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Es war Reichsgesetz, daß kein Gefangener wider seinen Willen länger als drei Jahre in Einzelhaft gehalten werden durfte. Die Direktion der Strafanstalt empfand dieses Gesetz als eine unbequeme Beschränkung ihrer Machtvollkommenheit und als an und für sich abwegig. Man stellte also dem noch in der Zelle befindlichen Gefangenen, der heraus wollte, den Aufenthalt in der Gemeinschaftshaft als nicht wünschenswert dar und sagte ihm etwa folgendes: Jeder Gefangene, der noch einen guten Kern hat, bleibt in der Zelle; solange er in der Zelle ist, können wir ihn individuell behandeln, auch einmal gelegentlich ein Auge zudrücken; in der Gemeinschaft würde das nicht angängig sein; wenn er in Gemeinschaftshaft geht, kann er Hausstrafen kaum vermeiden.
In vielen Fällen wird der Zweck erreicht, der Mann zieht es vor, allein zu bleiben. Aber bei einer Kategorie verfangen solche Argumente gar nicht, das sind die rückfälligen Eigentumsverbrecher, die sogenannten Spitzbuben. Sie haben fast alle eine merkwürdige Scheu vor der Einzelhaft. Immer wieder hört man aus ihrem Munde die ernstgemeinte Beteuerung: Auf der Zelle werde ich verrückt, ich kann das nicht aushalten. Fragt man nach dem Warum, so heißt es: Ich kann mich nicht beschäftigen, die Arbeit ist zu mechanisch, das Lesen habe ich bald satt, und was soll ich sonst treiben? Da kommt man auf allerhand dumme Gedanken, fängt an zu spinnen, und eines schönen Tages ist man richtig übergeschnappt. Begreiflich, daß bei diesen Leuten der Herdeninstinkt so mächtig ist. Sie drängen zueinander hin, weil jeder das Gefühl hat, allein sich nicht auf den Beinen halten zu können. Staunen muß man darüber, wie gut sie sich vertragen; viele sind ja gutmütig, manche sogar wahrer Freundschaft fähig, aber die Zuchthausatmosphäre ist doch so mit Spannung geladen, daß die Seltenheit von Zank und Streit auffällig erscheint.
Wenn nun ein Gefangener nach Ablauf der reichsgesetzlichen drei Jahre verlangt, in Gemeinschaftshaft verbracht zu werden, was geschieht mit ihm? Er kommt entweder in den Saal oder er erhält einen Schänzerposten.
Der Saal. Ein sehr langes, schmales Gelaß im Erdgeschoß. Es wird Papier verarbeitet oder Tabak gerippt. An mehreren Tischen sitzen etwa ein Dutzend Gefangene und hantieren schweigend. Auf einer Art Katheder am oberen Ende des Saales thront der Aufseher. Der mächtige eiserne Ofen verbreitet eine angenehme Wärme. Von Zeit zu Zeit fallen ein paar Worte in die Stille hinein, auf die Arbeit bezügliche Bemerkungen des Aufsehers, sonst hört man nur das Rascheln des Papiers und den kurzen, harten Strichton des Falzbeins. Nur in den Eßpausen darf gesprochen werden.
An dem einen Ende des Tisches sitzt der Schänzer. Ein altes, hutzliges Männchen mit einem dumm-pfiffigen Bauerngesicht. Brandstifter von Beruf. Ein fleißiger Tagelöhner, nüchtern und zuverlässig, aber wenn er mit seinem Brotherrn Krach kriegt, dann geht er hin und zündet ihm nachts das Haus an. Darauf kommt er auf fünf bis zehn Jahre ins Zuchthaus, führt sich tadellos und wird mit den besten Segenswünschen entlassen. Es wird ihm auch eine Stelle ausfindig gemacht, und alles geht gut, bis ihn wieder ob irgendeiner wirklichen oder vermeintlichen Kränkung die Wut packt und er seinem Bauern den roten Hahn aufs Dach setzt. Bei den Beamten des Hauses ist er gut angeschrieben, weil er keine Schererei macht, immer demütig ist und häufig zu den Sakramenten geht. Die Mitgefangenen mögen ihn leiden, denn er ist immer hilfsbereit und klatscht nicht.
