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10. Revolution

Mit dem Fortschreiten des Herbstes erschien unser Pfarrer immer häufiger in meiner Zelle. Er hatte inzwischen sein Benehmen gegen mich vollständig geändert, brachte mir Sympathie entgegen, suchte offenbar eine Aussprache über meinen Prozeß. Zu dieser Aussprache kam es dann endlich eines Nachmittags, und am Ende derselben reichte er mir die Hand mit dem Ausdruck des Bedauerns darüber, daß er mir früher Unrecht getan. Er halte mich jetzt nicht mehr für schuldig.

Danach hörte man auf einmal von einer neugebildeten Regierung des Deutschen Reiches auf parlamentarischer Grundlage, von dem Notenwechsel zwischen dieser Regierung und Wilson – der Zusammenbruch warf seine Schatten voraus. Eine Unruhe bemächtigte sich aller Menschen. Hieß es heute, wir sollten uns darauf einrichten, daß in der nächsten Zeit alles, was eine Waffe tragen könne, an die Front müsse, so konnte man am nächsten Tage hören, die deutschen Heere seien geschlagen und ein Waffenstillstand so gut wie sicher, da es gar keinen Sinn mehr habe, weiterzukämpfen. Einige Aufseher ergingen sich in wilden Brandreden. Einer von den ältesten, der dicht vor der Pensionierung stand, benutzte jede Gelegenheit, mir gegenüber seinem Groll Luft zu machen: »Wissen Se, wer an dem Krieg schuld is? Die studierte Leit. Wisse Se, wer den Krieg verlore hat? Die studierte Leit. Un wisse Se, wem's alleweil an den Krage geht? Dene studierte Leit.« Dabei schaute er mich so grimmig an, wie wenn er mich persönlich haftbar machen wollte für die Sünden dieser Verhaßten. Ich lachte ihn aus und sagte ihm, ohne die »studierte Leit« könne in der Welt überhaupt nichts gemacht werden, nicht einmal eine Revolution. Ja, ja, stimmte er bei, Revolution; die müsse gemacht werden, aber anfangen müsse die Revolution damit, daß alle studierte Leit einen Kopf kürzer gemacht würden – ausgenommen vielleicht, fügte er milder hinzu, solche, die es mit dem armen Mann hielten. Solche habe man nötig.

So kam der 9. November. Die Nachricht von dem Sturze des Kaisers und der Landesfürsten verbreitete sich rasch durch das Haus. Mein alter Gönner berichtete in freudiger Erregung, daß jetzt die Roten das Heft in der Hand hätten, jetzt werde reiner Tisch gemacht. Wie schade, daß der Saukerl von Geheimrat nicht mehr am Leben sei, den hätte man zuerst aufgehängt.

Mit Ungeduld warteten viele Gefangene darauf, daß die Spartakisten das Haus stürmten und ihre unterdrückten Brüder befreiten. Das geschah nun nicht, sondern es wurde nur von dem in der Stadt gebildeten Soldatenrat die Freilassung der Militärsträflinge gefordert und durchgesetzt.

Man munkelte von einer großen Amnestie. Alles war wie im Rausch. Aufseher und Gefangene fraternisierten miteinander. Die Disziplin ging in die Brüche. Hätte die Direktion versucht, in diesen Tagen die Zügel straffer zu ziehen, es wäre zu bösen Auftritten gekommen. Aber der neue Direktor war ein kluger Mann und verstand zu lavieren. Ein Bundesgenosse kam ihm zu Hilfe, die Grippe.

Unter denen, die von der Seuche niedergeworfen wurden, war auch ich. Am dritten Abend stieg das Fieber auf 41 Grad. Als ich mich am ersten Tage krank meldete, sagte mir der Arzt, daß ihn die Grippe auch gepackt habe, aber er könne sich nicht in Pflege begeben, sondern müsse von morgens bis abends auf den Beinen sein, um seine zahlreichen Patienten zu besuchen. Zwei Tage darauf war er tot. Von den Gefangenen starben nur wenige, trotzdem wir durch das jahrelange Hungern sehr geschwächt waren. Ich selber war dem Tode nahe. Nachdem mich am Abend des dritten Tages der Krankenaufseher verlassen hatte, verlor ich die Besinnung. Gegen Mitternacht kam ich wieder zu mir. Das Herz begann zu versagen. Immer matter wurden seine Schläge, es war ein langsames und gar nicht schmerzhaftes Hinübergleiten. Wozu Widerstand leisten?

