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Der junge Mensch, der mir gleich zu Anfang so freundlich begegnet war und mich aufgeklärt hatte über manches, was zu wissen notwendig oder nützlich, war mein Zellenaufseher. Mit ihm kam ich täglich in Berührung und lernte ihn bald genauer kennen. Ich bemerkte einen gewissen Gegensatz zwischen ihm und seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Herrn Werkmeister, einem kleinen Kaffeesachsen von aalglattem und – wie seine Kollegen sagten – stinkfreundlichem Wesen, dem gegenüber das größte Mißtrauen am Platz war. Der Ältere drückte den Jüngeren, wo er konnte und ließ ihn nicht neben sich aufkommen; er wollte für unersetzlich gelten. Überhaupt hielten die jüngeren Aufseher zusammen gegen die älteren, denen sie vorwarfen, daß sie das Meiste und Schwerste vom Dienst ihnen aufhalsten, während sie ihrerseits am Ende des Jahres sich fette Prämien auszahlen ließen für die aus den Gefangenen herausgepreßte Arbeit. Die Arbeitskraft der Gefangenen war nämlich nicht an Unternehmer verpachtet, sondern wurde vom Staate in eigener Regie ausgenützt. An der Spitze des Gewerbe- und Wirtschaftsbetriebs stand ein Verwalter, der Herr Rechnungsrat, von dem mir alsbald mitgeteilt wurde, daß er der mächtigste Mann im Hause sei, da der Direktor wegen Krankheit einen längeren Urlaub angetreten und zu seinem Stellvertreter einen Assessor habe, der nur die zweite Flöte spiele.
Gleich nach der Morgensuppe erschien der Herr Werkmeister, um mir meine Arbeit zuzuweisen. Dieselbe bestand darin, daß ich kleine Pappschachteln mit bunten Streifen beklebte. Das war rasch gelehrt und gelernt. Der Meister gab sich überaus liebenswürdig, machte sogar das eine oder andere Witzchen, hielt aber im ganzen doch Distanz. Er sah einem nie so recht in die Augen. Die ersten drei Monate, sagte er, würde ich als Lehrling geführt ohne Bezahlung und ohne zu einer bestimmten Arbeitsleistung verpflichtet zu sein. Danach hätte ich das vorgeschriebene Arbeitspensum zu leisten und dürfe hoffen, am Tage fünf Pfennig zu verdienen, mit der Zeit sogar noch mehr, bis zum Höchstbetrage von zehn Pfennig. Ja, für etwa über das Pensum hinaus geleistete Mehrarbeit könnten noch zehn weitere Pfennige gutgeschrieben werden, was indessen selten vorkomme. Immerhin gebe das im Jahre ein nettes Sümmchen, da von Ausgaben ja nicht die Rede sei.
»Wieso?« fragte ich, »kann man sich denn für das verdiente Geld nichts kaufen?«
»Nein, in der ersten Zeit nicht; später, nach zehnjähriger Haft, kann die Direktion dem Gefangenen gestatten, daß er sich gewisse Lebensmittel kaufe.«
»So, so, nach zehn Jahren; nun, das ist ja ein großer Trost. Hoffentlich erleben wir's.«
»Haha,« lachte der Herr Werkmeister, »warum denn nicht? Sie sind ja noch jung, wir haben hier einen Lebenslänglichen, der schon bald vierzig Jahre bei uns ist, der Mann hat das schönste Leben, will gar nicht mehr hinaus.«
Bald saß ich an meinem Tisch, vor mir eine große Zinkplatte, Kleistertopf mit Pinsel zur Rechten, die Papierstreifen zur Linken, gegenüber ein Stoß kleiner Schachteln, und arbeitete. Zuerst legte ich einige Streifen auf die Platte, bestrich nacheinander zwei oder drei mit Kleister und legte sie zurecht. Dann ergriff ich eine der Schachteln und klebte den Streifen an der vorgeschriebenen Stelle auf. Fertig. Die Schachtel wird beiseite gesetzt, es kommt eine neue dran. Mißlungene Fabrikate wandern in den Papierkorb.