Neben ihm sitzt der Bayer, eine markante Persönlichkeit. Er wird bald das Jubiläum seiner hundertsten Hausstrafe feiern; für das halbe Dutzend Jahre, die er auf dem Buckel hat, eine respektable Leistung. Er ist nicht kleinzukriegen. Im Grunde kein übler Mensch, genießt er die heimlichen Sympathien der besseren Elemente des Hauses, wird aber bitter gehaßt von allen Aufsehern, die kein reines Gewissen haben, denn er geigt ihnen die Wahrheit rücksichtslos, und seine Zunge hat schon viel Unheil angerichtet. Gegebenenfalls weiß er auch seine Fäuste zu gebrauchen; dann gibt's eine solenne Schlägerei, in der natürlich er den kürzeren zieht und striemenbedeckt im Turm landet. Nach einigen Wochen erscheint er wieder auf der Bildfläche, etwas heruntergekommen, aber da er einen gesegneten Appetit hat und von allen Seiten Eßbares zugesteckt bekommt, so hat er sich in kurzem wieder auf die alte Leistungsfähigkeit hinaufgegessen und ist bereit zu neuen Taten. Als Einbrecher ist er ein Stümper und wird von den Koryphäen der Profession über die Achsel angesehen. »Der Bayer ist ein Esel,« sagen sie, »draußen macht er lauter Sachen, die nichts einbringen, und im Zuchthaus hockt er die halbe Zeit im Arrest, was auch nichts einbringt.«
Besonders freundlich ist der Bayer zu seinem Nachbar, einem kümmerlichen Menschen, der, mit glanzlosen Augen über seine Arbeit gebeugt, den Eindruck eines Schwerkranken macht. Sie nennen ihn den Christoph. Ein Lebenslänglicher, hat schon zehn Jahre hinter sich, und das Ende ist nahe. Welcher Art das Ende sein wird, verrät das tuberkulöse Geschwür an seinem Handgelenk, dessen Fortschritt, wie jeden Tag, so auch heute von allen Saalbewohnern beaugenscheinigt und des langen und breiten besprochen wird. Wie lange macht er's noch? Der eine meint, es kann noch Jahr und Tag dauern, der andere sagt: in ein paar Wochen zerhacken sie ihn auf der Anatomie. Der Christoph hat sich in sein Schicksal ergeben, aber wenn er das Wort Anatomie hört, steigt ihm die Röte des Zornes in das fahle Gesicht. Eine Schande sei's, daß sie ihn in die Fleischkiste legen wollen und ihm kein christliches Begräbnis gönnen; Geld genug, die Begräbniskosten zu zahlen, habe er sich in der Anstalt verdient, aber das dürfe ja nicht dafür verwendet werden, was eine Gemeinheit sei; wofür habe er das Geld denn zusammengerackert; doch nicht, damit der Staat es wieder einziehe. Eine Gemeinheit sei's.
»Herrgottkreuzmillionensakra!« bekräftigt der Bayer mit einem Faustschlag auf den Tisch, daß die Pappschüsseln tanzen. »A Sind un a Schand is.«
Der Aufseher verweist ihm das Fluchen. Er tut das in ruhiger, freundlicher Weise, ist überhaupt ein guter Kerl und meldet nicht gern. Der Bayer weiß das natürlich, beherrscht sich, brummt noch ein wenig, dann ist der Friede wiederhergestellt.
Weiter am Tisch folgen ein paar Dutzendgesichter. Am unteren Ende noch ein Lebenslänglicher, ein junger Mensch von hübschem, gesundem Äußern, der nicht viel spricht und von den anderen mit einer gewissen Achtung behandelt wird, da er aus wohlhabendem Hause stammt und unschuldig sein soll. Er wurde wegen Mordes verurteilt, begangen an einem Mädchen, das schwanger ging mit einem Kinde, dessen Vaterschaft ihm zugeschrieben wurde.