Oder doch? Hatte ich all die Jahre durchgehalten, um kurz vor der Freilassung wegzusterben? Ich hatte doch noch allerlei zu besorgen auf der Welt. Es lohnte sich immerhin, etwas zu tun zur Erhaltung des Lebens. Was ich brauchte, war ein Herzstärkungsmittel. Aber wie es bekommen? Ich versuchte, mich im Bett aufzurichten und die Schelle zu ziehen. Es war sehr schwer. Stunden vergingen, so schien es mir, bis mein Finger den Ring erreichte. Noch eine letzte Kraftanstrengung, dann erklang die Schelle. Wieder schienen Stunden zu vergehen, bis der Krankenaufseher erschien. Es war einer von den Ablösern, ein biederer Schreinermeister, der mir auf meine Bitte hin Digitalis holte und mir vertrauensvoll das weitere überließ. Eine kräftige Dosis half mir über die kritische Nacht hinweg.

Aber es dauerte noch manche Woche, bis ich das Bett verlassen konnte. Der Direktor besuchte mich und brachte tröstliche Nachricht. Mein Verteidiger, einer der Führer der sozialdemokratischen Partei im Lande, sei eifrig bemüht, meine Freilassung zu erwirken. Auch seien von verschiedenen Seiten Sympathiekundgebungen für mich eingetroffen, darunter einige Pakete mit Lebensmitteln, die er mir leider nicht aushändigen dürfe. Die Hausordnung erlaube es nicht. Es sei beim besten Willen nicht möglich. Er bedauere das um so mehr, als ich bei meinem gegenwärtigen Zustand einer Zulage ja dringend bedürftig sei. Jedenfalls wolle er alles tun, um mir dieselbe im Rahmen des Erlaubten zu verschaffen. – Wirklich erhielt ich die Krankenkost und etwas Milch.

Als die Bestimmungen des Amnestie-Gesetzes bekannt wurden, war die Enttäuschung groß. Auf freien Fuß sollten nur diejenigen gesetzt werden, die noch ein Jahr oder weniger von ihrer Strafe zu verbüßen hatten, die übrigen gingen leer aus. Das empfand man als unbillig.

Kurz vor Weihnachten stattete mir mein Verteidiger einen Besuch ab. Wie viel verdankte ich diesem Manne! Ungezählte Male schon war er seit meiner Einlieferung ins Zuchthaus gekommen, hatte meinen Mut und mein Vertrauen gestärkt, mir durch Zuwendung von Büchern die Haft erleichtert. Ein Wiederaufnahmegesuch, das er einige Jahre nach meiner Verurteilung eingereicht hatte, war abschlägig beschieden worden; dennoch ließ er die Hoffnung nicht sinken; besprach immer wieder mit mir die Wege, auf denen man das Ziel doch noch erreichen könne. Jetzt kam er voll Zuversicht, daß es ihm gelingen würde, zunächst eine Begnadigung durchzusetzen. Danach werde es leichter sein, die Rehabilitation zu betreiben. Ein neuer Geist herrsche jetzt im Deutschen Reich. Es müsse vieles anders werden.

Wenn ich auch diesen Zukunftshoffnungen gegenüber eine gewisse Skepsis nicht loswerden konnte, so glaubte ich doch gern, daß die Aussichten für mich günstiger geworden seien. Ich rechnete mit einem Erfolg des Gnadengesuchs.

Im Januar suchte mich ein Verwandter heim, dem seine Frau ein Paket nahrhafter Sachen mitgegeben hatte, obschon sie wußte, daß nicht viel Wahrscheinlichkeit bestehe, dasselbe durchzubringen. Mein Vetter machte dem Herrn Direktor seine Aufwartung, und es gelang seiner Überredungskunst, das Unmögliche möglich zu machen. Das Paket wurde mir ausgeliefert. Sein Inhalt setzte mich in Erstaunen. So viele gute Dinge gab es noch in dem ausgepowerten Deutschland, echte Viktualien, nicht bloß Ersatz! Wunderbar! Wunderbar war auch die Wirkung dieser Viktualien auf meinen ausgemergelten Körper: er blühte förmlich auf.