Der junge Aufseher kam herein. »Jetzt müssen Sie sich bereit machen für den Hof. Gleich schellt es, dann schließe ich auf, Sie hängen Ihre Zellennummer an und setzen die Kappe auf. Nach dem Heraustreten folgen Sie Ihrem Vordermann in fünf bis sieben Schritt Abstand, bis Sie in den Hof kommen.« Ich tat, wie geheißen; es ging eine Treppe hinunter, über einen Weg hinüber, auf ein Gebäude zu, das ungefähr aussah wie eine Kombination von zwanzig Bärenzwingern: in der Mitte ein Rundturm, von dem aus man durch zwanzig Türen in ebensoviele Einzelkäfige trat, Dreiecke mit kurzer Grundlinie und langen Schenkeln, die Grundlinie ein übermannshohes Gitter aus dicken Eisenstäben, die Schenkel zwei bis drei Meter hohe Mauern, an der Spitze des Dreiecks der Eingang. In jeden dieser Zwinger wurde ein Gefangener eingeschlossen, der Aufseher begab sich oben in den Turm hinein, wo er aus zwanzig kleinen Fenstern alle Käfige überschaute, und der Spaziergang konnte beginnen. Das Ganze kam einem halb komisch, halb grauenhaft vor. Wenn man in seinem Dreieck an den Mauern und dem Gitter entlang rundherum marschierte, so kamen dabei ein paar Dutzend Schritte heraus. Die Kopfbedeckung, die aus blauem Tuch bestand mit einer Scheuklappe vor dem Gesicht – Zweck: damit die Gefangenen einander nicht zu erkennen vermochten – durfte man in dem Zwinger abnehmen. Die Gesichtsmaske gab dem Aussehen der Leute etwas Groteskes, die Anzüge aus verwaschenem und verflicktem Drell schlotterten ihnen entweder um die Glieder oder saßen so prall auf dem Körper, daß die Nähte zu platzen drohten; auf elegantes Äußere wurde offenbar nicht viel Wert gelegt. Viel konnte man also von seinen Mitgefangenen nicht sehen, aber schon der Gang ließ bei den meisten einen Schluß zu auf Alter und Art. Mein Vordermann und Zellennachbar z. B. hatte einen ausgesprochenen Seemannsgang und trug seine Strafe anscheinend mit großer Unbekümmertheit; schon am ersten Tage versuchte er mit mir in Verbindung zu treten.
Der Spaziergang dauerte eine halbe Stunde, dann ging der Zug wieder zurück auf die Zelle. Abermals erschien der Aufseher zur Instruktion »Jetzt werden Sie dem Hausarzt vorgeführt. Nummer anlegen und Kappe aufsetzen wie zuvor; überhaupt müssen Sie das jedesmal tun, sooft Sie die Zelle verlassen. Draußen im Gang stellen Sie sich an der Ihnen angegebenen Stelle hin, Gesicht zur Wand gekehrt, und rücken nach rechts auf, halten aber immer einige Schritte Abstand von Ihrem Nebenmann. Wenn Sie an der Reihe sind, treten Sie ein und nehmen die Kappe ab. Sind Sie fertig, so setzen Sie die Kappe wieder auf und stellen sich draußen an die Wand, bis ich Sie abhole.«
Der Arzt stand an einem Pult und hatte einen mit weißer Jacke bekleideten Krankenwärter neben sich. Dieser nannte ihm, als ich eintrat, meinen Namen. Darauf legte der Herr Medizinalrat das Buch, in dem er geblättert hatte, hin und musterte mich mit großer Aufmerksamkeit. Es war ein hochgewachsener, breitschulteriger Mann mit offenem Gesicht und einem Paar merkwürdiger Augen, sehr blau, sehr durchdringend, sehr sprechend. Auf den ersten Blick fühlte man Zutrauen zu ihm. Er sprach mit halblauter Stimme, sparsam in den Worten, milde im Ausdruck. Welche Krankheiten ich gehabt hätte. Ob ich durch die lange Untersuchungshaft an der Gesundheit sehr gelitten. Wie es mit den Nerven stünde. Appetit, Schlaf? Und dergleichen Fragen mehr. Dann folgte eine sorgfältige Untersuchung. Zuletzt sagte er mit einem Lächeln, das seine Züge wunderbar verschönte, er glaube, daß die Ruhe und Regelmäßigkeit des Lebens in der Anstalt meinen in der letzten Zeit sehr überanstrengten Nerven guttun werde. »Sie haben, wie der Engländer sich ausdrückt, die Kerze an beiden Enden angebrannt. Vielleicht war es ein Glück für Sie, daß die rauhe Hand des Schicksals Sie aus dem Strudel der großen Welt in dieses stille Haus versetzt hat. Wenn Sie in Ihrem Inneren den Frieden haben, wird Ihnen die Einsamkeit nicht unerträglich vorkommen. Oder fürchten Sie die Einsamkeit?«