Auf der anderen Seite sitzen zwei Franzosen, die zusammen einen Geldbriefträger überfallen und beraubt haben. Der eine, ältere, ein gänzlich verkommenes Subjekt, mit allen Lastern behaftet, ansteckend für jeden, der mit ihm in Berührung kommt; der andere leichtsinnig, aber nicht ohne gute Seiten. Den jüngeren nannte man Gaston, den älteren Alphonse. Gaston radebrechte ein wenig das Deutsche und war ein unermüdlicher Erzähler seiner mannigfaltigen Abenteuer in französischen Gefängnissen und seiner Reisen, die ihn – nicht allemal auf Pfaden des Friedens und der Rechtlichkeit – in aller Herren Länder geführt hatten und wußte auch den unangenehmsten Dingen eine erträgliche Seite abzugewinnen. Bloß auf das deutsche Gericht, das ihn und seinen Freund zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, war er schlecht zu sprechen. » Figurez-vous, monsieur,« erklärt er mir, »akt Jahr Sukthaus von wegen was? Was 'aben wir gemakt? Was 'aben wir gewonnen bei die Sak? Seksehn Mark und fünfsik Fennik. C'etait tout. Er 'atte nikt mehr in die Tasch, der Brieftrekär. Makt für meine Freind und mik eine Jahr für eine Mark. Sont-ils des animaux, ces juges allemands! Eine Jahr Sukthaus für eine Mark? C'est trop fort.« – »Aber Sie vergessen die 50 Pfennig.« – »Oh, taisez-vous, monsieur, maken Sie keine mauvaises plaisanteries, das ist eine ernste Sak, eine böse Sak, eine ungerekte Sak. Das wär' niemals arriviert in Frankreich. Jamais de la vie.«
Um zwölf Uhr geht der Schänzer das Essen holen. Alles schaut erwartungsvoll nach den Kesseln hin. Die Mienen erhellen sich: es gibt Brotsuppe und Heringssalat. Nachdem der Schänzer salbungsvoll ein kurzes Tischgebet gesprochen, beginnt unverzüglich der wichtigste Akt des Tages, der mit großem Eifer und ohne ein Wort zu verlieren, erledigt wird. Nur der Bayer hat etwas zu bemerken: er kann in seinem Salat keine Spur von einem Hering entdecken und will den Küchenchef verklagen wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen. Während noch ein Kichern durch den Saal geht, wird plötzlich in wuchtigem Schwung die Tür aufgerissen, herein stürzt der Oberaufseher und ruft: Achtung, der Herr Direktor!
Schwere Schritte im Gang, der Gefürchtete tritt herein. Es ist nicht mehr der konstitutionelle Monarch, der zur Zeit meiner Einlieferung regierte, sondern sein Nachfolger, der Despot. Eine martialische Gestalt, Stiernacken, Züge wie aus Erz gegossen. Das rötlichgraue Haar steil emporgestrichen.
Alles fährt von den Sitzen empor, der Aufseher fliegt vom Katheder herunter und steht stramm. Und wie stramm! »Dreizehn Mann zur Papierarbeit im Saal, Herr Direktor!« meldet er mit Stentorstimme. Der Gestrenge legt einen Zeigefinger an die Mütze. »Alles in Ordnung, Aufseher?« – »Befehl, Herr Direktor.«
Musterung des versammelten Fußvolks. »Hat jemand etwas vorzubringen?« Nein, niemand hat etwas vorzubringen.
