgendeine gleichgültige Sache, dann faßte er mich scharf ins Auge und sagte: »Sie haben ja gestern hohen Besuch gehabt.« Ich bejahte. »Was hat er denn von Ihnen gewollt, der hochwürdige Herr?« Ich berichtete. »So, so«, brummte er unwirsch. »Sie sollen statt Spinoza Thomas von Aquin studieren. Lassen Sie sich da keine Vorschriften machen. Sie haben von mir aus die Erlaubnis, zu lesen, was Sie wollen. Wir sind doch nicht mehr im finsteren Mittelalter. Den Thomas soll der Hochwürdige nur selber lesen. Suum cuique. Bei mir herrscht Gewissensfreiheit. Da fällt mir ein, ich habe neulich irgendwo ein ganz neues Buch gesehen über Spinoza, es soll sehr gut sein. Wenn Sie sich dafür interessieren, will ich sehen, ob ich's für Sie bekommen kann.« Ich lehnte höflich dankend ab; ich hätte für das, was andere über Spinoza schrieben, nicht viel Interesse und gar keine Zeit übrig; was er selber geschrieben, genüge mir, und ich gedächte mir daraus selber zu entnehmen, was für mich passend sei. »Na, wie Sie wollen«, nickte er gnädig und ging.
Schon in der Zeit, als ich die Zelle noch nicht verlassen hatte, konnte ich die Wahrnehmung machen, daß in der Kirche viel Allotria getrieben wurde. Wenn Aufseher Dienst hatten, von denen bekannt war, daß sie ein Auge zudrückten, ging von Kasten zu Kasten ein lebhafter Verkehr vor sich, Briefe und Tauschobjekte wanderten herum, die unkirchlichsten Gespräche wurden geführt. Als mein erster Nachbar, der Matrose, kurz vor seiner Entlassung stand, hörte ich ein Gespräch zwischen ihm und einem mir unbekannten Gefangenen, der an seiner anderen Seite saß. Der Matrose gab in drastischer Weise seiner Befriedigung Ausdruck, daß er seine Zeit jetzt bald abgekloppt habe; nächste Woche gehe es nach Hamburg.
»Kommst du über Frankfurt?« fragte der andere.
»Ja.«
»Du, da könntest du meine Frau besuchen, die wohnt in Frankfurt.«
»Was treibt sie denn, deine Frau?«
»Nu, was soll se treiben, sie schlägt sich halt so durch, 's eine junge und sehr hübsche Frau, da kannst du dir denken, was sie treibt.«
»Also sie geht los. Allright. Kann man sich ja mal ansehen. Aber ich habe nicht viel Geld, wenn ich herauskomme. Mit den paar Mark, die diese Gauner einem ausbezahlen, kann man keine großen Sprünge machen.«
Der andere sann eine Weile nach. »Ich will dir was sagen,« fuhr er dann fort, »es liegt mir sehr viel daran, meiner Frau eine gewisse Nachricht zukommen zu lassen, ich schreibe dir einen Brief für sie, den schmuggelst du hinaus und bringst ihn nach Frankfurt. Dann brauchst du nichts zu bezahlen.«
»Das wär' schon recht. Aber wie bring' ich den Brief hinaus?«
»Sehr einfach. Du klebst ihn mit Heftpflaster unter deine Fußsohlen. Das Pflaster besorge ich dir.«
»Und wenn sie ihn trotzdem finden?«
»Sei unbesorgt. Ich schreibe ihn so, daß niemand klug daraus wird, außer der, für die er bestimmt ist. Wir haben eine Geheimschrift. Also du gibst mir dein Ehrenwort, daß du die Sache drehst. Ich habe Vertrauen zu dir.«
» Allright, wird gemacht. Eine Liebe ist der anderen wert.«
