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9. Hungersnot

Im Frühjahr 1915 wurde die Brotration um zwei Drittel verkürzt. Fleisch sah man immer seltener. Das Gemüse enthielt fast kein Fett mehr. Die Suppen bestanden nur noch aus Wasser.

In wenigen Monaten hatte jeder die untere Gewichtsgrenze erreicht. Der Hunger ließ sich als ständiger Gast in den Zellen nieder und erfüllte sie ganz. Wie ein Alp lag er auf dem Gefangenen und quälte ihn Tag und Nacht. Man konnte an nichts anderes mehr denken als an den bohrenden Schmerz in den Eingeweiden, der wohl drei- oder viermal am Tage für kurze Zeit etwas gemildert wurde durch ein paar Löffel warmes Essen, dann aber gleich wieder mit verdoppelter Heftigkeit einsetzte, wie wenn er das Versäumte nachholen wollte. Am Abend mußte man dafür sorgen, daß man gleich nach der Suppe einschlief, solange man etwas im Magen hatte. Dann hielt der Schlaf einige Stunden an, bis er vom Hunger aus dem Felde geschlagen wurde. Nach Mitternacht lag man da von Schmerzen gekrümmt und zählte die Schläge der Uhr, den Morgen herbeisehnend und die Morgensuppe. Sonderbar, daß man sich an den Hunger nicht gewöhnen konnte. Es war jeden Tag wieder dieselbe Geschichte.

Wir wurden jetzt jeden Monat gewogen. Das Ergebnis durfte uns nicht mitgeteilt werden, ein Aufseher trug es abseits in einer Liste ein, die zur Verfügung des Hausarztes stand. Kam nun jemand zu diesem, um sich über Entkräftung zu beklagen, so blätterte der Herr Doktor in der Liste und sagte: »Ich weiß nicht, was Sie wollen, Sie haben in den letzten vier Wochen nur ein paar Kilo abgenommen, das ist sehr wenig im Vergleich mit anderen, ich kann Ihnen keine Zulage gewähren.« Daß jemand, der nur noch aus Haut und Knochen bestand, in vier Wochen nicht mehr als ein paar Kilo abnahm, war am Ende nicht verwunderlich. Kam aber einmal einer, der so viel abgenommen hatte, daß auch der Herr Doktor sich der Tatsache nicht verschließen konnte, so bekam er auf vier Wochen eine Zulage, bestehend etwa aus einem viertel Liter Milch pro Tag oder einem halben Liter Gemüse. Oder er wurde, wofern ihm das Glück besonders hold, mit einem winzigen Quantum Marmelade beschenkt, mit der dringenden Ermahnung, die Gottesgabe mäßig, sparsam und bescheiden zu genießen, damit sie möglichst lange dauere. Natürlich hatte die Ermahnung keinen Erfolg, sondern der Ausgehungerte schlang den Leckerbissen auf einen Satz hinunter, der Magen empörte sich über die unerhörte Zumutung, und am nächsten Morgen mußte der Krankenaufseher in Aktion treten mit der Opiumflasche. Ein Schänzer hatte sich in seinem Stockwerk drei Flaschen Marmelade zusammengefuckert, in der Absicht, sich an seinem Geburtstag wieder einmal völlig satt zu essen, dazu eine entsprechende Menge Brot. Die Orgie hätte ihn um ein Haar auf die Anatomie gebracht.

Die Unzufriedenheit wurde begreiflicherweise immer größer, Beschwerden waren an der Tagesordnung. Aber sie halfen nichts, der Beschwerdeführer wurde vom Direktor mit der klassischen Redensart abgespeist: Wir können nicht mehr Essen geben, weil wir nicht mehr haben; der Kommunalverband gibt uns nur so viel; übrigens geht es der freien Bevölkerung auch nicht besser; nur die Kriegsgewinnler und Schieber essen sich satt; was ein rechter Patriot ist, der hungert fürs Vaterland. Lief bei solcher Rede dem Gefangenen die Galle über, so wanderte er prompt in den Turm und empfand nach einigen Tagen Hungerkost die normale Verköstigung als Schlemmerei.

»Je mehr von der Bande krepieren, desto besser für den Staat«, sagte der Direktor in der Konferenz, als einige der Herren der Meinung waren, es könne doch nicht länger so weiter gehen.

