Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1. Die Einlieferung

Früh am Morgen kam der Herr Hausinspektor zu mir in die Zelle mit einer Miene, die auf große Neuigkeiten hindeutete. Gewichtig ließ er sich auf dem Schemel nieder, entfaltete langsam einen Bogen Papier und las mir den Staatsministerialerlaß vor, der die gegen mich erkannte Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus umwandelte. Zwischendrein beobachtete er mich aus verschwommenen, pfiffig dreinschauenden Äuglein. Als er fertig war, wartete er ein Weilchen, um mir Zeit zu lassen zu einer Äußerung. Ich schwieg.

»Na, so rede Se doch ein Wort!« brach er endlich los mit beträchtlichem Unwillen im Ton, »mer könnt meine, et wär Ihne einerlei.«

Der Mann hatte mir während der langen Untersuchungshaft ein gewisses Wohlwollen bezeigt, wir waren im allgemeinen gut miteinander ausgekommen. Bisweilen wurde er ein wenig zudringlich. Bei der Hauptverhandlung war er im altertümlichen Gehrock als Zeuge aufgetreten und hatte ausgesagt, daß er mich oft des Nachts beobachtet habe, wie ich unruhig in der Zelle auf und ab gegangen sei, unverständliche Worte murmelnd, anstatt wie ein normaler Christenmensch im Bett zu liegen und zu schlafen: Beweis eines schlechten Gewissens und gefährlicher Gedanken, wahrscheinlich Selbstmordgedanken. Ich hatte ihm das nicht weiter übelgenommen.

Die Antwort, die er erhielt, befriedigte ihn nicht. Da er aber sah, daß nichts Rechtes aus mir herauszuholen war, ging er zu etwas anderem über. Ich sollte, erklärte er, noch am selben Nachmittag in das einige Stunden entfernte Zuchthaus übergeführt werden. Und zwar nicht, wie das sonst der Brauch, mit der Bahn, sondern in einem Wagen. Einer zweispännigen »Schees« sogar. War das nicht aller Anerkennung wert?

»Also sozusagen ein Begräbnis erster Klasse«, sagte ich.

Das sei ein schlecht angebrachter Spott, rügte er. Ob ich nicht immer von den Behörden sehr gut behandelt worden sei, speziell von ihm?

»O doch, selbstverständlich.«

Er schüttelte mißbilligend den Kopf, indem er mit der dicken, goldenen Uhrkette spielte, die ihm in großem Bogen über der schön gewölbten Weste hing. Mit mir sei wirklich schwer fertig zu werden, ich hätte mir durch mein Verhalten gegen Untersuchungsrichter, Staatsanwalt und Gefängnisvorstand viel geschadet. Das habe er mir auch schon öfters gesagt. Aber wer nicht hören wolle, müsse eben fühlen, und wer zuletzt lache, lache am besten. Und wie man sich bette, so liege man. Und so weiter.

Nachdem er dann noch in offiziellem Tone gefragt hatte, ob ich dem Herrn Gefängnisvorstand in meiner Angelegenheit nichts mitzuteilen hätte, was ich verneinte, ging er. Ich blieb einige Stunden allein. Einen letzten Spaziergang durfte ich noch machen im Hof, wo in einer Ecke die Steine lagen, auf denen das Schafott errichtet wurde. Wie oft war ich an diesen Steinen vorübergegangen, im Zweifel darüber, ob nicht auch mein Blut an dieser Stelle fließen werde. Jetzt stand also fest: ich würde nicht hingerichtet. Unerwartet war sie mir nicht gekommen, die Neuigkeit des Herrn Hausinspektors. Seit einigen Tagen war ich darauf vorbereitet. Sechs Wochen hatte sich das Staatsministerium Zeit genommen zur Entscheidung der Frage, ob das Urteil vollstreckt werden solle oder nicht. Einflußreiche Persönlichkeiten waren dafür, der Justizminister dagegen. Es lag immerhin nur ein Indizienbeweis vor, wenngleich ein Indizienbeweis von seltener Schlüssigkeit. Die Möglichkeit eines Irrtums war nicht ausgeschlossen, und der alte Herr wollte wohl die Verantwortung nicht übernehmen. Er hatte der Verhandlung beigewohnt, um sich selber ein Urteil bilden zu können. Einer seiner Räte, dessen Stimme sonst großes Gewicht hatte, hielt ihm vor, daß man im Falle einer Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus auch damit rechnen müsse, daß ich lebendig wieder herauskäme, und dann sei der Teufel los, ich würde das Wiederaufnahmeverfahren in einer solchen Weise betreiben, daß die letzten Dinge schlimmer würden als die ersten. Die ersten waren schon schlimm genug gewesen, der Prozeß hatte viel Staub aufgewirbelt und die Justiz nicht eben glänzend abgeschnitten. Das Argument dieses Realpolitikers schlug indes nicht durch; auch mochte man wohl denken, daß ich bei meiner schlechten Gesundheit die Härten des Strafvollzugs nicht lange ertragen würde. Nach der damaligen Praxis wäre eine nochmalige Begnadigung erst nach fünfundzwanzig Jahren in Frage gekommen. Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit; wer weiß, was bis dahin alles passieren kann.