Der Herr Direktor läßt sich einen Teller und einen Löffel reichen, schöpft höchsteigenhändig einen Rest Salat aus dem Kessel und probiert. »Na, Leute, das schmeckt ja vorzüglich. Da würde mancher von der Zivilbevölkerung draußen die Finger danach lecken. Es gibt nichts Besseres und Gesünderes als einen Hering.«
Ein diskretes Lächeln dankbarer Zustimmung erscheint auf den Gesichtern der Gefangenen, ein noch diskreteres Lächeln devoter Zustimmung auf den Gesichtern der Aufseher. Aber einer lächelt nicht, der Bayer. Wie eine Bombe platzt in die allgemeine Zustimmung sein Widerwort hinein: »Was nützt mir der beste und gesündeste Hering, wenn er nicht in meinem Salat ist?« Entsetzen und Entrüstung malen sich in den Mienen der beiden Trabanten. Der Tyrann runzelt die buschigen Augenbrauen. Kehrt macht er und schreitet auf einen Nebenraum zu, in dem nichts weiter drin ist als ein großer Blechtopf, dessen Deckel leider nicht so fest schließt, daß die Luft ganz rein bliebe. Das ficht aber den Herrn Direktor in seinem Amtseifer nicht an, er öffnet die Tür und ruft über die Achsel zurück: »Der Mann wird mir sogleich vorgeführt.« – »Befehl, Herr Direktor.«
Der Bayer verschwindet hinter der Tür, erregte Stimmen werden laut. Die Saalbewohner haben sich auf das Kommando ihres Aufsehers wieder gesetzt und fahren mit der Mahlzeit fort, sie spitzen dabei natürlich die Ohren, um sich von der interessanten Unterhaltung im Nebenraum möglichst wenig entgehen zu lassen. Die Unterhaltung nimmt einen immer stürmischeren Verlauf und endet, wie zu erwarten. Der Bayer kriegt drei Tage Dunkelarrest. Schon nach wenigen Minuten hört man, wie er im Hof vorbeigeführt wird, wobei er aus seinem Herzen keine Mördergrube macht, sondern sich über mehrere Beamte des Hauses mit großem Freimut äußert.
Na, da hilft nun nichts, er muß in den Turm, und den Rest des geschmähten Salats verzehrt der kleine Schänzer mit sichtlicher Befriedigung. »So gereichen die Fehltritte der Bösen den Guten zum Vorteil«, kommentiert der ein wenig zum Pietismus neigende Aufseher.
Der Rest des Tages verläuft ohne Zwischenfall, um halb sieben ist Feierabend. Man steht auf, nimmt den Rest des Brotes aus dem Schrank und macht sich fertig zum Abrücken. Da entsteht zwischen dem älteren Franzosen und seinem Nachbar, einem kleinen Dicken mit Schweinsäuglein, ein Wortwechsel. Dem Dicken sein Brot ist verschwunden. Noch fast die Hälfte des Laibes, behauptet er. Voll sittlicher Entrüstung bezichtigt er Alphonse des Diebstahls. Der leugnet, in der Hitze des Gefechts vergißt er seine paar Brocken Deutsch, parliert und gestikuliert in seiner Muttersprache. Der Aufseher eilt herbei, um den Tatbestand festzustellen. Aber das ist nicht leicht. Der Dicke erklärt mit Bestimmtheit, es könne niemand anders gewesen sein als der Franzmann. Der sei ein gefräßiger Geselle, der niemals genug kriegen könne (erstes Indizium), und dann sei er an dem Nachmittag über eine Viertelstunde im Nebenraum gewesen, bei welcher Gelegenheit er zweifellos das Geraubte an einen sicheren Ort befördert habe, woher es nicht wieder zurückerstattet werden könne (zweites Indizium). Alphonse gibt zu, daß er immer hungrig ist, aber einen Kameraden zu bestehlen, ah non, das würde er niemals tun, incapable d'une pareille infamie; er gibt auch zu, längere Zeit in dem bewußten Nebenraum gewesen zu sein, aber, que voulez-vous, der Heringssalat war zu sauer, er hat sich den Magen verdorben. Der Aufseher zu dem Dicken: »Haben Sie gesehen, daß er Ihnen das Brot aus dem Schranke genommen hat?« – »Nein, Herr Aufseher, gesehen habe ich es nicht, aber ...« – »Halten Sie's Maul. Hat jemand anders etwas davon gesehen?