Man kann hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber Pfarrer und Kirche unter den Gefangenen drei Klassen unterscheiden. Zu der ersten Klasse gehören die Heuchler, die das Heucheln übertreiben. Sie wollen den Pfarrer mit frommen Reden einseifen, erbitten von ihm Weihwasser und Rosenkränze, schmücken die Wände ihrer Zelle mit Heiligenbildern, die Briefe, die sie nach Haus schreiben, triefen von Frömmigkeit. Sie müssen erst durch Erfahrung klug werden, denn natürlich verfehlen sie ihren Zweck und machen sich bei Göttern und Menschen verhaßt. Haben sie das einmal eingesehen, so gehen sie zur zweiten Klasse über, der bei weitem zahlreichsten. Diese Klasse macht den religiösen Betrieb mit, weil das von Nutzen ist. Wieso von Nutzen? Nun, der Herr Pfarrer ist eine einflußreiche Persönlichkeit. Er hat Sitz und Stimme in der Konferenz, sein Fürwort ist von Gewicht beim Ministerium. Ohne seinen Beistand ist ein Gnadengesuch ziemlich aussichtslos. Bis zum Ende des Krieges waren Gnadengesuche verhältnismäßig selten, weil nur unter sehr einschränkenden Bedingungen statthaft. Für die Rückfälligen kamen sie gar nicht in Betracht. Hätte man einen von diesen gefragt, warum er sich angelegen sein ließ, seine religiösen Pflichten zu erfüllen, man hätte etwa folgendes zur Antwort erhalten: Erstens, weil es zur guten Führung gehört, daß man in die Kirche geht; zweitens, weil es unvernünftig ist, sich das Wohlwollen eines Mannes zu verscherzen, der einem schaden kann; drittens, weil es der Pfarrer ist, der bei der Entlassung einem Arbeitsgelegenheit verschafft. Der letztere ist wohl der wichtigste Punkt. Nun ist durchaus nicht gesagt, daß diese Argumentation des Gefangenen, obwohl an sich begründet, allemal zutrifft. Einer der Hausgeistlichen, die ich kennenlernte, erklärte stets ausdrücklich, daß seine Bemühungen, die Entlassung zu erwirken und für den Entlassenen eine Stelle zu beschaffen, ganz unabhängig seien von der Stellung, die der Gefangene zur Religion einnehme; und kein Zweifel, er hat dieser Erklärung entsprechend gehandelt, was auch mit der Zeit im Hause anerkannt wurde. Aber ein Rest von Mißtrauen blieb doch bestehen; man dachte, sicher ist sicher, der Pfarrer ist auch nur ein Mensch, er wird beim besten Willen nicht alle menschlichen Schwächen und Vorurteile abstreifen können, er wird sich doch wohl kaum mit der gleichen Wärme einsetzen für jemand, der nicht in die Kirche geht, wie für einen guten Christen. Gehen wir also vorsichtshalber in die Kirche, es ist ja auch so schlimm nicht. Man sitzt allerdings nicht gerade bequem in den verdammten Käfigen da oben, aber es ist doch eine Abwechslung in dem ewigen Einerlei, man kann sich ein bißchen mit seinem Nachbarn unterhalten, hört mal hie und da etwas Neues. Was von der Kanzel gepredigt wird, kann man ja auf sich beruhen lassen.
Diese Klasse ist die zahlreichste. Zur dritten Klasse gehören nur wenige. Nur wenige haben im Zuchthaus den Mut, sich zu ihrer Überzeugung zu bekennen, rücksichtslos, ohne sich um die Folgen zu kümmern. Nichts gedeiht schlechter auf diesem Sumpfboden als männliche Offenheit.
Nun sei nicht geleugnet, daß es auch den einen oder anderen geben mag, der in die Kirche geht, weil es ihm Herzensbedürfnis ist. Unter den Hunderten von Gefangenen, die ich kennenlernte, war zwar kein solcher zu entdecken, aber es wäre offenbar unlogisch, deshalb die Möglichkeit einer solchen Ausnahmeerscheinung in Abrede zu stellen.