»Nein, im Gegenteil.«
»Das ist gut. Ich denke, Sie werden sich mit der Zeit ganz wohl darin fühlen. Anfangs ist es ja schwer. Erst nach drei Jahren haben Sie den durch das Gesetz festgelegten Anspruch auf Gemeinschaftshaft. Nur wenn Ihr Gesundheitszustand es dringend erfordert, kann ich Sie schon vorher mit anderen Gefangenen zusammentun. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein. Die besseren Elemente unter den Gefangenen ziehen es überhaupt vor, auf der Zelle zu bleiben; aus welchen Gründen können Sie sich denken. Wenn Sie Schwierigkeiten haben mit der Gefängniskost, so kommen Sie zu mir, ich will sehen, was ich für Sie tun kann. Und nun wünsche ich Ihnen Mut und Ausdauer, damit Sie die schwere Strafe überstehen.« Dabei ruhten seine Augen auf mir mit einem Ausdruck, der sehr wohltuend war. Gern hätte ich ihm die Hand geschüttelt. Aber daran war ja jetzt nicht mehr zu denken. Dankend verbeugte ich mich und ging hinaus.
Was ist es doch etwas Wunderbares um einen guten Menschen, dachte ich, als ich wieder in meiner Zelle war. Im Laufe der Jahre hat sich dieser erste Eindruck nur verstärkt. Was das heißt, ein Menschenleben lang in einem Zuchthaus Arzt zu sein und allen Enttäuschungen zum Trotz ein Menschenfreund von unerschöpflicher Hilfsbereitschaft zu bleiben, das lernte ich erst später begreifen. Wie ist dieser einzige eine Macht zum Guten gewesen in einer Welt des Bösen und Gemeinen. Der Hausarzt ist für die große Mehrzahl der Gefangenen ein Vermittler von kleinen Genüssen und Vergünstigungen, den zu beschwindeln für eine Art Sport gilt. Im Ausklügeln immer neuer Tricks zu diesem Behufe ist man sehr erfinderisch. Der Arzt weiß das natürlich und wird gewöhnlich mit der Zeit zum Skeptiker, der schließlich immer nein sagt, um nicht immer wieder hereinzufallen. Denn im Einzelfall zwischen echter und simulierter Krankheit zu unterscheiden, erfordert eine Anstrengung, und es ist bequemer, ein für allemal sich auf den Standpunkt zu stellen, daß jeder, der mit einer nicht durch untrügliche Symptome verbürgten Krankheit zum Arzt kommt, ein Schwindler ist. Leidet dann mal ein Unschuldiger mit dem Schuldigen, nun, das ist so schlimm nicht, das kommt in der Welt ja öfters vor. Dies war nicht der Standpunkt des Herrn Medizinalrats. Seine hellen Augen sahen fast immer durch den künstlichen Nebel, hinter dem der sich krank meldende Gefangene seinen Zustand verbergen wollte, er geriet dann nicht etwa in Zorn, sondern wies den Mann ruhig und wohlwollend zurecht, gab ihm auch wohl die gewünschte Arznei, falls sie harmlos und nicht zu teuer war; mancher ging beschämt von ihm hinweg und wiederholte sein Täuschungsmanöver nicht. Im Zweifelfall gab er ohne Zögern. Er wollte, so sagte er mir einmal, lieber von 99 Simulanten hintergangen werden, als daß er den hundertsten, der wirklich krank, als Simulanten zurückwies. Unter den vielen Gefangenen, mit denen ich später in Berührung kam, war nicht ein einziger, der sein menschenfreundliches Wirken nicht anerkannt hätte.