« Niemand hat etwas gesehen. Darob ergeht das salomonische Urteil: Sintemal Kläger und Angeklagter einer, so unglaubwürdig wie der andere, Zeugen nicht vorhanden, das Corpus delicti verschwunden, so ist der Sache keine weitere Folge zu geben. Der Dicke will sich bei dem Spruch nicht beruhigen und droht, an eine höhere Instanz zu appellieren; er geht zum Herrn Direktor. Da wird Salomo grob und donnert: »Sie können meinethalben zum Teufel gehen. Ihnen glaubt ja kein Mensch ein Wort. Wahrscheinlich haben Sie das Brot selber gegessen und wollen es jetzt noch einmal haben. Das kennt man. Schämen Sie sich, einen Mitgefangenen wegen so was anzuklagen, ohne Beweis.« Und als er auf des Franzosen Gesicht ein schmieriges Lächeln wahrnimmt, fährt er diesen an: »Sie brauchen keine Gesichter zu schneiden, Sie langes Laster, zuzutrauen ist Ihnen die Schweinerei schon. Übrigens sonderbar, wie gut Sie Deutsch verstehen, wenn es Ihnen paßt. Sonst sind Sie immer bei der Hand mit Ihrem Nix comprend, sooft ich Ihnen etwas befehle, aber warten Sie nur, ich werde Sie schon kriegen. Schluß jetzt. Fertig machen zum Abrücken auf die Zelle.«
Alphonse mimt eine glückliche Mischung von Gekränktsein und Nichtverstandenhaben, setzt sich achselzuckend in Bewegung; er ist mit dem Ausgang des Rechtsstreits zufrieden.
*
Die Gemeinschaftshaft im Saal ist nicht beliebt, viel begehrter sind die Posten der Haus- und Feldarbeiter. Doch da hieß es oft lange warten, bis eine Stelle frei wurde. Meldete sich jemand aus dem Saale fort, so wurde er dem Direktor vorgeführt und mußte eine Erklärung unterschreiben, daß er für die Dauer eines Jahres auf das ihm zustehende Recht der Gemeinschaftshaft verzichte. Die Leute taten das äußerst ungern, empfanden den Unterschriftszwang als eine Rechtsverkürzung.
Ist nun irgendwo ein Schänzerposten infolge Todes, Abganges, Abdankung oder Absetzung des bisherigen Inhabers neu zu besetzen, so besteht große Spannung im Hause, bis der Name des erfolgreichen Bewerbers bekannt wird. Da hört man eines Tages: »Der krumme Kaspar ist Schänzer geworden im vierten Flügel, dritter Stock. Na, dem muß man's wirklich gönnen, der arme Kerl sitzt schon fünf Jahre und hat noch ebenso lange. Wenn er nur die Arbeit schaffen kann.« Sie ist nicht gerade schwer, die Arbeit, aber sie ist zum Teil recht schmutzig und ekelerregend. Kaspar, glücklich über die langersehnte Beförderung, packt seine Siebensachen und bezieht die Schänzerzelle im vierten Flügel, dritter Stock. Da er Neuling ist, muß ihn der Aufseher in die Obliegenheiten seines Amtes einweihen. Sauber halten und allen Verkehr mit den Gefangenen meiden, das sind die Hauptregeln; leicht gesagt, aber schwer zu befolgen. Mit dem Sauberhalten, das ginge noch. Aber wie kann man von Kaspar verlangen, daß er allen Verkehr meide, er ist doch aus der Zelle herausgegangen, um wieder Gesellschaft zu haben. Da sein Aufseher ihn gut behandelt, so spricht er sich diesem gegenüber aus. Der Aufseher ist kein Unmensch und erwidert: »Das elfte Gebot heißt, du sollst dich nicht erwischen lassen.«
Also zunächst sieht sich Kaspar seine Leute an. Er hat etwa zwanzig Pflegebefohlene, Schneider und Kappenmacher. Einige davon halten sich zurück, wollen sich offenbar mit ihm nicht einlassen. Aber die Mehrzahl ist bereitwillig zum Anbandeln. Kaspar muß sich ein Urteil bilden, wie weit er mit jedem gehen darf. Manchen wertvollen Wink gibt ihm sein Aufseher, auch seine Kollegen vom ersten und zweiten Stock sind behilflich mit nützlicher Wissenschaft. Nummer 26 ist ein Schuft, hat schon einen Schänzer in Arrest gebracht zum Dank für geschenktes Brot. 30 ist mit Vorsicht zu gebrauchen, babbelt alles aus an den Pfarrer. 31 ist ein Ehrenmann, mit dem kann man alles machen. Und so fort, die ganze Reihe entlang. Da er etwas Menschenkenntnis besitzt, hat Kaspar nach einiger Zeit eine genügende Übersicht über sein kleines Reich und amtiert zur Zufriedenheit seines Aufsehers. Auch die Gefangenen sind mit ihm zufrieden, denn er läßt jedem Hungrigen gern etwas zukommen von dem übrigen Essen.