Der katholische Pfarrer, nunmehr der einzige Konferenzbeamte, der noch regelmäßig Zellenbesuche machte, hatte keinen leichten Stand. Klagen und Bitten überschwemmten ihn, sobald er die Türe öffnete. Schließlich wurde es ihm zuviel, und er verbat sich von der Kanzel herunter die Belästigung mit scharfen Worten; er sei unser Seelsorger, aber nicht unser Mehlsorger. Das Bonmot machte viel böses Blut. Ja, hieß es, es ist eben niemand mehr da, der ein Herz für uns Gefangene hat; wenn der alte Herr Medizinalrat noch lebte, der ließe uns nicht so elend verhungern. Leider war der edle Mann ein Jahr vor Ausbruch des Krieges einem Schlaganfall erlegen, sein Nachfolger starb auch rasch weg, und dann wurde den ganzen Krieg hindurch der ärztliche Dienst von allerhand Vertretern besorgt, meist Militärärzten, die nicht viel Zeit für uns übrig hatten und möglichst ungeschoren zu bleiben wünschten. Keiner von ihnen wagte dem Haustyrannen gegenüber eine selbständige Regung.

Da wurde eines Tages aus dem Herrn Geheimrat wieder ein Herr Oberst. Schon vorher war aus der Schneiderei das Gerücht ausgegangen, es würden Uniformen angefertigt für ihn, aber man hatte der Nachricht keine Bedeutung beigelegt; nun wurde beim Rapport bekanntgegeben, daß Seine Majestät allergnädigst geruht habe, diesen verdienstvollen Offizier zu reaktivieren und zum Kommandanten eines Kriegsgefangenenlagers zu ernennen. Ein Aufatmen ging durchs Haus. Nun mußten bessere Zeiten anbrechen. Hoffentlich würde man ihn nicht wiedersehn, den Herrn Oberst. Am Ende kam er gar noch an die Front, und die Franzosen hatten ein Einsehen und schossen ihn tot.

Zu seinem Stellvertreter wurde der Direktor der anderen in der Stadt befindlichen Strafanstalt ernannt. Die in diesen gesetzten Hoffnungen erfüllten sich nicht. Das Essen wurde wohl eine Zeitlang ein wenig besser, aber dann sank es allmählich wieder auf den alten Stand herunter. Im Winter von 1916 auf 1917 wurde es schlechter als je zuvor.

Bald nach Eintritt der Kälte war ich nicht mehr imstande, die Zelle zu verlassen. Ging ich in den Hof, so wurde ich ohnmächtig und mußte zurückbefördert werden, so daß mir der Arzt zuletzt erlaubte, im Bett zu bleiben. Der Winter war sehr streng und dauerte bis Ende April. Als zu Anfang Mai die ersten warmen Tage kamen, raffte ich mich auf von meinem Lager, schleppte mich in den Hof und lag eine halbe Stunde in der Sonne, was den ermatteten Körper wunderbar belebte.

Im Hochsommer wurde mir freigestellt, wieder am Matratzenmachen teilzunehmen, aber ich hielt mich für zu schwach dazu. Man sagte mir: Gehen Sie nur hinaus und arbeiten Sie soviel Sie können, der Aufenthalt im Freien wird Ihnen guttun. So ging ich denn. Gott, war das eine jämmerliche Gesellschaft, die sich da zusammenfand, alle zu Skeletten abgemagert, mancher Todeskandidat darunter, dem das Wasser schon fast bis zum Herzen stand. Und wie hungrig waren wir. Noch sehe ich die hohläugigen Gestalten vor mir, wie sie, dem Umfallen nahe, am Holzbock lehnten und langsam, langsam die Säge hin und her zogen; aus dem Munde hingen Grashalme heraus. So sehr der Aufseher anfangs wetterte gegen das verdammte Grasfressen, der Hunger war stärker, und am Ende mußte er es geschehen lassen. So war es denn auch stillschweigend erlaubt, daß man von dem Gras mit auf die Zelle nahm und dem Gemüse beimischte. Ein einziges Mal habe ich das auch versucht und eine Handvoll Gras in den wässrigen Kartoffelsalat getan, aber es war nur ein Tropfen auf einen heißen Stein und der Widerwille zu groß. Als die alten Matratzen herausgebracht wurden zum Auffüllen, mußte man sich darüber wundern, wie leer sie waren: das fehlende Seegras hatte seinen Weg in die Eßschüsseln gefunden.