Ein Jahr vor Beginn des Krieges starb der edle Mann ganz plötzlich. Als der Geistliche in der Kirche den Tod bekanntgab, brachen die Gefangenen in ein Weinen und Schluchzen aus, das minutenlang andauerte.
An die Vorführung vor den Arzt schloß sich eine Stunde später die Vorführung vor die Konferenz. Um einen runden Tisch saßen acht Personen, einer ergriff das Wort und verlas aus den Akten mein Urteil samt dem Begnadigungsdekret. Daran anschließend ermahnte er mich, die Strafe im richtigen Geiste zu tragen und vor allem keinerlei Sonderstellung im Hause zu beanspruchen, denn hier heiße es: gleiche Brüder, gleiche Kappen. Es war der Verwalter, ein echter Bureaukrat. Neben ihm saßen der Assessor, der Hausarzt, die beiden Hausgeistlichen, die beiden Lehrer und der Buchhalter, von denen aber niemand ein Wort sagte.
Die Konferenz kam einmal in der Woche zusammen und beriet über die laufenden Angelegenheiten. War der dabei den Vorsitz führende Direktor keine starke Persönlichkeit, so spielte er die Rolle eines konstitutionellen Monarchen, der sich von seinen Ratgebern dreinreden lassen und sich in manchem ihnen fügen muß. Dies war der Fall mit dem bei meiner Einlieferung abwesenden Direktor, einem Major außer Diensten mit dem Titel Oberregierungsrat. Ganz anders sein Nachfolger, ein früherer Oberst; der führte das Regiment als unumschränkter Despot, duldete keine Autorität neben sich. Dieser wiederum wurde abgelöst durch einen Juristen, einen Landgerichtsrat, dessen Stellung im Hause mehr derjenigen eines Staatspräsidenten glich. So habe ich gewissermaßen alle drei Regierungsformen durchproben und mir ein Urteil bilden können über ihre Vorteile und Nachteile.
Um zwölf Uhr wurde das Mittagessen ausgegeben. Links neben der Tür befand sich in der Ecke ein Schrank mit fünf Stockwerken; zuunterst stand die sogenannte Stütze, ein Holzgefäß zur Aufnahme des schmutzigen Wassers; darüber die mit Wasser gefüllte Waschschüssel; dann kam ein verschließbares Gelaß mit zwei Eßschüsseln aus Porzellan, Löffel, Messer und Gabel; darüber ein Krug mit Trinkwasser; zuoberst ein Brett für Bücher und Hefte. Wenn es zur Essenausgabe schellte, klappte man den Eßtisch nebst Sitzbank herunter, stellte die Schüsseln auf den Tisch und wartete, bis die Klappe an der Tür geöffnet wurde. Darauf reichte man die Schüssel hinaus, bekam sie gefüllt wieder zurück, und nun konnte die Mahlzeit beginnen. Es gab Suppe und Gemüse, einen um den anderen Tag auch ein kleines Stück Fleisch. Jeden Morgen wurden 750 Gramm Schwarzbrot ausgegeben, das ganz vortrefflich war, Dienstags und Freitags um vier Uhr etwas Butter oder Käse. Abends wieder Suppe wie am Morgen. Die Speisen waren genießbar zubereitet. Ich hatte nicht die mindeste Schwierigkeit, mich an die Kost zu gewöhnen; wofür nach der Meinung des Arztes der Hauptgrund der war, daß ich der Essenfrage keine Wichtigkeit beimaß.
