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3. Einzelhaft

»Denken Sie, Sie seien in den Kartäuser- oder Trappistenorden eingetreten«, hatte mir jemand nach meiner Verurteilung gesagt. »Sie haben im Zuchthaus ein besseres Leben als diese Mönche.« Rein äußerlich betrachtet mochte das seine Richtigkeit haben; aber da ist natürlich der ungeheure Unterschied zwischen freiwilliger und erzwungener Einsamkeit und der noch größere zwischen einer mit religiösen Motiven durchtränkten Einsamkeit und der jedes idealen Momentes baren Einsamkeit des in seiner Zelle eingeschlossenen Sträflings. Wohl versucht es hie und da einmal ein Gefangener, die seinem Wesen eigentlich fremde religiöse Stimmung künstlich zu erzeugen, um dadurch besser über die Strafzeit hinwegzukommen, aber ich habe keinen einzigen gekannt, dem das gelungen wäre. Ich habe auch keinen einzigen gekannt, dem die Gefangenschaft ein Segen gewesen wäre. Einige wenige, die sie ohne Schaden überstanden haben.

Die meisten fügen sich mit zusammengebissenen Zähnen in das schwere Joch, indem sie jede Gelegenheit ergreifen, es sich ein wenig zu erleichtern. Können sie irgend mit einem Leidensgefährten ein kurzes Gespräch anknüpfen oder eine Korrespondenz anfangen, so nehmen sie die Gefahr der Entdeckung und Bestrafung willig in den Kauf. Sie wissen hundert Vorwände zu ersinnen, um den Aufseher in der Zelle festzuhalten, ein paar Worte mit ihm zu tauschen. Der Oberbeamte, der sie besuchen kommt, hat Mühe, sich dem Schwall ihrer Fragen und Klagen zu entziehen. Sie haben das Bedürfnis zu reden, ganz gleich, ob sie etwas zu sagen haben oder nicht. Das wird mit der Zeit immer ärger, und schließlich heißt es: Der arme Kerl hat einen Klaps. Mancher simuliert den Klaps auch bloß, um aus der Zelle herauszukommen. Am meisten Angst vor der Einzelhaft hatte die im Hause am zahlreichsten vertretene Klasse der rückfälligen Eigentumsverbrecher. Aber sie waren als alte Stammgäste auch diejenigen, die es am besten verstanden, sich dem Übel zu entziehen. Mußten sie in der Zelle sitzen, so hatten sie unter den Schänzern Freunde genug, die ihnen durch Zustecken von Nahrungsmitteln, Briefen, Büchern und Zeitungen ihr Los erleichterten. Schänzer nannte man die auf den einzelnen Stockwerken mit den Reinigungsarbeiten betrauten Gefangenen, die gewöhnlich das Vertrauen ihrer Aufseher genossen und, wenn ein bißchen anstellig, imstande waren, sich ihren Leidensgefährten gegenüber eine einflußreiche Stellung zu schaffen; es kam vor, daß sie den Aufseher völlig beherrschten und auf ihrer Station schalteten und walteten, wie es ihnen paßte. Diese Vorzugsposten fielen in der Regel den Rückfälligen zu, aus dem einfachen Grunde, weil sie dazu die Tauglichsten waren. Ein Gefangener, der noch etwas auf sich hielt, meldete sich nicht zu einem solchen Posten.

Wie mancher hat mir, wenn er nach soundsoviel Jahren Einzelhaft aus der Zelle herauskam, sein Leid geklagt. Vor mir steht die Gestalt eines Mannes, der wohl von den Insassen des Zuchthauses der interessanteste war, wir wollen ihn Essig nennen, erstens weil er so nicht hieß, und zweitens weil dies sein Lieblingswort war, das er bei jeder Gelegenheit anwandte. Seine Identität soll verschleiert bleiben, denn er lebt noch, und ich möchte nicht, daß er beim Lesen dieses Buches mich der Indiskretion bezichtigt. Überhaupt sollen die Menschen, die hier auftreten, allesamt den Schutz des Inkognitos genießen, soweit dies möglich ist. Denn Namen tun wirklich nichts zur Sache.

