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Carl Hau war fünfundzwanzig Jahre alt, als er, wegen Mordes zum Tode verurteilt und zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, in die Männerstrafanstalt zu Bruchsal eingeliefert wurde. Aller menschlichen Voraussicht nach schien dieses Leben abgeschlossen, als graues Nummerdasein hinter undurchdringlichen Mauern begraben. Wie sollte zudem der schwächliche, verwöhnte, von früherer schwerer Krankheit angegriffene Körper des jungen Intellektuellen ein Leben ertragen, das in wenigen Jahren selbst Athletenkräfte zu zermürben pflegte? Wo doch auch die stärkste, ethische Antriebskraft zum Widerstande, die Hoffnung auf Befreiung, völlig fehlte! Denn als Carl Hau ins Zuchthaus kam, herrschte in Deutschland tiefer Frieden; Krieg und Revolution hatten in die harte Mauer des Strafvollzuges, durch die sich die Gesellschaft gegen das Verbrechen schützt, noch keine Bresche geschlagen. Lebenslängliches Zuchthaus hieß Tod im Kerker, wenn nicht ein Wunder geschah. Carl Hau aber glaubte nicht einmal an Wunder.
Siebzehn Jahre später öffneten sich diesem Manne die Tore des Zuchthauses. Und es ist, als ob wirklich ein Wunder geschehen wäre. Hier wankte nicht ein zermürbtes, zerbrochenes Menschengeschöpf, ein Schatten seiner selbst, ans Licht der ersehnten Freiheit. Hier hatte der geistige und moralische Zerstörungsprozeß, dem sonst so leicht der Gebildete in jahrelangem Umgang mit dem tief unter ihm stehenden, primitiven Urtrieben gehorchenden Verbrechertum verfällt, völlig versagt. Ein gereifter Mann, auf der Höhe umfassender Bildung und reich vermehrter Erkenntnis, erfüllt von einer freien und gütigen Anschauung des Lebens und der menschlichen Dinge, tritt wie einer, der von einer langen Reise in unbekannte Länder zurückgekehrt ist, in ein neues Leben ein.
Damals lernte ich Carl Hau kennen, im Hause seiner Mutter im Moselstädtchen Berncastel, das ihm erstes Asyl in jener neuen Welt war, die sich zum Nichtwiedererkennen verändert hatte. Man glaube nicht, daß sich dieser Mann mit aufgeschlossenem Herzen in den Strom des Lebens stürzte, der ihn plötzlich brausend umgab. Dazu fühlte er sich noch nicht stark genug. Tastend, vorsichtig prüfend, näherte er sich den Menschen und den Dingen. In selbstgesuchter Einsamkeit des alten Elternhauses und der weiten Wälder der Moselberge hatte er immer wieder das Bedürfnis, sich über sein Erleben Rechenschaft zu geben, die im mühseligen Denkprozeß in der Zelle gewonnenen Erkenntnisse der Wirklichkeit anzupassen, wie sie ihm in der ungewohnten Freiheit entgegentrat. Er sprach nicht viel, aber er hörte dafür mit einer leidenschaftlichen Hingabe den Anderen zu. Er lernte, er ging in die Schule der Freiheit, wie ihm siebzehn Jahre lang das Zuchthaus Schule des Lebens gewesen war.
Man möchte den deutschen Zuchthäusern ein Loblied singen, wüßte man nicht, daß die Quellen der Kraftströme für einen solchen seltenen Gesundungsprozeß im Zuchthaus in den seelischen Tiefen des Menschen selbst liegen. Zwölf volle Jahre hat Carl Hau in Einzelhaft verbracht. Die Erfahrung lehrt, daß nur sehr wenige Menschen die jahrelange Last der Einsamkeit ohne schweren Schaden ertragen können. Hier führte das Alleinsein zu philosophischer Vertiefung, und es ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen, daß es gerade der kristallklare Aufbau der Gedankenwelt eines Spinoza war, der diesen Einsamen am mächtigsten anzog, und daß nicht etwa, wie bei so vielen Menschen mit schwerem Schicksal, pessimistisches Denken oder ein unklarer Mystizismus Gewalt über ihn gewann. Die Entfernung von den Menschen führt ihn vielmehr zu seinem eigenen Menschentum zurück. Aus einem Phantasten wird ein systematisch denkender, klarsichtiger Mann. Was ihm die rein mechanische Zuchthausarbeit an Zeit übrigläßt, verwendet dieser Sträfling mit unbeirrbarem Willen zum Aufbau einer ausgeglichenen Lebens- und Weltanschauung. Er vervollkommnet noch seine Kenntnis fremder Sprachen und übersetzt Iherings berühmtes Buch »Geist des römischen Rechts« ins Englische. So baut er sich, entfernt vom Umgang mit Menschen, auf den er verzichtet, ohne ihn gerade zu scheuen, ein neues, nur auf den eigenen Geist gestelltes Leben auf, ein Selfmademan, dessen Werdegang wohl kaum ein Beispiel hat.