Von den Insassen des Hauses waren etwa zwei Drittel katholisch, ein Drittel evangelisch, entsprechend dem Zahlenverhältnis der beiden Konfessionen im Lande. Der evangelische Pfarrer, ein älterer Herr, der schon lange im Strafanstaltsdienst stand und keine Illusionen mehr hatte, schränkte seine Tätigkeit auf das unbedingt Notwendige ein, machte wenig Zellenbesuche, nahm Abmeldungen aus der Kirche mit großer Gelassenheit entgegen. Bis zur Revolution empfanden die Gefangenen dies eher als eine Annehmlichkeit. Man konnte oft, wenn Katholische und Evangelische sich über diese Dinge unterhielten, von den ersteren Äußerungen hören folgender Art: Ihr Evangelischen habt es gut, euer Pfarrer läßt euch in Ruhe, plagt euch nicht mit frommen Ermahnungen, drängt euch nicht zum Empfang der Sakramente. Wenn in diesen Jahren ein Übertritt von der einen zur anderen Konfession gestattet gewesen wäre, mancher Katholik hätte aus Bequemlichkeitsgründen konvertiert. Damals stand überhaupt das Katholische niedriger im Kurs. Das Zentrum war zwar die stärkste Partei im Lande, aber die Regierung war liberal. Von oben her wehte kein katholikenfreundlicher Wind. Der erste Direktor war katholisch gewesen, der zweite war es nicht. Im Gegenteil. Offiziell herrschte natürlich im Hause Parität, aber wer das Organ hatte für Imponderabilien, konnte interessante Studien machen. Der Einfluß des katholischen Geistlichen sank von Jahr zu Jahr, und zu Beginn des Krieges war es dem Geheimrat tatsächlich gelungen, den unliebsamen Mitarbeiter so weit zu bringen, daß er aus dem Gefängnisdienst austrat und eine Pfarrstelle auf einem Dorfe annahm.
Nach einem Interregnum von einigen Monaten machte der Nachfolger seinen Antrittsbesuch. Ein ganz anderer Typ. Doktor der Theologie, gar nichts Bäuerliches im Wesen, geistreicher Plauderer, ein moderner Mensch. Anfangs kam er mir mit großer Höflichkeit entgegen, aber ich hatte gleich das Gefühl, daß ich mit ihm nicht so gut auskommen würde wie mit seinem Vorgänger. Wirklich dauerte es nicht lange, da zog er andere Saiten auf. Er begann mit mir über die Begebenheiten meines Prozesses zu sprechen, verlangte Auskünfte, die meinerseits ein Vertrauen voraussetzten, das ich nicht gewillt war, ihm zu schenken, unsere Unterhaltungen wurden immer unerquicklicher, seine Worte immer schärfer, bis er mir eines Tages rundheraus erklärte, es könne seiner Meinung nach an meiner Schuld kein Zweifel sein, und er betrachte es als seine Aufgabe, mich zur Ablegung eines Geständnisses zu veranlassen. Ein solches Geständnis sei ich der göttlichen und menschlichen Gerechtigkeit schuldig. Mit nicht geringerer Schärfe wies ich sein Ansinnen zurück. Was ich der göttlichen Gerechtigkeit schulde, sei meine eigenste Privatangelegenheit, in die ich keine Einmischung dulde, und von der menschlichen Gerechtigkeit hielte ich nicht viel; jedenfalls sei sie mir so viel schuldig geblieben, daß ich zeitlebens mit ihr nicht quitt werden könnte.