Was war das für ein Bild, wenn wir nachmittags vor dem Schuppen saßen, unfähig zur Weiterarbeit, und uns den Leib hielten vor Schmerzen. Alle paar Tage wurde ein schwarz angestrichener länglicher Holzkasten vorbeigefahren, der von der Anatomie zurückkam. Zwei solcher Holzkästen befanden sich in der Totenkammer, mit Sägemehl gefüllt. Ohne jede Bekleidung wurden die Leichen hineingelegt, denn der Staat hatte für solche Luxusgegenstände wie Totenhemden kein Geld übrig. Die Fracht wird ihn nicht viel gekostet haben; der Inhalt der Kästen wog leicht. Einmal ging auch die Nachricht durchs Haus, es habe sich einer aus Verzweiflung über die Hungerqualen aufgehängt. Aber man konnte das nicht recht glauben; man wußte ja aus eigener Erfahrung, daß zu einer solchen Tat die Kräfte gar nicht mehr ausreichten; wozu auch sich anstrengen, der Tod kam ja von selber. Für viele kam er als Erlöser. Nur eines einzigen entsinne ich mich, der bei uns im Hofe arbeitete, eines großen Menschen mit weibischem Gesicht, dem sein vom Wasser aufgeschwollener Leib das Aussehen eines Eunuchen gab, der wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Sensenmann, der schon seine Hand nach ihm ausgestreckt hatte. Unausgesetzt lag uns im Ohr sein Jammern, wie er nur noch etwas mehr als ein Jahr abzusitzen habe, wie er sich draußen satt essen wolle, wie schön das Leben sei ohne Hunger, und wie hart das Sterben im Zuchthaus so nahe vor der Entlassung. Jeden fragte er des Tages ein Dutzendmal, ob man wohl glaube, daß er durchhalten werde. Natürlich sagte man ja, und dann war er einige Minuten still, die schlaffen Züge belebten sich ein wenig, und in das fast schon erloschene Auge, das sehnsüchtig über die Mauer blickte nach dem grünen Hügel hinüber, kam ein schwacher Glanz. Unermüdlich ging er zum Arzt, um sich ein wenig Milch oder Marmelade zu verschaffen, bettelte auch bei seinen Mitgefangenen um Speisereste. Speisereste, wer hatte sie? Es waren immer welche da, die an Verdauungsstörungen litten und wenig oder gar nichts essen konnten. Diese brachten ihm, was sie übrig hatten, und er schlang alles hinunter mit einer unbeschreiblichen Gier, im Gesicht einen Ausdruck, als ob er zu dem vor ihm stehenden Tod sagen wollte: Warte, ich entgehe dir doch. Der Tod war stärker. Nach einem die ganze Nacht andauernden Ringen behielt er die Oberhand.

Auch den alten Mann, der schon über vierzig Jahre im Hause war, holte der Tod. Das wurde allgemein bedauert, denn man hatte mit ihm gehofft, das fünfzigjährige Jubiläum zu erleben. Was durch Alter oder Krankheit an Widerstandskraft eingebüßt hatte, starb hinweg.

Bis Anfang Oktober gelang es mir, mich auf den Beinen zu halten, dann mußte ich wieder ins Bett. Der Gedanke kam mir, daß es Zeit sei, mein Testament zu machen. Als ich hierzu den ersten Schritt tat, erschien der Arzt bei mir, pries meine ausgezeichnete Gesundheit und machte mir den Vorschlag, er wolle meine Überführung ins Krankenhaus anordnen. Wozu das dienen solle, fragte ich, ich könne ebensogut in der Zelle verhungern. Im Krankenhaus hätte ich bessere Pflege. Danke, Pflege brauchte ich keine, ich brauchte Nahrung. Ja, es tue ihm leid, mehr Nahrung könne er mir zurzeit nicht geben, da nichts da sei, aber ich solle nur mal ins Krankenhaus gehen, das Weitere werde sich schon finden. In Gottes Namen denn.