Nachmittags besuchte mich der Herr Assessor. Er trug anfangs einige Würde und Zugeknöpftheit zur Schau, aber da er im Grunde ein gutmütiger Mensch war und auf meiner Seite völlige Korrektheit des Benehmens feststellen konnte, so ging er nach und nach aus seiner Reserve heraus, und wir gerieten in ein angeregtes Gespräch. Natürlich hatte er meinen Prozeß genau verfolgt und wünschte über mehrere Punkte Aufklärung, die ihm in gewissen Grenzen bereitwillig zuteil wurde. Dann fragte er, ob ich an den Erfolg des Wiederaufnahmeverfahrens glaube; ich wüßte doch jedenfalls, wie groß die Schwierigkeiten eines solchen Verfahrens seien. Gewiß wüßte ich das; hätte auch bei der gegenwärtigen Animosität der Richterkreise wenig Hoffnung auf unmittelbaren Erfolg; aber das könne mich selbstverständlich nicht abhalten, alles zu tun, was in meiner Macht stehe, um das Fehlurteil des Schwurgerichts umzustoßen.
»Sonderbar,« meinte er, »Sie haben sich doch mit so auffälliger Lauheit verteidigt, und jetzt, nachdem die Würfel gefallen sind, zeigen Sie eine solche Hartnäckigkeit. Ihr Prozeß hat viel Rätselhaftes. Auch Sie scheinen mir ein Rätsel. Wenn Sie wirklich unschuldig sind, ist Ihr Los wahrhaftig ein entsetzliches. Aber ich bin zu sehr Jurist, um an Ihre Unschuld glauben zu können. Ihre Schuld mag geringer sein als das Gericht angenommen hat, denn den Eindruck eines Raubmörders machen Sie nicht, aber ganz unbeteiligt an dem Morde sind Sie wohl auch nicht. Nun, das geht mich offiziell nichts an, ich spreche mit Ihnen darüber nur als Privatmann. Glauben Sie denn, die Strafe überstehen zu können?«
»Ja, das glaube ich.«
»Wie lange?«
»So lange sie dauert.«
»Fünfundzwanzig Jahre?«
»Auch das.«
Darauf erging er sich in einer längeren Ausführung über die Frage, wie ein Gebildeter sich sein Leben im Zuchthaus einrichten solle. In erster Linie jeden Verkehr mit den anderen meiden. Den Verkehr mit dem Aufseherpersonal auf ein Minimum einschränken. Sich irgendein Handwerk aussuchen, zu dem man Lust und Liebe verspüre, und es darin möglichst weit zu bringen suchen. Er empfehle mir die Schreinerei. In den Freistunden seine Fachstudien pflegen; die nötigen Bücher würde ich mir nach und nach beschaffen können.
Im großen und ganzen hatte, was er sagte, Hand und Fuß, und ich sprach ihm meinen Dank aus für seine gutgemeinten Ratschläge. Aber in einem Punkte, sagte ich, sei ich anderer Meinung als er. Ich wollte möglichst viele Gefangene kennenlernen.