So sehr man bestrebt gewesen war, die Einfuhr der Konterbande geheimzuhalten, es sickerte etwas durch, und der Direktor sah sich genötigt, was er dem einen Gefangenen nicht abgeschlagen hatte, auch den anderen zu erlauben. Bald fielen die Pakete ins Haus so reichlich wie das Manna in der Wüste. Mir selber gingen so viele zu, daß ich im Laufe des Sommers mein Normalgewicht wieder erreichte. Da hörte plötzlich der Segen auf. Irgend jemand hatte dem Ministerium berichtet, daß bei uns die Hausordnung in diesem so wichtigen Punkte durchbrochen worden sei – wodurch offenbar nicht bloß der Strafvollzug periklitierte, sondern überhaupt die staatliche Ordnung in Frage gestellt wurde –, und das Ministerium beeilte sich, dem Unfug zu steuern und dem allzu humanen Direktor eine Nase zu erteilen. Es wurde von der Kanzel herunter verkündigt, daß in Zukunft keine Pakete mehr zugelassen würden.

Inzwischen hatte die provisorische Regierung meinem Verteidiger mitgeteilt, daß die Erledigung des Gesuches der definitiven Regierung vorbehalten bleiben müsse. Diese wurde im April gebildet, nachdem die neue Verfassung unter Dach und Fach gebracht war. Jetzt kam die Sache in Gang. Die Konferenz wurde aufgefordert, zu dem Gesuch Stellung zu nehmen. Sie beschloß, es einstimmig zu befürworten. Danach hatten Gericht und Staatsanwalt sich zu äußern, deren Votum, wie zu erwarten, ungünstig ausfiel. Die Entscheidung lag beim Ministerium.

Ohne mein Zutun erbot sich der Herr Pfarrer, beim Minister eine Audienz nachzusuchen, um sich persönlich für mich zu verwenden. Der Minister empfing ihn und hörte ihn aufmerksam an. Er habe sein Amt vor fünf Jahren angetreten, sagte der Pfarrer, in entschiedener Voreingenommenheit gegen mich, habe mir aus seiner Gesinnung kein Hehl gemacht und versucht, mich zum Geständnis zu bringen; bei näherer Bekanntschaft seien ihm dann bezüglich meiner Schuld Zweifel gekommen; endlich habe er die Überzeugung gewonnen, daß ich unschuldig sei; er halte es deshalb für seine Pflicht, alles zu tun, was in seiner Macht stehe, um mir zur Freiheit zu verhelfen. In diesem Sinne möge der Minister seinen Schritt aufnehmen. Was der Minister darauf erwiderte, war folgendes: Als junger Anwalt sei er bei der Hauptverhandlung zugegen gewesen und habe dabei den Eindruck erhalten, daß zwar formell manches auszusetzen gewesen sei, indem der Vorsitzende sich als sehr nervös und parteiisch erwiesen habe und der Staatsanwalt als ein Esel, doch sei er nach wie vor überzeugt, daß mir materiell kein Unrecht geschehen sei. Übrigens stehe ja zurzeit die Frage meiner Schuld oder Nichtschuld keineswegs zur Erörterung, da es sich nicht um ein Wiederaufnahmegesuch, sondern um ein Gnadengesuch handele. Dieses werde er prüfen und nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden.

Über diese Unterredung gab mir der Pfarrer Bericht gleich am folgenden Tage, als ihm die Einzelheiten noch frisch im Gedächtnis waren. Natürlich interessierte mich sehr, was der Minister über den Vorsitzenden des Schwurgerichts und den Staatsanwalt gesagt hatte; die Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Unrecht kam mir zu subtil vor. Wenn in einem solchen Prozeß, wo von schlüssigen Beweisen keine Rede ist, dem Angeklagten formell Unrecht geschieht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß dabei auch ein materielles Unrecht herauskommt.