Zwölf Jahre währt für Hau die Einsamkeit der Zelle als Schule des Lebens, dann tritt er in den Kreis der Menschen, die ihm das Schicksal in dem »Hause des Schweigens« zu Gefährten gegeben hat. Jetzt erst lernt er ganz das Zuchthaus und seine Bewohner kennen, erschließen sich ihm alle Geheimnisse der Wissenschaft des Strafvollzugs, dessen Gegenstand und Opfer er selbst ist. Viele vor ihm haben durch kürzeren und längeren Besuch der Zuchthäuser, als Beamte, Seelsorger oder Literaten Erfahrungen über das Leben und die Menschen in dieser eigenartigen kleinen Welt gesammelt und in gelehrten Büchern und interessanten Schriften mitgeteilt. Nicht daß es diesen Beobachtern und Erforschern der Verbrecherpsyche immer an offenem Blick, an Unbefangenheit und auch an reformatorischem Eifer gefehlt hätte. Aber wohl ganz selten mag es sich gefügt haben, daß es einem von ihnen ganz gelungen ist, den Wall von Mißtrauen zu zertrümmern, mit dem sich der Zuchthäusler gegen jede Erforschung seines wahren Wesens umgibt. Zumal in dem intellektuell Höherstehenden sieht er gewöhnlich von vornherein einen Feind im Kampfe um sein elendes Dasein, er versteht ihn nicht und setzt von ihm kein Verständnis voraus. Es ist fast selbstverständlich, daß er gegen ihn die einzig ihm gebliebenen Waffen der Lüge und Heuchelei anwendet und ihn dadurch nie bis zum Kern seines Wesens vordringen läßt. Nur dem Schicksalsgenossen, und diesem nur, wenn er seine Zuverlässigkeit im Begreifen und im Schweigen erprobt hat, wird er sich ganz eröffnen, sein wahres Wesen unverhüllt zu erkennen geben.
Es sind ja gewiß wenig Schätze des Gemüts und des Charakters, die im Zuchthause gehoben werden können. Trotzdem ist es ungeheuer lehrreich, die Wahrheit über diese Menschen zu erfahren, die sich als Außenseiter der Gesellschaft über deren sittliche Forderungen hinwegsetzen und so zur Gefahr für die staatliche Organisation werden. Immer bleiben sie doch Menschen und bewahren damit den Anspruch, dem menschlichen Verständnis nähergebracht und selbst in der Verworfenheit ihres Trieblebens, der Verderbtheit ihres Charakters, als Menschen begriffen und behandelt zu werden. Um sie aber begreifen zu lernen, um ermessen zu können, wie sie geworden sind, und was an unverlierbarem Menschentum ihnen geblieben ist, muß man die Welt des Zuchthauses, in der sie leben, frei von allen verhüllenden Schleiern kennengelernt haben. Und das ist vielleicht nur möglich, wenn einer ganz und gar das Schicksal dieser Menschen geteilt, als Gleicher unter Gleichen mit ihnen gelebt hat und von ihnen selbst als vollwichtiger Klassengenosse angesehen worden ist.
Der »Lebenslängliche« Carl Hau, der »Herr Doktor«, wie er von den Zuchthäuslern meist genannt wurde, in denen, wie in allen Primitiven, immer noch ein dunkler Respekt vor dem geistig Höherstehenden lebt, konnte dieses Vertrauen seiner Schicksalsgenossen erwerben, wenn sie auch sonst in ihrem Denken eine Welt von ihm schied. Aber sie fühlten wahrscheinlich, daß da ein Mann unter ihnen lebte, der sich ehrliche Mühe gab, sie zu verstehen.
Hau wiederum trieb dieses Studium der Menschen des Zuchthauses mit demselben Eifer und demselben Trieb nach unbestechlicher Erkenntnis, mit dem er vordem Jahre hindurch das Studium der Philosophie getrieben hatte. Mit offenen Augen ging der »Straßenwart« des Zuchthauses, der mit Besen und Schaufel die Höfe und Wege der Strafanstalt zu säubern hatte, durch diesen Kehricht der Gesellschaft, um das Menschliche in ihm zu suchen. Der ehedem so Weitgereiste, der vieles gesehen und verstehen gelernt hatte, der Jurist, dessen kritischer Geist geübt war, Recht vom Unrecht zu scheiden, und der Sträfling, der nun schon so viele Jahre gelernt haben mußte, als Objekt der unerbittlichen Strafgewalt alle Illusionen zu verlieren – sie alle vereinigten sich in Hau zur wachsenden Erkenntnis, besser gesagt zur Durchschauung der Einrichtungen, die wir den Strafvollzug nennen. Sie zu bessern, ihnen zur Erfüllung ihres wahren Zweckes zu verhelfen, scheint ihm von nun an die kostbarste Mission. Im Zuchthäusler den Menschen zu suchen, in ihm den Glauben an Menschlichkeit nicht zu zerstören, sondern neu aufzurichten, was an sittlichen Werten ihm geblieben ist, zu erhalten und zu mehren, das scheint ihm die große Aufgabe des Strafvollzugs, der in mechanischer Übung individualitätsloser Beamtentradition zu erstarren droht.