»Aha,« lachte er, »und dann später ein Buch darüber schreiben; ich kann mir denken. Na, das schlagen Sie sich nur aus dem Sinn. Zwar nach drei Jahren können Sie verlangen, in Gemeinschaftshaft gebracht zu werden, das ist Ihnen im Strafgesetzbuch zugesichert, aber Sie werden es nicht lange in der Gesellschaft aushalten. Man wird Ihnen mit Abneigung und Mißtrauen entgegenkommen und Sie dürfen damit rechnen, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nach allen Regeln der Kunst verprügelt zu werden. Man wird in Ihnen den Spion wittern. Diese Leute sind von ungeheurer Erbitterung erfüllt gegen die Kaste, der Sie angehört haben. Oder sind Sie bereit, mit den Wölfen zu heulen?«
»In dem Sinne, wie Sie es meinen, nicht. Aber ich habe mich schon den fremdartigsten Zuständen anzupassen verstanden und glaube deshalb, auch mit Zuchthäuslern verkehren zu können, ohne mich mit ihnen gemein zu machen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Wer Pech anrührt, besudelt sich. Übrigens dürfen Sie nicht erwarten, hier interessante Menschen kennenzulernen. Ich lese ja die Akten und kenne daher die Verbrecherwelt genau. Es sind immer dieselben Typen, Alltagsnaturen.«
»Vielleicht in den Akten. In der lebendigen Wirklichkeit sicher nicht. Jeder Mensch, oder fast jeder, ist interessant. Man muß ihn nur richtig sehen. Und das Studium der Entgleisten, der im Daseinskampf Unterlegenen, ist tausendmal interessanter als das Studium der sogenannten Erfolgreichen, der noch nicht Bestraften. Die sind, wofern nicht hinter dem scheinbaren Erfolg irgendeine Tragik verborgen ist, langweilig.«
»Also Sie halten Ihren Zellennachbar für einen beachtenswerteren Menschen als zum Beispiel meine Wenigkeit?«
»Für interessanter ohne Zweifel. Dieser Verbrecher hat sicher mehr erlebt als Sie. Eine genaue Kenntnis seines Inneren wäre sehr lehrreich und wertvoll, würfe vielleicht ein Licht auf noch nicht geklärte Probleme der Kriminalistik, während die genaueste Kenntnis der Psyche eines großherzoglich badischen Gerichtsassessors vermutlich eine ziemlich unfruchtbare Sache wäre. Womit ich selbstverständlich nichts gesagt haben will, was gegen den Respekt verstößt.«
Der Herr Assessor war ein wenig pikiert und machte dem Gespräch ein Ende. Im Laufe der Jahre habe ich noch mehrere seiner Art kennengelernt; es war keiner darunter, der von den Pflichten seines Amtes einen sonderlich hohen Begriff hatte. Sie kamen in die Anstalt, machten ihren Dienst und gingen wieder. Die Stelle galt nicht für begehrenswert. Als Vorbereitung für die Laufbahn des Strafrichters oder Staatsanwalts oder Verteidigers hätte sie von großem Wert sein können. Aber dazu wäre freilich außer einem klugen Kopf auch ein fühlendes Herz Voraussetzung gewesen.
Am nächsten Morgen erster Gang zur Kirche. Auf dem Stundenplan stand Religionsunterricht. Es schellte, dann rief ein Aufseher mit lauter Stimme: Katholische, Kirch! Viele Treppen hinauf ging's, bis man endlich keuchend in einem sonderbaren Holzverschlag landete, der hinter einem verschlossen wurde und so eng war, daß sich darin nicht aufrecht stehen ließ. Man hatte die Wahl, ob man sitzen oder knien wollte. Nach vorn hatte der Verschlag eine Öffnung, durch die eine Menge ähnlicher, amphitheatralisch angeordneter Verschläge sichtbar wurden, aber nur von hinten, so daß von den Insassen nichts zu sehen war; gegenüber erhob sich eine hohe Estrade, darauf Altar und Kanzel, rechts und links flankiert von einem Aufseher, die das Amphitheater überwachten. Zuerst war ich von der Enge des Kastens, in dem ich saß, ganz benommen und rang nach Luft, dann ergriff mich ein grimmiger Zorn gegen die Menschen, die ihre Mitmenschen in einer solchen Weise behandeln, und das in einer christlichen Kirche.
Neben dem Altar waren an der Wand zwei Bibelsprüche zu lesen, rechts: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken; nehmet mein Joch auf euch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist süß und meine Bürde ist leicht. – Links: Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn hingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben; wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet. Über dem Altar hing ein großes Bild, den Heiland darstellend in glänzend weißem Gewand, unendliche Milde im Antlitz, die weit ausgebreiteten Arme einem schwarzlockigen Jüngling entgegenstreckend, der sich, in zerfetzte Lumpen gehüllt, vor ihm niedergeworfen hatte und zu seinem Erlöser aufschaute mit einem Ausdruck, in dem sich Scham, Reue und Vertrauen vermischten; im Hintergründe schäumte das Meer gegen Klippen.