Den Sommer über wurde viel geredet über die Reformen des Strafvollzugs, die im Gefolge der Revolution zu erwarten seien. Es hieß, die neue Volksregierung werde unverzüglich darangehen, die Mißbräuche abzuschaffen und das Dasein des Gefangenen menschenwürdiger zu gestalten. Von den Konferenzbeamten arbeiteten einige Denkschriften aus, von denen sie einzelne Punkte mit Vertrauensmännern besprachen. Auch mir tat man die Ehre an, meine Meinung einzuholen über diese und jene geplante Maßnahme. Schärfere Unterschiede sollten künftighin gemacht werden zwischen dem erstmalig Bestraften und dem Gewohnheitsverbrecher, dem vermutlich noch zu Bessernden und dem vermutlich Unverbesserlichen. Zu diesem Behufe wollte man Klassen einführen und von Stufe zu Stufe die Vergünstigungen steigern, bis auf der letzten Stufe vor der Entlassung eine Art allmählichen Übergangs stattfand zur Freiheit. Es war nicht zu verkennen, in den Entwürfen steckte ein Geist der Humanität, sie bedeuteten einen Fortschritt. Aber mir kam es so vor, als berührten all die vielen Äußerlichkeiten, die man mit Fleiß und Scharfsinn ausgeklügelt, den Kern der Sache nicht; ich hielt radikalere Maßnahmen für notwendig. Die Aufforderung, solche namhaft zu machen, lehnte ich ab. Auch davon wollte ich nichts wissen, meine Gedanken über den Strafvollzug in zusammenhängender Darstellung zu Papier zu bringen. Solange ich mich in der Strafanstalt befände, wollte ich mich der Kritik enthalten, da mir solches einerseits unpassend erscheine und da andrerseits die unbedingt notwendige Distanz fehle.

Nachdem die Berge den Sommer über gekreißt hatten, gebaren sie im Herbst ein Mäuslein. Der erste Schritt auf dem Wege der Reform wurde in der Kirche feierlich angekündigt: die Scheuklappen vor dem Gesicht sollten wegfallen. Es wurde ins Belieben des einzelnen gestellt, ob er die Gesichtsmaske tragen wollte oder nicht. Nur wenige behielten sie bei, da sie unerkannt zu bleiben wünschten, und diese wenigen mußten bald dem Druck der öffentlichen Meinung oder dem Zureden der Beamten nachgeben, so daß nach einiger Zeit dem Ministerium berichtet werden konnte, die Gesichtsmaske sei abgeschafft zur großen Zufriedenheit aller Gefangenen, die die Maßregel sehr begrüßt hätten als Zeichen einer neuen Zeit und eines neuen Geistes.