Also mein Freund Essig. Er war in langer Einzelhaft zum Menschenhasser geworden. Anfangs begegnete er mir mit Mißtrauen, dann aber, als ich nach geduldigem Bemühen sein Vertrauen gewonnen hatte, sprach er sich aus mit rückhaltloser Offenheit, leuchtete in die Falten seiner Seele hinein mit einer Art Wollust, die auch ein Resultat der langen Einsamkeit sein mußte. Er fühlte sich zu Unrecht verurteilt. Die Tat, die man ihm zur Last gelegt hatte, war so infamierender Art, daß sie nach seinem Dafürhalten einem Manne von bis dahin völlig tadelfreiem Lebenswandel nicht so leicht hätte zugetraut werden dürfen. Indessen waren es nicht die Organe der Justiz, gegen die sich sein Groll richtete – diese hatten, das gab er zu, nach bestem Wissen und Gewissen, aber auf falsche Zeugenaussagen hin, geurteilt, sondern was ihn kränkte, war, daß auch fast alle seine Freunde und Verwandten, die einen gleich von vornherein, die anderen nach kürzerem oder längerem Zögern, ihn für schuldig gehalten hatten. In solcher Stimmung betrat er die Zelle, er, der Sanguiniker gewesen war, leichtlebig und ein wenig leichtsinnig. Das Alleinsein mit sich selber vertrug er nicht. Er kapselte sich immer mehr ein in seinen Groll und seine Menschenverachtung. Die manuelle Arbeit, die er verrichtete, mechanisch und ohne inneren Anteil, bot ihm keine Ablenkung; die ihm zugewiesenen Unterhaltungsbücher langweilten ihn. Er warf sich auf das Studium des Englischen und Französischen, fand auch wirklich darin einige Jahre lang eine gewisse Befriedigung, dann merkte er, wie seine geistigen Fähigkeiten nachzulassen begannen und warf die Flinte ins Korn. Er ging müßig. In die leere Stelle rückte die Pest der Strafanstalt, die Onanie. Sie vergiftete sein Leben völlig. Der Hausarzt riet ihm, aus der Zelle hinauszugehen. Zuerst sträubte er sich, es war das letzte Aufflackern seines besseren Ichs, dann wandte er achselzuckend der Zelle den Rücken und betrat mit bitterem Lächeln die Szene, auf der sich die Tragikomödie des Strafvollzugs abspielt. Was er da erlebte, war allerdings geeignet, ihm von den Menschen einen schlechten Begriff zu geben. Er, der den Glauben an sich selbst verloren hatte, wie sollte er Augen haben für das Gute, das auch im verkommensten Verbrecher noch steckt. Er sah die Menschen nur von der einen Seite, der Seite der Tierheit, und leugnete, daß es eine andere Seite gäbe. »Die Menschen sind Bestien«, begann er gewöhnlich sein Gespräch mit mir. »Auch Sie?« – »Auch ich.« – »Ich auch?« – »Sie auch.« – »Danke.« Dann schaute er mich grimmig an, und ich lachte. Da er ein guter Beobachter war und auch nicht ohne eigene Gedanken, so war die Unterhaltung mit ihm nicht ohne Reiz. Sooft ich ihn bei einigermaßen guter Laune fand, bat ich ihn, mir von seinem früheren Leben zu erzählen, dabei vergaß er dann bisweilen die traurige Gegenwart, und man konnte sich einen Begriff davon machen, welch ein fröhliches Menschenkind er einst gewesen sein mußte. Aber wehe, wenn ich mir eine Äußerung des Bedauerns entschlüpfen ließ über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. »Da gibt es nichts zu bedauern,« fuhr er mich an, »der Zuchthauszelle verdanke ich meine Menschwerdung.«

Ich erlaubte mir, das zu bezweifeln. »Was waren Sie denn früher?«

»Ein Esel. Ein Dummkopf, der an der wichtigsten Grundwahrheit des Lebens vorbeitanzte, bis ihn das Schicksal mit der Nase drauf stieß.«

»Ich vermute, mit dieser Wahrheit ist Ihre Lieblingssentenz gemeint, daß die Menschen Bestien sind.«