Welch ein Gegensatz zwischen der Art, wie Christus diesen Schiffbrüchigen aufnahm, und der Art, wie der christliche Staat von heute mit den Schiffbrüchigen unserer Zeit umgeht.
Der Geistliche erschien und kniete vor dem Altar nieder, die hinter den Holzkästen aufgestellte Orgel intonierte ein Lied, das ziemlich schwach mitgesungen wurde, dann betrat der Herr Pfarrer die Kanzel. Ich betrachtete ihn mit Interesse. Über einer kleinen, schmalen Gestalt ein Kopf mit einem runden Gesicht, auf dem die Röte der Gesundheit lag und eine große innere Ruhe; feste, klare Augen; die Worte schlicht, aber mit Nachdruck gesprochen. Er redete ganz aus dem Stegreif; ich glaube, über Johannes den Täufer, denn wir waren im Advent. Ich hatte einen Religionsunterricht mit Fragen und Antworten erwartet, aber was er sagte, gefiel mir nicht übel, ich sagte mir, mit dem wirst du gut auskommen.
Darin hatte ich mich nicht getäuscht. Als er nach einiger Zeit seinen ersten Besuch machte, kam er mir gleich mit so herzlichem Wohlwollen entgegen, daß ich ihm rückhaltloses Vertrauen schenkte. In langen Gesprächen unterrichtete er sich über den Verlauf des Prozesses, und als ich ihm alles klargelegt hatte, schüttelte er mir die Hand und sagte, er glaube an meine Unschuld und wolle mir, soviel in seinen Kräften stehe, helfen zur Rehabilitation. Ja, mit der Zeit ergriff er für mich mit einem übermäßigen Eifer Partei und gab seiner Überzeugung von meiner Unschuld Leuten gegenüber Ausdruck, vor denen er besser geschwiegen hätte. Einer derselben denunzierte ihn beim Ministerium. Darauf erhielt er eine scharfe Rüge, die ihn etwas vorsichtiger machte. Aber in all den sieben Jahren, die er noch bei uns war, hatte ich an ihm einen entschiedenen Gönner. Er war ein gerader, aufrechter Mensch und hielt das Leben für einfacher, als es wohl in Wirklichkeit ist. Im Verkehr mit den Gefangenen besaß er einen ausgezeichneten Blick für Charakter, täuschte sich wunderselten in der Beurteilung einer problematischen Natur. Ich war später, als ich den einen oder anderen der Leute, von denen er mir erzählt hatte, näher kennenlernte, oft voll Verwunderung darüber, wie gut er manche sehr geschickt getragene Maske durchschaut hatte.
Das erste Buch, das ich erhielt, war ein »Türmer«. So hatte ich in meinem Leben noch kein Buch gelesen, wie ich dieses Buch las. Es stand, soviel ich mich erinnere, nichts Besonderes darin, aber ich saß mit heißem Kopf darübergebeugt, und die Stunden verrannen im Nu. Zum Glück enthielt die Bibliothek eine ziemliche Anzahl guter Werke. Man bekam alle 14 Tage einige Bände, und es wurde Rücksicht genommen auf die Wünsche des einzelnen. Staunenswert war der leidenschaftliche Bildungsdrang, der nicht wenigen der Gefangenen innewohnte. Die Mehrzahl freilich suchte bei den Büchern nur Zerstreuung. Am begehrtesten waren die illustrierten Zeitschriften und Karl May.
Als Weihnachten kam, hatte ich mich schon so ziemlich eingelebt, ich glaubte, von dem Leben in der Anstalt und den Personen ein annähernd richtiges Bild zu haben und hatte doch in Wahrheit noch keine Ahnung von dem, was da um mich herum vorging. Jahre dauerte es, bis ich mir meiner Unwissenheit überhaupt bewußt wurde.