Mein neuer Aufenthaltsort war ein im Verhältnis zur Zelle recht geräumiges Zimmer, in dem drei Betten standen. Zwei davon blieben unbelegt. In dem dritten lag ich und fror, trotzdem vier schwere Wolldecken auf mich drückten. Denn der schöne blaue Kachelofen, der da in der Ecke stand, war reines Ornament, geheizt werden konnte er nicht, da keine Kohlen da waren. Die Tür des Zimmers blieb einen großen Teil des Tages offen, so daß der Schänzer zu mir hereinkommen und mit mir plaudern konnte. Es war ein dürrer Fünfziger, von grober, aber tüchtiger Art. Er hatte seine Frau erschossen, nachdem er sie beim Ehebruch ertappt. Da er zwischen der Entdeckung und dem Schuß ein paar Stunden verstreichen ließ, in denen er wie ein Wahnsinniger durch die Straßen lief – also nach der Meinung des Gerichts Zeit gehabt hätte, von seinem verbrecherischen Vorhaben abzukommen –, hatten sie ihm mildernde Umstände versagt und ihn zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Der größere Teil seiner Strafe lag hinter ihm. Geschickter Handwerker und fleißiger Arbeiter, der er war, hatte er sich im Hause gut durchzuhelfen gewußt und es bis zum Vertrauensposten des Krankenhausschänzers gebracht. Es war ein Posten, der starke Nerven erforderte. Vielen hatte er im Laufe dieses Sommers die Augen zugedrückt, dann die Leichen gewaschen und in den Sägemehlkasten gelegt. Manches hatte er auch geerbt, unter anderem einen Leitfaden der kaufmännischen Buchführung und einige Hefte. Der Leitfaden brachte ihn auf einen genialen Gedanken. Wie wäre es, wenn er die Buchführung erlernte? Dann konnte er, falls es ihm gelang, wieder ein kleines Geschäft aufzumachen, die Bücher selber führen, ein großer Vorteil. Mit Feuereifer ging er an die Sache heran; aber sie hatte einen Haken. Es klappte nicht mehr mit dem Rechnen; auch kamen da so viele Fremdwörter vor, deren Bedeutung er nicht zu enträtseln vermochte. Überhaupt fiel ihm das Studieren schwer; sein Kopf mochte nie sonderlich dazu getaugt haben, jetzt aber war er vollends zu alt geworden. Er klagte mir sein Leid. Ob ich ihm nicht helfen könne? Nun gelüstete mich's zwar durchaus nicht nach pädagogischen Lorbeeren, und meine Lebensgeister waren für eine angestrengte Lehrtätigkeit wirklich zu schwach, aber ich mochte ihm, da ich seine Strebsamkeit und Energie bewunderte, die Bitte nicht abschlagen. So fingen wir denn mit dem Einmaleins an. Mühsam war die Arbeit, langsam das Vorwärtskommen. Unsagbar schwer fiel es, ihm etwas beizubringen; aber was er einmal kapiert hatte, das saß. Rührend war seine Dankbarkeit, die sich vorderhand ja nur in Worten äußern konnte.

Das wurde anders, als im November die Kartoffelrübensuppe auf dem Speisezettel erschien. Kartoffelrübensuppe, Hilfe in der höchsten Not, nie in meinem Leben ist mir eine Speise so willkommen gewesen wie du. Du hast mich vor dem Hungertode errettet. Unvergeßlich sind mir deine schöne gelbe Farbe, dein nahrhafter Geruch, deine sättigungsverheißende Konsistenz – der hineingesteckte Löffel blieb stehen! – nur ein Dichter könnte deinem Wert und deinen Reizen Genüge tun. Verzeih die prosaische Beschreibung, die ich von dir gebe. Also woraus bestand sie, diese herrliche Kartoffelrübensuppe? Nun, aus Kartoffeln und gelben Rüben, woraus denn sonst. Dazu Wasser und ein wenig Fett. Später kam sogar Milch hinein, da wurde sie Nektar und Ambrosia zugleich.

Morgens brachte mir der Schänzer in Begleitung des Krankenaufsehers eine Schüssel voll von dieser Götterspeise ans Bett, und kaum hatte ich die Schüssel ausgelöffelt, so brachte er eine zweite Schüssel voll, Diesmal ohne Begleitung des Aufsehers, und wenn ich diese zweite Schüssel ausgelöffelt hatte, brachte er bisweilen noch eine dritte Schüssel voll, abermals ohne Begleitung des Aufsehers; dann konnte ich nicht mehr und lag erschöpft, wie eine Anakonda, die einen Walfisch verschlungen hat.