»Selbstverständlich. Wollen Sie mir vielleicht beweisen, daß dem nicht so ist?«

»Fällt mir nicht ein. Aber es würde mich interessieren, etwas Näheres über diesen Menschwerdungsprozeß zu hören. Zu der Einsicht, daß die Menschen Bestien sind, hätten Sie doch auch draußen kommen können. Was verdanken Sie da der Einzelhaft?«

»Ich verdanke ihr dieses, daß sie mir den Blick geschärft hat für meine eigene Bestialität. Wenn man mit sich selber allein ist, beobachtet man sich. Man hat ja sonst nichts zu tun. Man lernt, jede Regung der eigenen Seele zu belauern, und denkt abends im Bett nach über die gewonnenen Resultate. Na, und so dumm ist man doch nicht, daß man nicht allmählich dahinter käme, wie sehr man seine liebenswürdige Persönlichkeit überschätzt hat. Daß die anderen nicht viel taugen, das hat man ja schon lange geargwöhnt, aber zu seinen eigenen Gunsten blieb man doch stets bereit, eine Ausnahme zu machen, und dann sagte man sich: Je nun, da du doch selber ein so guter Kerl bist, wird es wohl auch noch mehr gute Kerle geben, du hast bloß das Pech, sie noch nicht getroffen zu haben; gedulde dich, vielleicht begegnest du ihnen noch. Das ist der Irrtum, mit dem die meisten Menschen herumlaufen.«

»Aber es gibt doch wirklich gute Menschen, das lehrt die Geschichte.«

»Essig. Bleiben Sie mir vom Leibe mit der Geschichte. Schwindel. Fable convenue

»War nicht Jesus von Nazareth ein guter Mensch? Franz von Assisi?«

»Weiß nicht. Habe nicht die Ehre ihrer Bekanntschaft. Weiß nur, was die Menschen von ihnen erzählen. Weiß, daß die Menschen Bestien sind; wird also, was sie erzählen, Lüge sein. Kenne den Wert menschlicher Zeugenaussagen. Huste drauf.«

»Gegen diese Logik ist nicht viel zu sagen. Aber wenn Sie von der Vergangenheit nichts wissen wollen, so schauen Sie doch in die Gegenwart. Wie können Sie überhaupt einen so allgemeinen Satz aufstellen, der doch voraussetzt, daß Sie alle Menschen geprüft haben. Sie kennen nur wenige Menschen. Also können Sie doch gar nichts aussagen über alle Menschen.«

Er stieß ein zorniges Lachen aus. »Essig. Mit solchen Spiegelfechtereien haben Sie bei mir kein Glück. Die Menschen, die ich bisher kennengelernt habe, waren Bestien. Darum sage ich: Alle Menschen sind Bestien. Wollen Sie das bestreiten, so bringen Sie mir einen Menschen herbei, der keine Bestie ist. Dann will ich meine Behauptung zurücknehmen. Aber Sie können keinen bringen, weil es keinen gibt.« – –