Von dem Tag an war zwischen uns Fehde. Doch wurde der Kampf nicht in so brutaler Form geführt wie der gleichzeitig tobende Weltkrieg. Gewisse Rücksichten wurden nie außer acht gelassen. Nach Jahr und Tag trat ein Zustand ein ähnlich dem an der Ostfront kurz vor dem Abschluß des Waffenstillstands. Versuche, mich zu einem Geständnis zu bewegen, wurden nicht mehr gemacht. Da kam einst im Laufe des Gesprächs die Tatsache ans Licht, die er bis dahin sorgfältig verborgen gehalten, daß der im ersten Kapitel erwähnte Amtsrichter, der während der Untersuchungshaft mein Kerkermeister gewesen und mir ebenso grün war wie ich ihm – er war inzwischen Ministerialrat geworden –, ein Verwandter des Herrn Pfarrers ist. Worauf ich ihm sagte: »Na ja, Herr Doktor, jetzt verstehe ich. Ihr geschätzter Vetter hat Sie natürlich, ehe Sie hierher kamen, scharf gemacht gegen mich. Das verüble ich weder Ihnen noch ihm. Aber eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede, man soll sie billig hören beide. Voreingenommenheit ist nicht sehr dienlich zur Bildung eines richtigen Urteils. Ich hoffe, daß Sie mit der Zeit davon abkommen und unbefangen die Tatsachen prüfen. Dann wollen wir uns über den Fall noch einmal unterhalten.« Er war eine komplizierte Natur, der Herr Pfarrer. Bisweilen hatte sein Wesen eine Schärfe, die unangenehm berührte; dann wieder zeigte er menschlichem Elend gegenüber ein zu weichliches Mitgefühl. Diesen Widerspruch erklärte er dahin, daß er sich gegen zu große angeborene Empfindsamkeit schützen müsse durch einen künstlichen Panzer. Er war sehr abhängig von Stimmungen. Bei schlechtem Wetter bedrückte ihn eine tiefe Schwermut. Dann kamen ihm Äußerungen über die Lippen, die er später gern zurückgenommen hätte. Trotz seines regen Geistes und reichen Wissens hatte man oft den Eindruck, daß er dem Leben merkwürdig hilflos gegenüberstand, fast wie ein Kind. Daß er nicht in die Zuchthausluft hineinpasse, stand mir von Anfang an fest, und je besser ich ihn im Laufe der sechs Jahre seiner Amtstätigkeit kennenlernte, desto stärker wurde diese Überzeugung; ja, ich hatte eine Ahnung, daß es mit ihm ein schlimmes Ende nehmen würde.
Er war nicht beliebt in seinem Wirkungskreis. Bei den Gefangenen nicht, die bei einer dunklen Ahnung seiner geistigen Überlegenheit sich durch einen zu großen Abstand von ihm getrennt fühlten, während das Unausgeglichene seines Charakters dem Aufkommen des erforderlichen Respekts hinderlich war. Diese Menschen, die selber im Leben gescheitert sind, haben meist eine feine Witterung für Charakterschwächen; es sollten ihnen nur reife und geschlossene Persönlichkeiten gegenübertreten. Fridolins Urteil war typisch: »Der Herr Doktor ist ein sehr gelehrter Mann, aber er ist kein Mann.« Bei den Aufsehern war er nicht bloß unbeliebt, sondern geradezu verhaßt. Das kam so. Es konnte ihm nicht lange verborgen bleiben, welche Spitzbübereien hinter den Kulissen vor sich gingen, nachdem ihm anfangs das reibungslose Funktionieren des Strafvollzugsapparates unter der willensstarken Leitung des Herrn Geheimrats außerordentlich imponiert hatte. Ging doch scheinbar alles wie am Schnürchen. Von außen besehen ein Wunderwerk menschlicher Organisationskunst. Als er dann allmählich die Fäulnis im Inneren wahrnahm, überkam ihn eine zu große Enttäuschung und ein zu heftiger Ekel. Mit Recht schrieb er die Hauptschuld an diesen Zuständen dem Aufseherpersonal zu und ließ sich zu scharfer Kritik hinreißen. Das erbitterte die Aufseher, die gewohnt waren, daß sich die Beamten mit ihnen solidarisch fühlten. Da fiel gar einmal von der Kanzel herunter die Bemerkung, es liefen im Hause viele umher, die Dienstmütze und Schlüssel trügen, aber selber hinter Schloß und Riegel gehörten. Das stieß dem Faß den Boden aus. Das war Hochverrat, Übergang ins feindliche Lager. Das mußte gerochen werden. Aber wie? Der Beleidiger ihres Standes war ihr Vorgesetzter, sehr gut angeschrieben beim Ministerium, hatte einflußreiche Verbindungen, es war schwer, ihm beizukommen. Beschwerden bei einer Landtagskommission, die von der neuen Regierung ins Haus geschickt wurde, um die Zustände zu untersuchen, halfen nicht bloß nichts, sondern taten den Beschwerdeführern Schaden. Nun munkelte man gar, der Pfarrer bereite eine große Aktion beim Ministerium vor zum Behufe einer gründlichen Reinigung des Augiasstalles. Ein Zittern und Zähneklappern ging durch die Anstalt. Der Jüngste Tag schien nahe. Aber Unkraut vergeht nicht. Ein Gott – welcher, ist allerdings schwer zu sagen – kam den Schwerbedrängten zu Hilfe und stürzte ihren Feind von seiner stolzen Höhe hinunter in den tiefsten Abgrund.