Neugierig fragte ich den Schänzer, wie dieser Überfluß nach so langer Knappheit zu erklären sei. Ja, das wisse er auch nicht, sie gäben ihm halt jetzt in der Küche immer ein paar Liter zu viel. Und der Aufseher? Der wisse natürlich, daß er mir heimlich von der Suppe hereintrage, habe jedoch nichts dagegen einzuwenden; er für seine Person glaube, daß die Sache von oben begünstigt werde. So schlug ich mir denn alle Bedenken aus dem Sinn und ließ mich füttern. In ganz kurzer Zeit hatte ich zwanzig Pfund zugenommen.

Jetzt wurde endlich auch geheizt. Da aber äußerste Sparsamkeit vonnöten, wurde mir eröffnet, so könne nicht für mich allein der Kachelofen in Tätigkeit gesetzt werden, ich müsse mich dazu verstehen, in ein größeres Zimmer verlegt zu werden, in dem bereits ein halbes Dutzend Kranke lagen. Das war mir sehr unlieb, besonders wegen der heimlichen Suppenzufuhr. Indessen erklärte der Schänzer, er werde schon einen Ausweg finden, und so zog ich denn über den Gang in den großen Saal. An den Wänden entlang standen sieben bis acht Betten, in der Mitte ein riesiger Kachelofen, einige Tische und Stühle. Durch vier große Fenster strömte reichlich Licht herein. Warm wurde es, solange geheizt wurde, nur in der unmittelbaren Nachbarschaft des Ofens, und so standen denn alle, die das Bett verlassen konnten, tagsüber auf und setzten sich um den Wärmespender herum oder lehnten sich mit dem Rücken daran. Wer zuerst da war, machte sich's in einem alten Lehnstuhl bequem, der sehr geschätzt wurde und dessen Benutzung häufig den Gegenstand heftiger Wortkämpfe bildete. Denn es konnte keine Einigung darüber erzielt werden, wie lange der jeweilige Okkupant einen Anspruch auf ihn habe; ob sein Anspruch erlosch, wenn er aufstand, und vor allem, ob er das Recht habe, denselben an einen anderen zu übertragen. Es war da nämlich ein alter Säufer, der vor Rheumatismus nicht mehr gehen konnte, aber jeden Morgen in aller Frühe auf den Lehnstuhl kroch, sich dann häuslich einrichtete, alsdann wartete, bis die anderen ihre Morgensuppe gegessen hatten und sich am Ofen niederließen, worauf er erklärte, seinen Sitz an den Meistbietenden versteigern zu wollen. Geboten wurde nicht in Lebensmitteln oder Tabak, sondern in Salz. Für den Alten war die Entziehung des Alkohols eine furchtbare Qual; so hatte er einen Ersatz ausfindig gemacht, und der bestand in Salzwasser. Je mehr Salz er in seinen Wasserkrug hineintun konnte, desto glücklicher war er. Natürlich reichte die ihm zugemessene Portion nicht lange, und dann war er darauf angewiesen, sich das hochgeschätzte Genußmittel von anderen zu erkaufen. Aber womit bezahlen? Von seinem bißchen Essen war nichts entbehrlich, so war er auf den Gedanken verfallen, mit Hilfe des Lehnstuhls sein Ziel zu erreichen. Das ließen seine Mitgefangenen eine Weile gut sein, aber schließlich wurde es ihnen zu bunt, und sie machten nicht mehr mit. Als er kein Gebot mehr erhalten konnte, kroch der Alte mit jammervollem Gesicht in sein Bett zurück und hub an, sich dermaßen zu winden und zu stöhnen, daß einer hinging und den Krankenaufseher holte. Der glaubte, als er das entsetzliche Getue sah, für den Alten habe das letzte Stündlein geschlagen, und gab ihm eine Morphiumeinspritzung. Die Gefangenen umstanden das Schmerzenslager und sahen sich die Komödie an mit geheucheltem Mitleid, das sich jedoch bald in echtes Mitleid verwandelte, da es eine Zeitlang den Anschein hatte, wie wenn es mit dem Manne wirklich zu Ende ginge. Wahrscheinlich hatte der Aufseher, der nur eine Hilfskraft war und von Krankenpflege wenig verstand, die Dosis zu stark genommen. Aber jemand, der fünfzig Jahre lang mit Holzhauen seinen Schnaps verdient hat, ist nicht so leicht umzubringen; der Alte überlebte die Operation und hat noch manchen Liter Alkoholersatz gesoffen, da ihm von jetzt ab so viel Salz, wie er wollte, gratis geliefert wurde.