In einer der benachbarten Zellen lag längere Zeit ein Geistlicher, der wegen Sittlichkeitsverbrechens eine Strafe von, ich glaube, acht Jahren verbüßte. Er ging vor mir in den Hof und in die Kirche. Gesprochen habe ich nie mit ihm. Er war noch jung, als er eingeliefert wurde, vielleicht Anfang der Dreißig, aber zuletzt kam er daher wie ein müder Greis. Viel Energie mag er wohl nie besessen haben, in der Einzelhaft wurde sein Rückgrat molluskenhaft. Auch er versuchte es mit dem Sprachenstudium, aber natürlich blieb er mittendrin stecken. Bald war nur noch die leichteste Lektüre ihm mundgerecht, und davon konnte er nie genug bekommen. »Ob Sie keinen Roman für ihn haben, läßt der Nachbar fragen« – das war die Botschaft, mit der er immer wieder den Aufseher zu mir schickte. Hatte ich einen solchen aus der Anstaltsbibliothek, so übersandte ich ihn; in unglaublich kurzer Zeit hatte er das Zeug verschlungen und verlangte nach mehr. Schickte ich ihm eines von meinen eigenen Büchern, Shakespeare oder Byron, so kam der Band umgehend zurück mit dem Bemerken, dergleichen sei ihm zu schwer. Allmählich entwickelte er sich auch zum Querulanten. Mit seinem Konfrater, dem Anstaltsgeistlichen, zankte er sich über die von letzterem gehaltenen Predigten und beschuldigte ihn der Heterodoxie, wobei die beiden sich bisweilen derart in die Haare gerieten, daß ich jedes Wort verstehen konnte. Eines Morgens hörte ich sie wieder disputieren über die Persönlichkeit des Apostels Paulus, von dem mein Nachbar keine gute Meinung hatte, und der Streit endete damit, daß der Anstaltsgeistliche die Tür krachend ins Schloß warf und draußen etwas ausstieß, was einer Verwünschung sehr ähnlich war. Darauf setzte er seinen Rundgang fort und kam vor meine Zelle. Hier blieb er ein Weilchen stehen, seufzte vernehmlich und schloß dann bei mir auf. Sein Gesicht war noch zorngerötet, er wollte zuerst von etwas anderem reden, aber wessen das Herz voll ist, davon fließt der Mund über. Er mußte sich Luft machen. Mit dem Menschen sei tatsächlich nicht mehr auszukommen. Der sei im Begriffe, überzuschnappen. Ein widerwärtiger Mensch. Eine Schande für seinen ganzen Stand. Zum Glück gäbe es darin nur wenige von dieser Sorte. Ich entgegnete ihm darauf, daß ich meinen Nachbar nicht für ein solches Monstrum iniquitatis halten könne, er scheine mir so ungefähr dem Durchschnitt anzugehören, aber die Einzelhaft habe ihn zermürbt; aus der Zelle herauszugehen fürchte er sich, und wohl mit Recht, denn er würde unter den Gefangenen einen schweren Stand haben. Der Mann sei ein Opfer des heutigen Strafvollzugs. In der Tat, das war er. Nach seiner Entlassung mußte man ihn in eine Anstalt stecken, wo er den Rest seines Lebens dahinvegetierte.

Sehr schwer trugen an der Einzelhaft die Bauern aus dem Schwarzwald, die ziemlich zahlreich wegen Blutschande ins Haus kamen. Es waren meist ganz tüchtige Menschen, die in die Umgebung gar nicht hineinpaßten, auch sich gerne für sich hielten, weil sie das Gefühl hatten, etwas Besseres zu sein als die »Spitzbuben«. Mit einem von ihnen war ich ein paar Wochen zusammen im Krankenhaus, er war kindisch geworden in der Zelle, ein älterer Mann von einfachem, gutartigem Charakter. Nach der langen Einzelhaft hatte er das Bedürfnis, sich auszusprechen, hoffte, daß ich imstande sein würde, ihm einen guten Rat zu geben. So erzählte er mir denn auf seine unbeholfene, treuherzige Weise, wie er in das Unglück hineingeraten sei. Er war nur ein kleines Bäuerlein, hatte nicht viele Äcker, mußte sich plagen. Da starb ihm plötzlich seine Frau, und er blieb im Hause zurück mit einer erwachsenen Tochter, die etwas geistesschwach und jedem der Burschen des Dorfes, der sie begehrte, gern zu Willen war. Er suchte eine zweite Frau, aber, armer Teufel und schon bei Jahren, war er keine gute Partie. Da hatte er sich denn an einem heißen Sommertag, als sie beide, von der Arbeit ausruhend, im Heu lagen, an der Tochter vergangen, und, nachdem erst einmal der erste Schritt geschehen, setzte er den Verkehr so lange fort, bis das Mädchen Mutter wurde. Da gab es nun im Dorfe ein großes Geraune, wer der Vater des Kindes sein mochte. Polizeiliche Erhebungen wurden angestellt, einer bezichtigte den anderen, schließlich wurde der alte Mann verhaftet und gestand sogleich alles. Da er keine Reue zeigte, wurde er zu einer harten Strafe verurteilt. Reue aber konnte er deshalb nicht zeigen, weil ihm das Heucheln ebenso fremd war wie ein eigentliches Schuldgefühl. Gewiß, er gab zu, so etwas sollte nicht vorkommen, aber man war halt nun einmal nur ein schwacher Mensch, und die anderen taten dasselbe, bloß daß die nicht erwischt wurden. Und dem Mädel sei ja auch nicht groß Schaden geschehen, für das Kindchen werde er aufkommen und sich gern den Rest seines Lebens abrackern, damit er ihm ein bißle was hinterlassen könne. Ich fragte ihn, ob er denn sicher wisse, daß es sein Kind sei. O ja, versetzte er stolz, der Kleine sei ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Sei auf jeden Fall sein Enkelkind, für das er sorgen müsse. Darum wolle er so bald wie möglich aus dem Haus heraus. Ich setzte ihm ein Gnadengesuch auf, das schrieb er ab, nicht ohne Kopfschütteln über die traditionellen Phrasen, in denen seiner Reue über die schwere Tat Ausdruck gegeben war, und man erließ ihm einen Teil seiner Strafe. Er ging in sein Dorf zurück, aber es dauerte nicht lange, so saß er im Armenhaus. Er konnte nicht mehr arbeiten.