Mit der Zufriedenheit der Gefangenen war es nun nicht so weit her. Man hatte mehr erwartet. Vor allem hatte man erwartet, daß das Hungern endlich ein Ende nehmen sollte, und davon war nichts zu merken; das Essen blieb unzulänglich. Solange Krieg war, hatte man sich darein gefügt, jeder hatte das Gefühl, Unabwendbarem gegenüberzustehen. Das änderte sich jetzt, eine revolutionäre Stimmung breitete sich immer mehr aus. Es waren Zugänge ins Haus gekommen, die im Frühjahr die Erstürmung und Plünderung der großen Strafanstalt in einer benachbarten Großstadt mitgemacht hatten; nun wurde behauptet, etwas Ähnliches sei in Vorbereitung für das Zuchthaus; die Spartakisten brauchten Rekruten, und wo konnten sie bessere finden als bei uns! Hetzschriften waren in heimlicher Zirkulation, begünstigt von Aufsehern, die den Tag der Erstürmung herbeisehnten. Zwar wurden von der Direktion Vorsichtsmaßregeln getroffen, Waffen bereitgehalten, Maschinengewehre aufgestellt; aber es war ein offenes Geheimnis, daß es mit dem Widerstand nicht viel auf sich haben würde. Die meisten der aus dem Kriege Zurückgekehrten hatten keine Lust, auf Landsleute zu schießen. Unter denen, die zu mir in die Zelle kamen, um sich auszusprechen, war einer, der eine kurze Erwähnung verdient. Ein höchst widerwärtiger Mensch, brutal, gemein, Spitzbube, voll Heimtücke, unglaublich frech. Bis zur Revolution war er extremer Sozialdemokrat gewesen, was ihn zu wiederholten Malen beinahe die Uniform gekostet hätte, da der Geheimrat für dergleichen Verirrungen nicht viel Nachsicht zeigte. Jetzt, nachdem seine Partei die Macht an sich gerissen, ging der Mann umher, aufgebläht wie ein Ochsenfrosch, frecher als je. Und sonderbar, so radikal, um nicht zu sagen anarchistisch, er sich früher gebärdet hatte, jetzt trug er staatserhaltende Gesinnung zur Schau. Sie sollten nur kommen, die Lumpen von Spartakisten, er werde ihnen schon heimleuchten. Mit einem einzigen Maschinengewehr jage er die ganze Bande auseinander. Ich gab ihm gern Gelegenheit, seine politische Weisheit auszukramen, studierte ihn mit Interesse, wie man ein giftiges Reptil studiert. Da erzählte er mir einmal, er sei im Ministerium gewesen, um sich nach 'ner Stelle umzusehn auf einem Bureau, da er im Gefängnisdienst nicht bleiben wolle. Seinem Bericht nach waren die verschiedenen Ministerialräte, die er aufgesucht hatte, hochentzückt, ihm einen Gefallen erweisen zu können. Als einen der einflußreichsten unter ihnen erwähnte er meinen alten Freund aus dem Untersuchungsgefängnis, den Verwandten unseres Pfarrers. Der habe ihn gefragt, warum ihm seine Stelle nicht mehr zusage. »Herr Ministerialrat,« habe er geantwortet, »ich bin im Kriege am rechten Arm verwundet worden, und die Sache ist schlecht geheilt, so daß ich den Arm nicht mehr recht gebrauchen kann. Sie wissen aber doch, daß man als Aufseher oft in die Lage kommt, widerspenstigen Züchtlingen gegenüber einige Gewalt anwenden zu müssen, und dazu braucht man gesunde Glieder.« Worauf der Herr Ministerialrat beifällig gelächelt und ihm die Versicherung gegeben habe, er werde, so sehr er das Ausscheiden einer so tüchtigen Kraft aus dem Gefängnisdienst bedaure, die Versetzung auf einen minder anstrengenden Posten warm befürworten.

Es wurde aber trotz des warmen Fürwortes aus der Versetzung nichts. Bei Vorgesetzten und Kollegen im höchsten Grade mißliebig, von den Gefangenen gehaßt und verachtet, wurde er nach einigen Jahren aus dem Dienst entlassen.

Als die Kälte einsetzte, war wieder Mangel an Kohlen. Es erwies sich als unmöglich, die Zellen alle zu heizen, man mußte die Leute während des Tages in Sälen unterbringen. Das war nicht ungefährlich bei dem aufrührerischen Geiste, der im Hause herrschte, und ging wirklich nicht ohne einige kleine Meutereien ab, die aber mit Leichtigkeit unterdrückt wurden. Mir selber ließ man die Wahl, ob ich in einen der Säle oder ins Krankenhaus gehen wolle. Ich zog das Krankenhaus vor.

In dem kleinen Gemach, in das ich übersiedelte, fand ich einen lungenkranken jungen Kaufmann vor von gutartigem Wesen und als seinen Pfleger einen Lebenslänglichen, der etwas an religiöser Manie litt, sonst aber keinen schlechten Eindruck machte. Der junge Mann war aus guter Familie, eines der moralischen Wracks des Krieges. Nachdem er in Rußland, Serbien und Frankreich allerlei Nichtsnutzigkeiten verübt, war er schließlich desertiert und hatte sich mit Hilfe gefälschter Papiere monatelang umhergetrieben und ein Verbrecherleben geführt, bis er durch Verrat der Polizei in die Hände fiel. Im Zuchthaus war er an Lungenentzündung erkrankt, knapp am Tode vorbeigestreift und befand sich jetzt auf dem Wege der Besserung. Auch in moralischer Hinsicht. Die schwere Krankheit hatte ihn ernster gemacht und gute Vorsätze geweckt. Direktor, Arzt und Pfarrer versprachen ihm, sich dafür zu verwenden, daß er zur völligen Ausheilung nach Hause beurlaubt würde. Er hatte eine Braut, die zu ihm hielt und ihm eine starke Stütze war.