Einer der Aufseher, die größte Schwatzbase von allen, kommt eines Tages an einer Zelle vorbei, deren Tür nur angelehnt ist, weiß nicht, wer drinnen bei dem Gefangenen ist, will sich vergewissern, öffnet. In der Zelle steht der Herr Pfarrer und vor ihm der Gefangene – nackt. Schleunigst zieht der Eindringling seinen Kopf zurück und macht sich davon.
Selbstverständlich behält er seine Entdeckung nicht für sich, und bald hebt ein Gerede an im Haus: Der katholische Pfarrer eulenburgert. Die Aufseher tauschen ihre Beobachtungen aus; dieser hat das gesehen, jener das. Die Gefangenen werden bearbeitet; wenn sie tapfer aussagen gegen den Verhaßten, soll es ihr Schaden nicht sein. Jener Gefangene, bei dem die Entdeckung stattfand, wird eine vielumworbene Persönlichkeit. Gehen nicht die Aufseher bei ihm aus und ein, hat er nicht plötzlich Eßwaren und Tabak im Überfluß? Aber er will nicht recht. Die Sache ist ihm nicht recht geheuer. Andere haben weniger Bedenken. Da ist einer, der behauptet, daß ihn der Pfarrer geküßt habe. Andere behaupten anderes.
Endlich war man so weit. Ein Gefangener ging nach seiner Entlassung zum Staatsanwalt und machte Anzeige. Es folgte Suspension vom Amt, Verhaftung, eine Gerichtsverhandlung unter Ausschluß der Öffentlichkeit, das Urteil: acht Monate Gefängnis.
Vieles hat der Unglückliche bei seinem Fall mit niedergerissen. Es dauerte fast ein Jahr, bis ein Nachfolger gefunden werden konnte, und schwer war die Aufgabe, dornenvoll der Weg dieses Mannes. Hätte die geistliche und weltliche Behörde bei der Wahl eine weniger glückliche Hand gehabt, so wäre der Schaden wohl nie wieder gutzumachen gewesen. Aber der neue Pfarrer besaß alle Eigenschaften, die erforderlich waren. In erster Linie: er war ein Mann. Ein gerader, tapferer Mann. Kriegsfreiwilliger, später Divisionspfarrer. Eifriger, gewissenhafter Seelsorger, aber nicht engherzig; kein Kirchenlicht, aber mit viel gesundem Menschenverstand begabt. Dazu von einer grenzenlosen Güte, durch die schlimmsten Enttäuschungen nicht abzubringen von dem unverwüstlichen Optimismus, mit dem er seinen Dienst tat. Er scheute keine Mühe, für entlassene Gefangene Arbeitsgelegenheit zu beschaffen, Unterkunft, Kleidung. Nach dem Kriege waren die Bestimmungen über vorzeitige Entlassung und Beurlaubung wesentlich gemildert worden, so daß jetzt auch Rückfällige in Betracht kamen; jeder, der sich nicht ganz schlecht geführt hatte und bei dem noch ein Schimmer von Hoffnung war, daß er draußen guttun würde, durfte ein Gesuch wagen. Dutzenden dieser Leute hat der Pfarrer hinausgeholfen. Wie oft hat er in der Kirche erzählt, daß ihm da wieder einer, für dessen Entlassung er sich eingesetzt, übel gelohnt habe und von seiner Stelle weggelaufen sei; dadurch werde es ihm natürlich schwer, an dem Orte wieder jemand unterzubringen; er bitte doch alle, die in ähnliche Lage kämen, zu bedenken, wie sehr sie nicht bloß sich selber, sondern auch ihren Leidensgefährten schadeten durch eine derartige Handlungsweise.