Überdenke ich nun die wenigen Fälle, die mir bekanntgeworden sind, in denen die Einzelhaft ohne sichtbaren Nachteil überstanden wurde, so handelte es sich dabei ausnahmslos um Naturen, die entweder eine ungewöhnliche Willenskraft besaßen oder für die Einsamkeit besonders disponiert waren. Als Beispiel für die erstere Kategorie ist mir ein junger Kaufmann in der Erinnerung, dem eine nicht viel weniger als zehn Jahre dauernde Einzelhaft so wenig anhaben konnte, daß er nach seiner Entlassung in kurzer Zeit zum vermögenden Manne wurde. Mit eisernem Fleiß erlernte er im Hause mehrere neuere Sprachen, und zwar, wie ich mich überzeugen konnte, in einer Vollkommenheit, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Er war von Hunderten, die ich kannte, der einzige, der ein solches Studium durchzuführen die Energie besaß. Aber eine noch größere Willensstärke zeigte er in einer anderen wichtigeren Angelegenheit. Gegen Ende seiner Strafzeit war er in das Laster des Onanierens verfallen. Lange widerstand seine robuste Konstitution den üblen Folgen, dann begann er zu kränkeln. Der Herr Medizinalrat warnte ihn. Er sah ein, daß er ein Ende machen müsse. Mehrere Versuche, die schlechte Gewohnheit mit einem Schlage abzuschütteln, mißlangen. Da schränkte er von Woche zu Woche, von Monat zu Monat die Zahl seiner Verfehlungen ein, bis es ihm gelungen war, sich ganz freizumachen.

Ein Beispiel der zweiten Kategorie, der zur Einsamkeit besonders Disponierten, bin ich selber. Ich war früher gern in Gesellschaft und war eigentlich noch nie mit mir allein gewesen; während der Untersuchungshaft weniger als je. Als sich nun in der Strafanstalt die Tür der Zelle hinter mir schloß, mußte ich mir die Frage vorlegen: Wie wirst du fertig werden mit der Einsamkeit? Ein Gefühl der Unsicherheit wird wohl vorhanden gewesen sein, obwohl ich genau weiß, daß ich keine Angst hatte; aber mindestens so groß wie die Unsicherheit war die Neugier. Zunächst dauerte es noch eine geraume Zeit, bis die Verbindung mit der Außenwelt ganz abgeschnitten war. Jahrelang erhielt ich noch recht häufig den Besuch meines Verteidigers, der ein Wiederaufnahmeverfahren vorbereitete; wie es schien, mit einiger Aussicht auf Erfolg. Auch andere Besucher kamen. Es war ein allmählicher Übergang, eine lange Dämmerung, ehe es Nacht wurde. Dann aber, als ich endlich ganz allein blieb, konnte ich die erfreuliche Wahrnehmung machen, daß ich mich in der Einsamkeit sehr wohl fühlte. Es gab gar keine Schwierigkeiten zu überwinden.

Den Eindruck, den das erste Buch auf mich machte, habe ich schon geschildert. Es war ein ganz mittelmäßiges Buch; was ich aber empfand, als ich später wirklich gute Bücher zu dauerndem Besitz erhielt, läßt sich nicht schildern. Viele Jahre lang hatte ich Goethes sämtliche Werke. Ich las, zum erstenmal, jede Zeile, die er geschrieben. Feiertage des Lebens waren die mit Wilhelm Meister und den Wahlverwandtschaften verbrachten Tage. Nächst Goethe schulde ich den größten Dank Shakespeare. Dann Spinoza. Das waren die drei Sterne erster Ordnung. Nach Spinoza griff ich nicht so häufig wie nach den anderen; die fast übermenschliche Kraft und Klarheit seines Denkens hatte etwas Bedrückendes.