»Gelle Se, 's war doch scheen von unserem Herr Großherzog, daß er Se begnadigt hat«, sagte mir der alte Aufseher, der mich einkleidete, beim Abschied. Was habe ich geantwortet? Ich weiß noch, wie treuherzig er mich dabei anschaute, der brave Mann, es war ihm Ernst; aber was ich geantwortet habe, weiß ich nicht mehr.

Dann kam die Abschiedsaudienz beim Gefängnisvorstand. Das war ein streberhaftes, kluges und sich für noch viel klüger haltendes Männchen, mit dem ich in offener Fehde lebte vom ersten Tage meiner Untersuchungshaft an. »Sie werden jetzt in die Strafanstalt verbracht,« begann er, »und Sie können froh sein, daß Sie den Kopf zwischen den Schultern behalten. Ich für meine Person wäre nicht für Ihre Begnadigung gewesen. Ihre Schuld ist ganz außer Frage. Ich bin so fest überzeugt davon, wie man nur sein kann. Ihr ganzes Verteidigungssystem war falsch. Jetzt sehen Sie, was Sie damit erreicht haben. Ein offenes Geständnis, rechtzeitig abgelegt, hätte Ihnen vieles erspart, und Sie wären heute besser dran. Das Zuchthaus werden Sie nicht überleben. Da machen Sie sich nur ja keine Hoffnung. Ein bis zwei Jahre, und Sie sind begraben und vergessen. Zum Überleben einer solchen Strafe gehören andere Nerven als Sie haben. Ihr durch Ausschweifungen zerrütteter Körper wird bald dahinsiechen. Falls Sie nun in letzter Stunde noch eine Erklärung abzugeben haben, so sprechen Sie. Ich habe Ihnen immer geraten zu einem reumütigen Geständnis und tue es auch jetzt wieder; dazu ist's ja bekanntlich nie zu spät.«

So saß er da vor mir hinter seinem grünen Tisch, der kleine Mann, die Hände in den Hosentaschen, mich mit Blicken musternd, die sehr schwer zu ertragen waren. Der Herr Oberamtsrichter. Er hat es zu was gebracht, ist heute ein großes Tier. Ohne die Revolution wäre er Justizminister geworden. Jetzt kann er die höchste Stufe der Leiter nicht erklimmen, was seinem Ehrgeiz gewiß schmerzlich ist.

Auch diese Bitterkeit ging vorüber. Ich wurde gefesselt und in den Wagen gesetzt, mir gegenüber zwei Kriminalbeamte, die sich in ihrer Art ganz anständig benahmen und mir später sogar eine Zigarre anboten. Der eine von ihnen versuchte ein Gespräch über den Prozeß in Gang zu bringen, um doch einen interessanten Bericht einreichen zu können, aber ich war einsilbig und hing meinen Gedanken nach.

Wir fuhren durch die stillen Straßen der Stadt, es war ein trüber Herbsttag, der Wind wirbelte die vergilbten Blätter bis in den Wagen hinein. Spielende Kinder liefen hinterher – mir fiel mein Kind ein, das von dem Schicksal seiner Eltern noch nichts ahnte, und dem man einst erzählen würde, daß sein Vater ein Mörder und seine Mutter eine Selbstmörderin gewesen sei.