Der Einfluß des katholischen Pfarrers stieg und wurde größer als je. Da inzwischen der Geheimrat gestorben war und einen Nachfolger erhalten hatte, in jeder Beziehung das Gegenteil seines Vorgängers, von wahrhaft humaner Sinnesart, Jurist, praktizierender Katholik, so trat in der Wertschätzung der beiden Konfessionen ein Wechsel ein. Katholisch wurde Trumpf. War doch auch mit der Revolution das Zentrum Regierungspartei geworden und ins Justizministerium eingezogen.
Bald hörte man über den evangelischen Geistlichen, der nach wie vor in derselben zurückhaltenden, gleichgültigen Art seinen Dienstgeschäften nachging, nur noch tadelnde und wegwerfende Urteile. Er tut nichts für uns, hieß es bei den evangelischen Gefangenen; wir kommen zu kurz; schaut, wie der andere seine Leute hinausbringt und ihnen weiterhilft; von uns wird selten einer auf Wohlverhalten entlassen; und ist er draußen, so kümmert sich niemand um ihn.
Unter den jungen Leuten, die im Kriege verwildert und durch die Schlammwellen der Nachkriegszeit ins Zuchthaus gespült worden waren, befand sich einer, dessen Äußeres und Manieren auf eine bessere Herkunft deuteten, obwohl er in moralischer Beziehung tiefer stand als die meisten anderen. Eine Großstadtpflanze, ich weiß nicht mehr, woher, wegen Dutzender von Verbrechen aller Art zu einer sehr langen Strafe verurteilt. Das entbehrungsreiche Leben im Zuchthaus gefiel ihm gar nicht. Er wollte wieder hinaus, um seine Jugend zu genießen. Eine Zeitlang gebärdete er sich wie toll, machte dem Personal viel zu schaffen und mußte zuletzt gar auf die Irrenstation übergeführt werden. Nachdem hier seine geistige Gesundheit festgestellt war, kam er wieder ins Haus zurück. Jetzt sah er ein, daß sein bisheriges Verhalten unklug gewesen war, und überlegte sich, wie er es besser machen könne. Eines Tages fragte er mich, ob ich wohl glaube, daß nunmehr, nach Einführung der neuen Verfassung, die ja jedem in religiösen Dingen völlige Freiheit verbürge, einem Gefangenen der Übertritt von der einen zur anderen Konfession gestattet werde. Ich schaute ihn groß an und sagte: »Sie wollen doch nicht etwa katholisch werden?«
»Warum denn nicht?« lächelte er.