Nach einigen Jahren beschloß ich, einen schon früher gehegten Plan auszuführen, Iherings »Geist des römischen Rechts« ins Englische zu übersetzen. Ich ließ durch den Direktor beim Ministerium anfragen, ob es mir gestattet würde, das Werk in Neuyork zu veröffentlichen. Die Antwort lautete bejahend. Fünf Jahre lang habe ich dann an der Übersetzung gearbeitet, und als sie fertig war und an den Verleger abgehen sollte, wurde mir eröffnet, daß die hochmögenden Herren sich die Sache inzwischen anders überlegt hätten und die Veröffentlichung nicht erlaubten. Warum nicht? Achselzucken; wahrscheinlich deswegen nicht, weil man es für inopportun halte, daß die Zeitungen wieder Stoff bekämen zu Artikeln über mich und meinen Fall. Nun, das konnte meine Genugtuung nicht beeinträchtigen über die vier stattlichen Manuskriptbände, die jetzt vor mir liegen und mich erinnern an die vielen, vielen Stunden einer emsigen Kleinarbeit, die ihren Lohn in sich selber trug: zufriedene Tage und mit erquickendem Schlaf gesegnete Nächte. Ich sehe mich an meinem Arbeitstisch sitzen, die Hände eifrig beschäftigt mit der Herstellung grüner Schachteln, in denen »Mainzer Tropfen« einem magenleidenden und vertrauensseligen Publikum übermittelt werden sollten; hinter der Pappschüssel ein Band »Geist des römischen Rechts«, in der halb geöffneten Schublade Papier und Bleistift. Irgendein Satzbandwurm, eine halbe Seite lang, wird zerlegt und die Teile in lesbare englische Sätze geformt unter möglichst sorgfältiger Wahrung der Eigenheiten des Herrn Professors, der eine der originellsten Persönlichkeiten ist, die je einen Katheder geziert. Plötzlich, mitten im Suchen nach einem Wort, von dem man fühlt, daß es das einzig passende an dieser Stelle ist – ein Dutzend Synonyme fallen einem ein, aber keines tut den Dienst, das eine brauchbare, notwendige, unersetzliche hält sich hartnäckig verborgen und will nicht über die Schwelle des Bewußtseins herüber – plötzlich rasselt ein Schlüssel im Schloß, ehe die Tür sich öffnet, wird die Schublade zugestoßen, der Gefangene sitzt an seinem Arbeitstisch und klebt Schachteln mit einer Hingebung, die den besten Eindruck erwecken muß. Ja, das waren unvergeßliche Stunden, die mir vielfältigen Gewinn gebracht haben, wenn auch das Produkt kaum mehr als ein paar hundert Dollar Marktwert besitzen wird, denn für die geistreichen Gedanken des Professors von Ihering über den »Geist des römischen Rechts« haben drüben wie hüben nur sehr wenige etwas übrig.

Alljährlich, zu Beginn des Sommers, pflegte ich mir aus der Bibliothek Fogazzaros Trilogie » Piccolo mondo antico«, » Piccolo mondo moderno« und » Il santo« zu erbitten. Ich machte sozusagen meine Italienreise. Es ist eine seltsame Innigkeit in diesen Büchern, die Erinnerungen weckt an Sonnentage, verbracht im schönen Südland. Da kam die Sehnsucht zu Wort, die das ganze Jahr unterdrückte Sehnsucht.