Ich lehnte mich in die Ecke und schloß die Augen. Dem Mantel, den sie mir umgehängt hatten, entströmte ein feiner Duft, ein wohlbekannter Duft, der Erinnerungen wachrief an eine andere Fahrt – vor Jahresfrist. Was lag nicht alles zwischen diesen beiden Tagen. Sturz von den Höhen des Lebens in die untersten Tiefen. Qualen sonder Maß und Zahl – wie war es möglich, daß man sie überlebte? An einem sonnigen Oktobertag des letzten Jahres die Fahrt nach Trianon, der Gang durch den Park, das kleine Schloß, die Meierei am See, alles vom Zauber erschütternder historischer Geschehnisse umwittert, in wunderbare Stimmung getaucht. Wie man da den Glanz des Lebens empfand, den schillernden Glanz über dunklen Abgründen. Wie man Anteil nahm an fremdem Leid, ahnungslos vor unmittelbar drohendem eigenem Verhängnis. Auf der Heimfahrt hatte ich in diesen selben Mantel die geliebte Frau eingehüllt, denn gegen Abend war es kühl geworden; daher hatte er den Duft behalten, den Trèfle-Duft, der mir jetzt auf der voraussichtlich letzten Fahrt meines Lebens diese schmerzvollen Bilder weckte.

Der Wagen rasselte über das holperige Pflaster der kleinen Stadt, in der das Zuchthaus lag. Der eine der Beamten zeigte mir durch das Fenster einen hochgelegenen, mauerumgürteten Bau, über dessen Bestimmung kein Zweifel sein konnte. Es ging in einen Torweg hinein, nach Erledigung der Formalitäten öffnete sich das große Tor, der Wagen hielt vor einer Steintreppe. Gedankenlos, mit unnennbaren Gefühlen, schritt ich die Stufen empor, durch eine graue Eisentür, durch einen eiskalten Gang, wieder durch eine Tür, diesmal eine hölzerne, abermals in grauem Halblicht ein Gang, dann klirrte der Schlüssel, ich trat in die Aufnahmezelle. Die beiden Kriminalbeamten verhandelten mit dem Aufseher, der uns begleitet hatte, sagten Lebewohl und gingen.

»Der Herr Oberaufseher wird gleich kommen, er nimmt gerade ein Bad.« In der Tat, nach einer halben Stunde erschien er, um den Ankömmling zu begrüßen. Das heißt, begrüßen ist wohl zuviel gesagt, er musterte mich mit kalten, wenig Gutes verheißenden Augen, strich ein paarmal über den weißen Vollbart und verschwand wieder. Ein Mann von großer Macht im Hause, wie ich noch erfahren sollte, der Minister des Inneren, sozusagen. Neben ihm gab es noch einen Oberaufseher der Hauswirtschaft, Außenminister. Dieser letztere hatte auch die Bekleidungskammer unter sich, in der ich nunmehr eingekleidet wurde, eine widerwärtige Prozedur, die entsetzlich lange dauerte. Alsdann mußten endlose Fragen beantwortet werden, notwendige und verständliche Fragen, überflüssige und unverständliche Fragen, Fragen nach meinem Vorleben und Fragen nach dem Vorleben, ich weiß nicht wievieler Vorfahren, endlose Fragen, die alle genau beantwortet werden mußten. Ich war ganz betäubt von dem Kram.

Endlich war auch dies überstanden, ich nahm mein Bettzeug unter den Arm und folgte einem jungen Aufseher von sympathischem Äußern, der inzwischen herbeigerufen worden war, durch lange Gänge zu der mir bestimmten Zelle. Der junge Mensch trat mit herein, erklärte mir das Erforderliche und sprach einige Worte des Trostes und der Teilnahme, gutgemeinte Worte, die mir wohltaten. Dann blieb ich allein. Ich setzte mich auf die kleine Holzbank vor dem Eßtisch, legte den Kopf auf die Arme und versank in dumpfes Brüten.

Am Abend, als schon das Gaslicht angezündet war, kam der Oberaufseher, ein dickes Notizbuch unterm Arm, und erkundigte sich, ob ich mich schon einigermaßen eingelebt hätte. Ich sagte, dazu sei's noch etwas früh. Nun, meinte er mit einem Basiliskenblick, ich hätte ja Zeit genug, mich einzuleben. Übrigens empfehle er mir ein genaues Studium der Hausordnung, deren gewissenhafte Beobachtung mir manche Unannehmlichkeit ersparen würde. Für folgsame Gefangene sei alles viel leichter.