Daß er diese Suppen- und Gemüsereste verteilen darf, ist eines seiner wichtigsten Privilegien. Dem Buchstaben der Hausordnung nach sollte eigentlich der Aufseher diese Verteilung vornehmen. Aber der hat nicht viel Zeit, überträgt gern seinem Getreuen manche seiner Befugnisse und drückt beide Augen zu, wenn nur von den höheren Vorgesetzten keiner was merkt. Der Schänzer hat in der Zelle nicht bloß zwei Eßschüsseln wie die anderen, sondern drei, vier, fünf, dazu einige halbzerbrochene Wasserkrüge, vielleicht auch die eine oder andere außer Dienst gesetzte Waschschüssel; Gefäße genug, um einen Vorrat von Speisen anzusammeln. Natürlich ißt er, besonders im Anfang, mehr als das normale Maß, aber es bleibt immer noch viel übrig. Kaspar ist ein Gentleman und verteilt dies unter die Bedürftigen ohne Entgelt. Die meisten seiner Kollegen machen das anders, sie lassen sich bezahlen; mit irgendeinem Gegenstand, der in ihren Augen Wert hat. So besitzt der hungrige Leidensgefährte vielleicht einen Spiegel, oder einen Kamm, oder ein Stück eigene Seife, oder einen Bleistift; ist er ganz arm, so kann er doch Butter und Käse und Fleisch abtreten, kleine Delikatessen, die für ihn nicht so sättigend sind wie eine ordentliche Schüssel voll Erbsen oder Linsen. Solche Tauschgeschäfte zu machen, ist selbstverständlich verboten, man nennt das Fuckern (vermutlich abgeleitet von dem illustren Hause der Fugger), aber es liegt gar nicht in der Macht der Direktion, das Unwesen ganz auszurotten. Dann und wann wird ein besonders krasser Fall streng bestraft, meistens ein Fall, wo ein Schänzer die Notlage eines Hungrigen ausgebeutet und ihn wucherisch behandelt hat, was natürlich böses Blut macht und sich früher oder später rächt. Sonst aber ist das Fuckern ein allgemeiner Usus.
Kaspar fuckert natürlich auch. Aber sich von einem hungrigen Kameraden für ein Stück Brot Wertgegenstände geben zu lassen, hält er für unfair.
Kaspar ist in der Freiheit ein leidenschaftlicher Raucher gewesen. Solange er auf der Zelle war, mußte er sich seine Rauchgelüste natürlich verkneifen, aber nun ist er in der glücklichen Lage, sich Tabak verschaffen zu können. Unter seinen Leuten ist nämlich einer, der unten im Saal Tabak rippt. Der schmuggelt das wohlriechende Kraut abends in die Zelle und hat mit dem Schänzer einen Weg vereinbart, auf dem der begehrte Tauschartikel in den Handel gebracht werden kann. Abends, nach Toresschluß, liegt Kaspar auf dem Bauch vor seinem Luftschacht und qualmt eine Zigarre nach der anderen hinein. Es sind zwar keine Upmanns, die er raucht, aber man muß sich nach der Decke strecken.