Wir drei hielten gute Kameradschaft. Am Abend, wenn die Dämmerung hereingebrochen war – Licht gab es keins –, saßen wir am Ofen, und der junge Mann erzählte von seinen Kriegserlebnissen. Was hatte dieser Zwanzigjährige nicht alles durchgemacht! Bisher kannte ich den Krieg nur von der Seite, wie er sich in den Büchern spiegelte, jetzt sah ich sein wahres Gesicht. Wie konnten die Richter diesen im Felde Verwilderten aburteilen nach dem Buchstaben eines Gesetzes, das nur für normale Zeiten zugeschnitten war? Der Staat hatte ihn aus dem wohlumhegten Bezirk seiner Familie herausgerissen und in den Strudel eines langen, verrohenden Krieges geworfen, dem sein noch ungeformter Charakter nicht gewachsen war; und dann hatte derselbe Staat den Gestrauchelten gepackt und ins Zuchthaus gesteckt, wo die größtmögliche Gewähr dafür bestand, daß ihm nach Ablauf der zehn Strafjahre auch nicht der kleinste Rest von Anstand und Ehrgefühl übrigblieb. War das Gerechtigkeit?

Mein Gesuch hatte inzwischen alle Instanzen durchlaufen, die Entscheidung stand bevor. Soviel man hörte, waren die Ansichten der Mitglieder des Staatsministeriums geteilt, es hing alles ab von der Stellungnahme des Justizministers. Da kam eines Abends, als wir schon zu Bett gegangen waren, der Pfarrer in großer Eile zu uns herein: Der Besuch des hohen Herrn stehe unmittelbar bevor. Schnell zogen wir uns wieder an und warteten in der Dunkelheit. Stunde um Stunde verstrich, endlich wurden im Gang Schritte und Stimmen hörbar. Vor der Tür eine kurze Stille, dann wurde geöffnet, der Aufseher brachte eine Laterne und stellte sie auf den Tisch. Herein traten hintereinander drei Fremde, dazu der Direktor und der Pfarrer. Einer der Fremden, ein hochgewachsener Herr mit schwarzem Vollbart, ging zu dem Bett des Lungenkranken und fing an, sich recht leutselig mit ihm zu unterhalten, der zweite, von untersetzter Gestalt, hielt sich außerhalb des Lichtkreises und betrachtete aufmerksam das Zimmer und seine Bewohner; der dritte – o Wunder, ist das nicht mein alter Freund aus dem Untersuchungsgefängnis, der nunmehrige Ministerialgewaltige? Jawohl, er ist's, der jetzt auf mich zuschreitet, sich knapp verbeugt und mich anredet: »Guten Abend, wie geht es Ihnen?« Beim Anblick dieses Mannes, des einzigen, gegen den ich all die Jahre her so etwas wie Haß empfunden wegen der schnöden Behandlung, die er mir hatte zuteil werden lassen, lief mir die Galle über. Mit Anstrengung brachte ich eine ebenso knappe Verbeugung zuwege und ein »Danke, gut«; dann muß er mir wohl an den Augen abgesehen haben, daß eine erfreuliche Unterhaltung mit mir nicht zu führen sei, und er wandte sich mit einer Frage an den Direktor, der sich beeilte, wortreiche Auskunft zu geben. So stand ich allein am Fußende meines Bettes, mit impassibler Miene, aber innerlich kochend. Der zweite Fremde sprach kein Wort. Nach einigen Minuten entfernten sich alle wieder. Man konnte noch hören, wie sie draußen im Gang mit halblauter Stimme sich besprachen, dann verklangen ihre Schritte die Treppe hinunter.

Das Licht hatten sie mitgenommen, wir blieben zurück im Dunkeln. Im Dunkeln auch darüber, welcher von den dreien der Minister gewesen war. Da ich aber bemerkt hatte, daß beim Hinausgehen mein Ministerialrat nicht dem Großen, sondern dem Kleinen den Vortritt gelassen hatte mit einer Geste, wie sie wohl nur einem Minister gegenüber am Platz war, schien mir diese Frage gelöst. Der junge Kaufmann war entzückt über die Liebenswürdigkeit des Herrn, der mit ihm gesprochen hatte, und bedauerte lebhaft, daß dieser nicht der »Bebberschte« war. Der hätte seine Entlassung ganz gewiß genehmigt. Ich tröstete ihn. Wenn auch nicht der allerhöchste, so sei es doch sicher ein hoher Herr gewesen, wahrscheinlich auch ein Ministerialrat und wahrscheinlich derjenige, der in Gnadensachen das entscheidende Wort zu sprechen habe.