Neben dem Salzliebhaber lag ein großer starker Mann, der schwarze Albert genannt, mit einer schweren Unterleibsentzündung. Kopfschüttelnd stand der Arzt oft vor seinem Bett, kein Mittel wollte etwas helfen, er konnte nicht begreifen, warum es mit seinem Patienten nicht besser wurde. Das hing aber so zusammen. Diejenigen Kranken, die aufstehen konnten, durften sich tagsüber mit Tütenkleben beschäftigen. Als Klebstoff wurde ein Kleister verwendet, der ursprünglich aus irgendeiner Art Mehl hergestellt war; nachdem aber die Verwaltung herausgefunden hatte, daß dieser Kleister von den hungrigen Gefangenen in großen Mengen verzehrt wurde, ließ sie Petroleum beimischen, um ihn ungenießbar zu machen. Es gelang denn auch auf diese Weise, das Zeug den Gefangenen zu verekeln, bloß dem schwarzen Albert nicht. Der fuhr ruhig fort, seine Gemüseportion mit Kleister zu strecken und schalt die Kameraden Schlappschwänze, daß sie sich durch ein bißchen Petroleum abschrecken ließen. Diese sahen ihm staunend und bewundernd zu, wenn er die widerliche Mischung sich einverleibte mit einer Miene, als genösse er die feinsten Leckerbissen. Bis endlich einer, der ihm wohl seinen Ruhm neidete, den Verräter machte. Wütend kam der Arzt eines Morgens hereingestürmt und fiel über den Missetäter her: »Sie unverschämter Schweinigel, jetzt weiß ich, warum alle Medikamente bei Ihnen nichts helfen, Sie Omnivore, Sie Pappfresser! Da verschreibe ich Ihnen fortwährend die teuersten Mixturen, und Sie gehen hin und verschlingen dieses Zeug, das kein Straußenmagen vertragen könnte. Mich wundert's bloß, daß Sie nicht schon längst krepiert sind. Wenn Sie nicht so krank wären, würde ich Sie vierzehn Tage ins Loch stecken lassen.« Der schwarze Albert gab kaltblütig zurück: »Herr Doktor, in der Not frißt der Teufel Fliegen.« Der Arzt fuhr in gemäßigterem Tone fort: »Jawohl, Fliegen würden Sie auch noch fressen, wenn Sie welche kriegen könnten. Sie wollen sich hier wohl trainieren, um später im Zirkus als Glas- und Nägelschlucker aufzutreten? Ich werde dafür sorgen, daß der Unfug aufhört.«

Der Dezember brachte die Nachricht vom Waffenstillstand an der Ostfront mit Hoffnungen auf einen baldigen Frieden. Unser Haustyrann, der inzwischen aus dem Oberst sich wieder in den Geheimrat verwandelt hatte, da ihn ein Herzleiden zum Austritt aus dem Heeresdienst zwang, hielt eine patriotische Ansprache. Der Krieg sei jetzt halb gewonnen. Nun gelte es, noch einmal im Westen alle Kräfte zusammenzufassen, um auch dort den Gegner niederzuringen. Dazu brauche das Vaterland den letzten Mann. Es sei nicht ausgeschlossen, daß auch an uns noch der Ruf ergehe, durch einen Heldentod auf dem Schlachtfeld das Unrecht zu sühnen, das wir dem Staat und der Gesellschaft zugefügt hätten. Das sei zwar eine unverdiente Ehre, aber er hoffe, daß wir uns gegebenenfalls derselben würdig zeigen würden. Die Rede verursachte eine ziemliche Aufregung. Einige begrüßten die ihnen eröffnete Aussicht auf den Heldentod mit Freuden, denn es sei besser, im Schützengraben von einer Granate zerrissen zu werden, als im Zuchthaus langsam Hungers zu sterben, und außerdem sei es ja auch möglich, daß man mit dem Leben davonkomme; die meisten aber erklärten voll Verbitterung, sie wollten lieber den ärgsten Hunger ertragen als sich totschießen lassen für diesen Staat, den sie aus tiefster Seele haßten. Nach einiger Zeit kam der Oberaufseher mit einer Liste, in der jeder eingetragen wurde unter Angabe aller körperlichen und geistigen Qualifikationen für den Heeresdienst; sogar nach Sprachkenntnissen wurde gefragt. Es sollen in der Folge auch wirklich etliche Gefangene entlassen und in das Heer eingereiht worden sein, die sich sogar sehr gut bewährten, so daß bei längerer Dauer des Krieges wohl noch viele aus dem Hause herausgekommen wären.