Der Tabaklieferant liest gern Karl May. Er hat dem Schänzer ein für allemal den Auftrag erteilt, ihn zu benachrichtigen, wenn ein Band ins Stockwerk kommt. Also meldet Kaspar eines Tages: »Der Dreiunddreißiger hat einen Karl May.« – »Was für einen?« – »Satan und Iskariot.« – »Fein, den hab' ich noch nicht gehabt. Frag' ihn, was er dafür haben will.« Nach einiger Zeit kommt Kaspar zurück mit der Antwort: »Zigarren will er haben, für jeden Tag drei. Behalten kannst du den Band eine Woche. Es sei ein großartiges Buch, spannend bis dort hinaus.« – »Gut, ich lege dir den Tabak an die bewußte Stelle, und du machst die Zigarren. Er hält doch dicht?« – »Selbstredend. Sonst hätte ich kein Wort gesagt. Aber er will keinen Pfälzer, sondern Sumatra oder Brasil.« – »Kann er haben.«
Eines Tages wird ein Feldarbeiter in den dritten Stock verlegt. Kaspar nimmt ihn mit offenen Armen auf wie ein Geschenk aus Himmelshöhen, denn der Gabriel ist im ganzen Haus bekannt als guter Kerl und unbedingt zuverlässig, eine wahre Perle. Kaspar betreut ihn wie eine Mutter, hält ihm die Zelle tadellos in Schuß, schmiert ihm die Stiefel, sorgt für Tabak zum Kauen und Rauchen, sieht dem Neuen jeden Wunsch an den Augen ab. Warum das alles? Nun, der Feldarbeiter bringt im Sommer und Herbst allerlei köstliche Dinge mit ins Haus herein: Pflaumen und Kirschen, Äpfel und Birnen, sogar Pfirsiche und Trauben. Kaspar aber ist allmählich ein Gourmet geworden, Suppen und Gemüse schmecken ihm nicht mehr, er sehnt sich nach Leckerbissen. Jetzt kann er monatelang ein Prasserleben führen. Und wie gesund eine solche Obstkur ist! Nicht Obst allein bringt der Gabriel mit. Es vergeht zu gewissen Jahreszeiten keine Woche, in der er nicht den einen oder anderen Tag bei einem der Aufseher oder Beamten beschäftigt ist in ihren Gärten oder auf ihren Feldern, denn die meisten betreiben ein wenig Landwirtschaft. Gabriel ist, wie gesagt, eine Perle; er arbeitet für zwei, versteht sich auf alles, man kann ihm völlig vertrauen, ja, er ist mit der Zeit zum Hausfreund geworden bei den Aufsehern, bastelt den Frauen und Kindern zerbrochene Geräte wieder zurecht, seine Dienste sind unschätzbar, unentbehrlich. Ist es ein Wunder, daß ihm da allerhand gute Sachen zugesteckt werden, Wurst und Schinken, Eier, Käse und so weiter? Und an allem Guten hat Kaspar seinen Teil.
Er wird viel beneidet. Schon mehrere Versuche, ihn zu Fall zu bringen, hat er glücklich abgewettert, dank seiner Vorsicht und dem Wohlwollen des Aufsehers. Andere Schänzer möchten mit ihm tauschen und machen ihm allerlei Angebote; Küchenarbeiter z. B. könnte er werden. Er lehnt ab, natürlich, denn er hat jetzt über die Verhältnisse im Hause so gründliche Kenntnisse erworben, daß er die Vorteile und Nachteile jedes Postens genau abzuwägen weiß. In der Küche kann man sich satt essen; das kann er auch. Man bekommt auch zuweilen einen guten Bissen, da außer für die gesunden und kranken Gefangenen auch für die jüngeren, im Hause wohnenden Aufseher gekocht wird; das bekommt er auch. Von den Küchenarbeitern sind sechs in der unteren, vier in der oberen Küche. Die untere Küche ist ein feuchtes, übelriechendes Loch im Erdgeschoß, wo das Gemüse geputzt und die Kartoffeln geschält werden; die obere Küche ein großer, ganz in Weiß gehaltener Raum, stets blitzsauber, da hierhin alle Besucher geführt werden und hier der Aufsichtsrat bisweilen die Speisen kostet; die Arbeit am Herd, an den Kesseln und in der Spülküche ist weniger unangenehm als unten, aber der Küchenmeister gilt für einen Mann, mit dem nicht gut Kirschen essen ist. Alle paar Wochen fliegt einer seiner Leute auf die Zelle. Alles wohl erwogen, kommt Kaspar zu dem Entschluß, seinen Posten beizubehalten.