Ich gab ihm mit klaren und kräftigen Worten zu verstehen, wie ich über ein solches Vorhaben dächte. »Sie glauben doch überhaupt nichts.«
»Ich glaube, daß es besser ist, draußen die Mädels zu küssen, als in der Zelle schlaflos zu liegen und sich selber zu befriedigen.«
»Aber dieser Glaube genügt doch nicht zu einem Religionswechsel.«
»Bah, die anderen glauben auch nicht mehr. Hier geht doch jeder nur in die Kirche, um einen Vorteil davon zu haben. Ob ich mit den Evangelischen oder den Katholischen hinaufgehe, bleibt sich gleich. Es sind dieselben Holzkästen. Es sind dieselben Verbrechergesichter von Aufsehern, die ich da oben zu betrachten das Vergnügen habe. Und was der Pfaffe am Altar und auf der Kanzel schauspielert, ist auch so ungefähr dasselbe. Kann ich aber als Katholik ein paar Jahre früher aus dieser Misere herauskommen, so wäre ich doch ein Schafskopf, wenn ich die Gelegenheit nicht beim Schopfe faßte.«
»Sie haben kein Gefühl dafür, wie gemein eine solche Handlungsweise ist?«
»Gemein? Nun ja, das mag es sein. Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen. Bin etwa ich schuld daran, daß man hier im Haus so heucheln muß? Habe ich den Strafvollzug so eingerichtet, wie er ist? Oder waren etwa die Herren, die dafür verantwortlich sind, selber aus eigener Erfahrung derart vom Wert der Religion überzeugt, daß sie auch uns dieses hohe Gut zugänglich machen wollten? Wer hat denn den Strafvollzug so eingerichtet? Ihr Juristen. Und daß ihr Juristen die ungläubigsten Thomase von der Welt seid, ist doch männiglich bekannt. Aber ich weiß wohl, ihr denkt, die Religion muß dem Volke erhalten bleiben. Weil die Esel dann besser zu gängeln sind. Ich danke. Will kein Esel sein. Will den Spieß umkehren und den Herren ein Schnippchen schlagen. Deswegen halte ich mich nicht für ein Jota schlechter als die sind, die mich zu der Kriegslist zwingen. Auf einen Schelmen anderthalbe.«
Er führte seinen Plan aus. Zunächst bat er, nachdem er bisher sich eifrig um jeden Posten beworben hatte, der ihm den Verkehr mit anderen Gefangenen ermöglichte, um Zurückversetzung in die Zelle. Diesem Wunsche wurde natürlich gern entsprochen. Auf der Zelle begann er, Sinnesänderung zu heucheln, ging in sich und zeigte Anwandlungen von Frömmigkeit. Alles mit Maß und Ziel, so daß der Verdacht vermieden wurde, als sei er übergeschnappt und leide an religiöser Manie. Von den Beamten, für die er bisher ein Schrecken gewesen, freuten sich viele mit den Engeln des Himmels über den Sünder, der Buße tat, aber der evangelische Pfarrer blieb kühl und hielt sich fern. Da meldete der Bekehrte sich zum Rapport, ließ sich dem Direktor vorführen und führte Klage darüber, daß ihm von seiten seines Seelsorgers so wenig Verständnis entgegengebracht werde. Der Direktor, in dessen edlem Herzen kein Argwohn auftauchte, geriet in einige Verlegenheit, entschuldigte den Pfarrer damit, daß er mit Arbeit sehr überlastet sei, da er außer dem Zuchthaus noch eine andere Strafanstalt pastorieren müsse, versprach aber, das Anliegen an ihn weiterzuleiten. Nein, entgegnete der Gefangene, er habe jetzt das Vertrauen zu dem Herrn verloren und wolle ihn nicht länger bemühen, ob er nicht einmal mit dem katholischen Pfarrer sprechen könne. Die Sache nahm ihren Fortgang und endete nach einiger Zeit damit, daß ihm erlaubt wurde, statt des evangelischen dem katholischen Gottesdienst beizuwohnen.
Die Aufseher und Gefangenen, die den Taugenichts kannten, lachten sich ins Fäustchen. Er selber, wenn er mir beim Gang in den Spazierhof begegnete, machte das tugendhafteste Gesicht, das man sich denken kann, schlug züchtig die Augen nieder, und um seinen Mund spielte ein Lächeln. Ob er die Ausdauer haben würde, die Komödie durchzuführen?
Er hatte sie nicht. Das zurückgezogene Leben auf der Zelle wurde ihm bald zu langweilig. Der katholische Religionsbetrieb war ihm zu intensiv. Zigaretten gab es auf der Zelle auch nicht mehr, und ohne die konnte er nicht sein. Also wieder heraus. Er bewarb sich um einen Schänzerposten. Vergebens waren die Vorstellungen des Pfarrers und anderer Beamten, daß nur die Einsamkeit Garantie böte für nachhaltige Besserung, er wollte hinaus und setzte nach einigem Kampfe seinen Willen durch. Der böse Geist fuhr wieder in ihn hinein und brachte noch sieben andere Geister mit, die schlimmer waren.