Gegen sieben Uhr gab es eine Brotsuppe, die gar nicht übel schmeckte, was mich eigentlich ein wenig wunderte. Wie, dachte ich, du bringst es fertig, unter solchen Umständen zu essen? Das ist doch wider alle Präzedenzfälle. Das ist geradezu unpassend. Du solltest dich schämen, was müßte da ein empfindsames Gemüt Anstoß nehmen. Aber das konnte nun nichts ändern an der Tatsache, daß meine erste Abendsuppe mir ganz gut mundete, und daß ich mehr davon gegessen hätte, wenn mehr dagewesen wäre. Ich werde wohl hungrig gewesen sein.

Punkt acht Uhr muß der Gefangene im Bett liegen, befiehlt die Hausordnung. Bestrebt, ein folgsamer Gefangener zu sein, stieg ich um acht Uhr ins Bett. Zum Glück befiehlt die Hausordnung nicht, daß der Gefangene, wenn er im Bett liegt, schlafen muß. Nachdem ich mich eine Zeitlang hin und her gewälzt hatte, ohne die Augen schließen zu können, verspürte ich plötzlich einen Stich. Darauf Jucken, Kratzen, noch mehr Jucken, Anschwellung. Während ich noch an der einen Stelle tätig war, zweiter Stich an einer anderen Stelle. Dritter Stich, vierter Stich, fünfter Stich – Stiche unzählbar. Durch das Fenster kam etwas Licht herein von einer Gaslampe, die im Hofe brannte, gerade Licht genug, um die Invasion einer Armee von Wanzen beobachten zu können, die von allen Seiten gegen mein Lager vorrückten. An Widerstand war nicht zu denken, ich trat einen fluchtartigen Rückzug an, schob den Arbeitstisch von der Wand weg, stellte den Schemel darauf und nahm da oben Platz, eingewickelt in eine sorgsam ausgeschüttelte Decke. An die Hausordnung dachte ich nicht mehr.

Geraume Zeit verging, bis der Generalstab der Invasionsarmee meine Rückzugslinie festgestellt hatte. Dann erfolgte der zweite Sturm. Ich ergab mich auf Gnade und Ungnade.

Wie ich nun so auf meinem Schemel sitze, ein bedauernswertes Opfer blutdürstiger Feinde, fängt mir zuletzt der Geduldsfaden an zu reißen. So vieles hatte ich nun schon erduldet, diese Wanzen brachten den Leidenskelch zum Überlaufen. Es wurde nachgerade zuviel.

»Schluß gemacht,« schrie eine Stimme in mir, »das ist ja nicht zum Aushalten. Schluß gemacht!«

»Unsinn,« beschwichtigte eine andere Stimme, »wer wird wegen ein paar Wanzen gleich an Selbstmord denken?«

»Wegen ein paar Wanzen? Erstens sind es ihrer mindestens hunderttausend. Und zweitens sind die Wanzen Nebensache. Jeder Mensch hat ein gewisses Maß von Widerstandskraft, und wenn das erschöpft ist, soll er Schluß machen.«

»Meins ist noch nicht erschöpft.«

»Das wäre merkwürdig. Überleg' dir doch mal gefälligst, was du schon alles ertragen hast. Die Verhaftung in London. Die ungeheuerliche Anschuldigung, die doch fast ohne Prüfung bei aller Welt Glauben fand ...«

»Nicht bei allen. Einige haben zu mir gehalten. Gerade die, an deren Urteil mir am meisten lag. Die anderen sind nicht zu schelten, denn die Indizien waren erdrückend.«

»Schweig mir still von den erdrückenden Indizien. Eine Phrase für Untersuchungsrichter und Staatsanwalt. Wer mich nach jahrelanger Bekanntschaft einer solchen Tat für fähig halten konnte, hat mir einen Schlag ins Gesicht versetzt. Die Wenigen, die gesagt haben: undenkbar, daß er das getan hat – wer waren sie? Etwa die mir am nächsten Stehenden?«

»Diese Bitterkeit ist überwunden.«

»So etwas vergißt man nie. Dann die qualvolle Wartezeit in London. Die lange Untersuchungshaft, die Verhandlung. Die Verurteilung. Und jetzt? Worauf willst du warten?«