Wie ich später erfuhr, hatte der Minister draußen den Direktor gefragt, ob ich nicht ein wenig Psychopath sei, die großen Augen in dem bleichen Gesicht seien ihm aufgefallen. Der Direktor sowohl wie der Pfarrer verneinten das entschieden, ich sei durchaus gesund, körperlich wie geistig. »Nun, dann wird er wohl die paar Jährchen noch aushalten«, bemerkte darauf der Minister.

Die paar Jährchen, was sollte das heißen? Im Ministerium war bezüglich meines Gesuches die Entscheidung gefallen. Es wurde eine neue Regel aufgestellt, die in Zukunft angewendet werden sollte, sooft die Entlassung eines Lebenslänglichen in Frage kam. Die Begnadigung sollte stattfinden nicht mehr nach 25, sondern nach 20 Jahren. Und die 5 Kriegsjahre sollten wie 7½ Jahre gerechnet werden mit Rücksicht auf die außerordentlichen Leiden und Entbehrungen, die diese Jahre mit sich gebracht. Voraussetzung war dabei natürlich, daß der Gefangene sich in der Anstalt gut geführt hatte und eine gewisse Gewähr dafür bestand, daß er draußen sein Fortkommen finden würde. Da diese Voraussetzungen bei mir zutrafen, wurde als Termin meiner Entlassung der 15. April 1925 festgesetzt; das war in etwa 5½ Jahren.

Als mir der Direktor diese Entscheidung mitteilte, verbarg ich meine Enttäuschung nicht. Fünfeinhalb Jahre seien eine lange Zeit; sie als ein paar Jährchen zu bezeichnen, komme mir wie Hohn vor. Im Ministerium rechne man wohl damit, daß inzwischen die trockene Guillotine doch noch ihr Werk tue. Der Direktor suchte der Sache die gute Seite abzugewinnen. Er bedauere sehr, daß seine Bemühungen, meine sofortige Entlassung durchzusetzen, keinen Erfolg gehabt hätten. Aber immerhin, etwas sei doch erreicht. Die Begnadigung sei ausgesprochen. Länger als bis zum 15. April 1925 könne die Haft nun sicher nicht mehr dauern. Vielleicht gelinge es auch, sie noch weiter abzukürzen.

Nun, er hatte so unrecht nicht. Etwas war erreicht. Der Strafe, von der vorher kein Ende abzusehen gewesen, war jetzt ein Ende gesetzt. Und alles, was ein Ende hat, ist doch nur kurz.

So ging ich am ersten Weihnachtstag zur Kirche hinauf in einer weniger düsteren Stimmung als je zuvor. Oh, diese Weihnachtstage im Zuchthaus! Keine Worte geben einen Begriff davon, was das bedeutet. Rechts und links vom Altare stehen zwei Christbäume mit brennenden Kerzen. Es ist wirklich Weihnachten, auch im Zuchthaus. Aber in den Herzen der Unglücklichen, die da mit heißen Augen aus den Holzkäfigen in den Lichterglanz hinaufschauen, ist nicht Weihnachten.

Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen und sann nach darüber, wie oft ich diesen Tag noch zu überstehen hatte. Noch sechsmal. Und wie oft hatte ich ihn schon überstanden? Dreizehnmal. Welch eine Unsumme von Leid! Warum trägt man das, warum hält man fest am Leben? In diese Gedanken hinein klangen die ersten Orgeltöne. Mächtiger, feierlicher als sonst. Das Vorspiel ist zu Ende, eine kurze Pause und dann – was jetzt kommt, ist nicht der gewohnte rauhe Männergesang, der unbeholfen mit der Melodie herauspoltert. Zarte, wohlgeschulte Frauenstimmen heben ganz leise ein Kyrie an, so hell und rein, so freudig und zuversichtlich, noch nie hat dieser Raum solche Töne gehört. Ein Kirchenchor der Stadt als Gast im Zuchthaus. Das ist auch eine Errungenschaft der Revolution, eindrucksvoller als die Abschaffung der Gesichtsmaske. Zum erstenmal, seit ich im Hause bin, kommen mir die Tränen.


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