Es ist Abend. Der Aufseher reißt die Tür auf, das Arbeitsgerät wird hinausgestellt. Das Bett heruntergelassen, dann – gute Nacht. Eine Viertelstunde nachher wird ein halbes Liter Magermilch hereingereicht, kühl und säuerlich, ein köstliches Gericht mit eingebrocktem Schwarzbrot. Eine Zeitlang noch sitze ich auf dem Tisch und schaue den vorüberziehenden Wolken nach. Durch das geöffnete Fenster dringt Fliederduft herein und der schwermütige Abendgesang der Amsel und frohes Geschrei spielender Kinder. Die Dämmerung senkt sich herunter auf das Haus des Schweigens. Bald ist auch draußen jeder Laut verstummt. Die Nacht bricht an, eine sternenklare Juninacht. Man liegt und kann nicht schlafen. So allein ist man. So fremd und so fern erscheint einem die Welt, unwirklich, ein Traum und ein Wahn. Man gehört nicht mehr zu ihr. Was hat man zu schaffen mit den Wachen, die auf der Mauer gehen, oder mit den Leuten, die rechts und links und oben und unten schnarchen? Oder mit den biederen Bürgern, die in einem nahen Biergarten sitzen und sich von der Stadtkapelle etwas vorspielen lassen – eben trägt der Wind die Klänge des Torero-Liedes herüber, man ahnt sie mehr als man sie hört. »Sei wohl bedacht, daß süße Lieb' dir lacht.« Mir wird sie nie mehr lachen. Oder doch nur im Traum.

Vielleicht schenkt mir diese Nacht wieder einen solchen Traum. Alles Erotische hat sich in das Traumleben zurückgezogen, im Wachen darf es sich nicht hervorwagen, es ist oft schwer. Aber dafür entschädigen dann die Träume, Träume von einer Farbenpracht und einer Intensität, wie sie draußen nicht vorkommen.

*

»Was entbehren Sie eigentlich am meisten in Ihrer Einsamkeit?« so fragte mich eines Tages der Vorsitzende des Aufsichtsrats, ein alter Amtsrichter, der sich öfters bei mir einfand und gerne mit mir plauderte. Wir saßen einander gegenüber, er auf der Bank, ich auf dem Schemel, und er hatte mir gerade von dem neuen Zeppelinschiff erzählt, das alle Welt in Aufregung versetzte und seiner Meinung nach eine neue Epoche in der Weltgeschichte einleitete. Da ich seinem Enthusiasmus zum Trotz kühl blieb und nicht einsehen wollte, inwiefern den Menschen damit groß geholfen sei, daß sie jetzt auch durch die Luft reisen könnten, bemerkte er in bedauerndem Tone, es sei doch auffallend, wie rasch die Einsamkeit den Geist abstumpfe. Ich ließ das auf sich beruhen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs stellte er dann die oben erwähnte Frage. Ich sann und konnte nicht gleich eine Antwort finden. Hätte ich ihm gesagt: Ich entbehre gar nichts – das wäre ihm wie Rodomontade vorgekommen und mir auch. Aber was entbehrte ich denn am meisten? Mit einem freundlichen Lächeln suggerierte er: Genus femininum? Ich schüttelte den Kopf, gleichfalls lächelnd, worauf er bemerkte, er wolle nicht indiskret sein. Ich sagte, um doch etwas zu sagen, ich möchte wohl einmal wieder gute Musik hören. Er nickte verständnisvoll; dann schien ihm plötzlich ein Gedanke zu kommen, und er wollte wissen, ob nicht bisweilen aus dem meiner Zelle gegenüberliegenden Hause jenseits der Mauer Klavierspiel vernehmbar sei. Das bejahte ich und erging mich sogleich in einer bissigen Kritik der Klavierspielerin, die mit dem »Gebet einer Jungfrau« und dem »Erwachen eines Löwen« den Zuhörer zur Verzweiflung bringe, von Musik offenbar keine Ahnung habe, eine Strafverschärfung bedeute, wie sie selbst im Mittelalter nicht gebräuchlich gewesen sei. Während ich loszog mit großem Aufwand von Worten und Gesten, streifte mein Blick zufällig das Gesicht meines Gegenübers. Ich bemerkte, daß dieses Gesicht sich ganz bedeutend in die Länge gezogen hatte. Betroffen hielt ich inne. Es dämmerte mir, daß ich, wie der Amerikaner sagt, mit meinem Fuß in etwas hineingetappt war. Darauf sagte er mit einem Lächeln, das diesmal nicht ganz so freundlich war, die Klavierspielerin sei eine verheiratete Tochter von ihm, die in dem Hause wohne. Schweigen beiderseits. Er erhob sich und ging.


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