Im Februar wurde ein Schwerkranker in den Saal gebracht, der offensichtlich nicht mehr lange zu leben hatte. Es war ein Mann in den besten Jahren, Fabrikarbeiter. Um sein Bett herum wurde eine spanische Wand aufgeschlagen. Seine Frau, von dem bevorstehenden Tode benachrichtigt, stattete ihm den letzten Besuch ab. Das junge Weib gebärdete sich wie wahnsinnig vor Schmerz, er blieb apathisch. Sie hatte ihm als letztes Liebeszeichen ein Glas Honig mitgebracht, und sein ganzes Sinnen und Trachten kreiste jetzt um die Frage, ob es ihm wohl erlaubt würde, den Honig zu essen. Der Arzt versprach es ihm, allein der Direktor schlug die Bitte ab. Die letzten Worte des Sterbenden waren ein Fluch gegen den Hartherzigen.

Der furchtbare Todeskampf des Mannes setzte mir so zu, daß ich aus dem Krankenhaus heraus wollte. Meinem Antrag wurde sofort entsprochen. Der Direktor schlug mir vor, ich solle das Buchbinden erlernen, was mir aus verschiedenen Gründen sehr zusagte. Bald war meine Zelle voll von Zeitschriften, Broschüren und Büchern, die ich auseinandernehmen und für den Binder herzurichten hatte. Über Mangel an Lesestoff war nicht mehr zu klagen. Wäre der Hunger nicht gewesen, ich hätte mich ganz wohl gefühlt.

Am letzten Tage des Mai erschien der Direktor, wie gewöhnlich, kurz vor dem Abschluß, um sich nach meinen Fortschritten in dem neu gewählten Handwerk zu erkundigen. Er war barsch und tadelsüchtig, wie gewöhnlich. Trotzdem sein Leiden sichtlich Fortschritte machte, ließ seine Energie nicht nach; wie er andere nicht schonte, so war er auch gegen sich selber hart und tat seinen Dienst bis zur letzten Stunde.

Früh am nächsten Morgen kam einer von den Aufsehern, die mir erwiesener Gefälligkeiten halber verpflichtet waren, in meine Zelle und rief freudestrahlend: »Wissen Sie's schon, er ist verreckt, der Hund. Gestern abend um neun Uhr.« – »Wer?« – »Nun, wer denn sonst als der Alte, der Menschenschinder, endlich hat ihn der Teufel geholt, jetzt brät er in der Hölle, wo sie am tiefsten ist.« Die Nachricht erschütterte mich; ich sagte, man solle von den Toten nur Gutes reden, und seine guten Seiten habe der Mann auch gehabt. Aber damit fand ich keinen Anklang. Eine Flut von Schimpfwörtern ergoß sich über den Verhaßten; das ganze Haus, Beamte, Aufseher, Gefangene, hätten zu leiden gehabt unter der Tyrannei dieses Gewaltmenschen; keinen habe er in Ruhe gelassen; Unzählige habe er auf dem Gewissen; ein Bluthund sei er gewesen, ein Seelenmörder; wenn es noch keine Hölle gäbe, so müßte eine geschaffen werden für diesen Teufel. Welch eine Unmenge von Haß hatte der Mann gesät! Wenn so die Aufseher sich über ihn äußerten, was mochten dann wohl die Gefangenen zu sagen haben?

Was sie zu sagen hatten, konnte man am Abend dieses Tages hören. Als die Suppe verzehrt und alles im Hause ruhig geworden war, brach plötzlich ein wildes Triumphgeschrei los. Ein Tohuwabobu von Jauchzen und Fluchen hallte durch das Haus, schaudererregend, unbeschreiblich. Minutenlang dauerte der Aufruhr, ungestört durch die Wachen. Das war der Nekrolog, den die Gefangenen ihrem Kerkermeister hielten.


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