Nur im Frühjahr, wenn die sonnigen Tage wieder da sind, spielt er wohl mit dem Gedanken, sich zu den Feldarbeitern zu melden. Da sieht er die Schar morgens abrücken, lustig und von Gesundheit strotzend, und abends zurückkommen, müde und hungrig, aber zufrieden. Sie atmen den ganzen Tag über die Luft der Freiheit. Ihre gebräunten Gesichter haben nicht den melancholischen Ausdruck der Eingesperrten. Zwar die Arbeit ist schwer, aber wenn einer kein Schwächling ist, gewöhnt er sich dran, und dann macht's ihm nichts mehr aus. Bei seinem Freund Gabriel, der Obmann der Feldarbeiter ist und sich in allem genau auskennt, erkundigt Kaspar sich nach den Umständen, die für und wider eine Bewerbung sprechen. Da wird der Charakter des Aufsehers genau erörtert, der das Kommando führt; er hat den Ruf eines Heimtückers und Grobians, aber Gabriel beurteilt ihn günstiger und erklärt, man könne mit ihm auskommen, wenn man ihn richtig zu nehmen wisse, er gibt schätzbare Winke in dieser Richtung. Aber da ist das verdammte »Puhlen«, das Kaspar zu wiederholten Malen von einem Dachbodenfenster aus mit Ekel beobachtet hat. Die in großen Gruben gesammelten Fäkalstoffe müssen herausgepumpt und in Bütten auf die Felder getragen werden; an solchen Tagen stinkt Gabriel, wenn er heimkommt, wie die Pest. Zwar sagt er, daß sich Kaspar mit der Zeit auch daran gewöhnen werde, aber dieser glaubt das nicht, an die Sauerei wird er sich nie gewöhnen können. Er will lieber bleiben, wo er ist. Darüber Kopfschütteln des Freundes, der, von Kindesbeinen auf an derartige schmutzige Hantierung gewöhnt, eine solche Zimperlichkeit unverständlich findet.
Und auf einmal, an einem wunderschönen Frühlingsmorgen, überwindet die Sehnsucht nach Bewegung im Freien alle Bedenken. Kaspar beschließt, sich zu den Feldarbeitern zu melden. Als der Aufseher die Zelle aufschließt, läßt er sich zum Rapport aufschreiben, weicht aber der neugierigen Frage, was er denn wolle, aus. Bald erscheint der Oberaufseher, das dicke Notizbuch unterm Arm, und nimmt das Anliegen entgegen, ohne sich mit einem Wort dazu zu äußern. Schon verspürt Kaspar Anwandlungen von Reue. Hat er da nicht einen dummen Streich gemacht? Es drängt ihn, mit jemand darüber zu sprechen; er geht zu seinem Aufseher und sagt ihm, was vorgefallen ist. Dieser fängt sogleich an, mächtig zu schimpfen. Er hat sich an diesen Schänzer gewöhnt, möchte ihn nicht verlieren. Ganz kleinlaut schleicht Kaspar in seine Zelle zurück; wenn er nur die Meldung rückgängig machen könnte, aber das geht jetzt nicht mehr. Am Nachmittag wird ihm eröffnet: die Direktion hat seine Bewerbung abgelehnt, da er noch vier Jahre seiner Strafe zu verbüßen habe; von einer Versetzung zu den Feldarbeitern könne erst die Rede sein einige Zeit vor seiner Entlassung. »Seien Sie froh, daß es so gekommen ist«, bemerkt der Aufseher. Kaspar ist wirklich froh. Und abends wird er noch froher, als der heimkehrende Freund das ganze Stockwerk wieder mit dem wohlbekannten landwirtschaftlichen Duft erfüllt.