»Ich will warten und werde warten auf den Tag der Rehabilitation.«

»Bah, Rehabilitation. Erstens kommt er nie, der Tag. Und zweitens, wenn er käme – wie wenig hättest du davon. Macht er Geschehenes ungeschehen? Kein Gott kann Genugtuung geben für das erlittene Unrecht, für die erduldete Schmach. Würdest du so alt wie Methusalem, und wäre jede noch übrige Stunde dieses langen Lebens bis zum Rande gefüllt mit Glück – nie, nie könntest du vergessen das Leid dieses einen Jahres. Rehabilitation ist etwas für Philister. Daß sich ein paar Richter hinsetzen und mit feierlicher Miene verkünden, das frühere Urteil sei aufgehoben, das soll eine Genugtuung sein für die tausend Qualen, die du ausgestanden hast? Blödsinn. Aber nicht einmal zu einer solchen Farce von Genugtuung wird es jemals kommen. Das weißt du ganz gut. Also laß ab von diesem Wahn und sieh den Tatsachen ins Auge. Die Tatsachen sind: lebenslängliches Zuchthaus und eine schwache Gesundheit. Danach ist leicht vorauszusehen, was kommen wird. Eine Zeitlang wirst du dich noch aufrechterhalten, solange du noch Hoffnung hast. Eine nach der anderen dieser Hoffnungen wird zerrinnen. Ist keine mehr übrig, dann sinkt dir der Mut. Dein Geist flüchtet aus der unerträglichen Wirklichkeit in die Nacht des Wahnsinns. Ist nicht einem derartigen Ende vorzuziehen der freiwillige Schritt in den Tod bei vollem Bewußtsein und im ungeschmälerten Besitz aller Geisteskräfte? Aber vielleicht fürchtest du, der Selbstmord könnte dir ausgelegt werden als ein Geständnis der Schuld.«

»Nein, das würde ich nicht fürchten. Wäre ich einmal so weit, dann könnte dieser Gedanke mich nicht zurückhalten. Aber ich bin noch lange nicht so weit. Es sind noch Reserven da.«

»Da wäre ich neugierig, die kennen zu lernen. Daß es für einen gebildeten Menschen nicht möglich ist, längere Zeit unter Zuchthäuslern zu leben, darüber kann doch kein Zweifel sein. Oder bildest du dir ein, zur Regel die Ausnahme liefern zu können?«

»Wollen sehn. Ich bin auch im Zuchthaus unter Menschen. Menschen zu studieren ist stets meine Leidenschaft gewesen. Ich denke, es soll mir hier an Gelegenheit nicht fehlen.«

»Ich wünsche Glück zum Studium. Es wird damit enden, daß dir der Ekel zum Halse heraussteigt. Draußen laufen die Menschen maskiert umher, hier im Hause wirst du sie demaskiert kennen lernen. Was ein großer Genuß sein muß.«

»Genug des Streits. Ich will leben. Im tiefsten Innern hege ich die Hoffnung – nein, es ist mehr als Hoffnung, es ist fast Gewißheit –, daß einst ein neuer Tag für mich anbrechen wird, wenn auch vielleicht erst nach langer Nacht. An dem Drama meines Lebens fehlen noch einige Akte. Jetzt beginnt der Akt: Im Zuchthaus. Spielen wir ihn gut. Danach werden andere Akte kommen. Wenn das Drama zu Ende ist, wird das Schicksal schon selber den Vorhang herunterfallen lassen.«

In tiefer Ruhe lag das Haus. Von Zeit zu Zeit wurde draußen der gleichmäßige Schritt der Wache hörbar, die auf der Mauer die Runde ging. Im Gang vor der Zelle Schlürfen und Klappern von Filzschuhen. Jede Viertelstunde Glockenschlag vom Turm. Der Wind klagte, Regentropfen klatschten ans Fenster. Das Licht, das die Hoflampe hereinsandte, zeichnete oben an der Zellenwand ein Bild des Gitters: kleine Vierecke, die bald schneller, bald langsamer hin und her schwankten, wie der Wind die Lampe in Bewegung setzte. Ich zählte die Vierecke, es waren zwanzig; ob das wohl zwanzig Jahre bedeuten sollte?


 << zurück weiter >>