Hau will nicht die Zahl der dicken gelehrten Bücher über den Strafvollzug vermehren, denn er hält diese Frage nicht für eine Angelegenheit der Juristen und Gesetzgeber allein, sondern für ein Problem, das die Allgemeinheit angeht. Wie man an der Kriminalität die Kulturhöhe eines Volkes mißt, so soll man sie auch an dem Hochstande seines Strafvollzugs erkennen. Darum greift er, jedem verständlich, ohne alles Theoretisieren, mitten hinein in das Leben des Zuchthauses, stellt die Menschen hin, wie sie sind, mit all den Lastern, die sie besitzen und dort erwerben, aber auch mit all den lichteren Augenblicken, in denen das Menschentum in der Verbrecherseele aufleuchtet. Tragische Schicksale rollen ab, zahllos ist die Menge der Verbrechertypen, in wenigen scharfen Zügen mit dem unfehlbaren Griffel der Wahrheit gezeichnet. Ein Menschenkenner und unbestechlicher Beobachter ist am Werke, keiner, der, von dem Gegenstand seiner Darstellung fortgerissen, über das selbstgesteckte Ziel hinausgeht, sondern einer, der immer über der Sache steht, der er dient. Aus dem anscheinend so grauen Einerlei des Lebens in der Einzelzelle, in den Arbeitsräumen, in der Küche, im Zuchthaushofe, ersteht aber doch in der einfachen Erzählung ein farbiges Mosaik des Zuchthaus-Daseins, in dem nicht nur die Verbrecher, sondern auch die übrigen Bewohner des Hauses, die Beamten, Aufseher, Geistlichen und Lehrer lebendig geschildert sind. Ganz ungezwungen decken sich in diesen Erzählungen die Schäden des Strafvollzugs von selbst auf, die Korruptionen hundertfacher Art, die durch die stärksten Mauern Eingang finden, die Kameraderien zwischen Aufsehern und Sträflingen, die falschen Behandlungsmethoden der Beamten usw.
Das Buch Carl Haus geht von seinem eigenen persönlichen Erleben im Zuchthaus aus. Es beginnt mit seiner Einlieferung und schließt mit dem Augenblick, da er nach siebzehn Jahren aus der eisernen Pforte wieder hinaustritt in das Leben der Freiheit. Über sein Schicksal, das ihn in das »Haus des Todes« geführt hat, spricht er in diesem Buche nicht, das nur seinen Erlebnissen im Kerker und den besonderen Zwecken gewidmet ist, denen es zum Nutzen der deutschen Rechtspflege dienen soll. Doch meldet er darin schon seinen Anspruch an, daß der »Fall Hau«, der vor nun beinahe zwei Jahrzehnten die Welt in Atem gehalten hat, seinem Aktengrabe entrissen wird. Hau hat niemals aufgehört, seine Schuldlosigkeit zu beteuern, und auch in diesem Buche kündigt er seinen Willen an, den Kampf um seine Rehabilitierung wieder aufzunehmen.
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Damit taucht auch wieder die Erinnerung an jenen merkwürdigen Gerichtsfall auf, der im Juni 1907 vor den Geschworenen in Karlsruhe verhandelt wurde. Angeklagt war Carl Hau, Rechtsanwalt beim Obersten Bundesgericht in Washington und Dozent des römischen Rechtes an der George-Washington-Universität, seine Schwiegermutter, die verwitwete Frau Medizinalrat Molitor, am 6. November 1906 auf der Kurpromenade in Baden-Baden erschossen zu haben. Hau, der Sohn des Direktors einer Bank in Bernkastel, hatte fünf Jahre zuvor, als neunzehnjähriger Student, in Ajaccio auf Corsica, wo er sich wegen eines Lungenleidens aufhielt, Frau Molitor und deren beide Töchter Lina und Olga kennengelernt. Zwischen ihm und der älteren Tochter Lina entwickelte sich ein leidenschaftliches Liebesverhältnis, und das junge Paar entfloh, da die Eltern ihre Einwilligung zu einer Heirat nicht geben wollten, nach der Schweiz. Nach dem mißglückten Versuche eines Doppelselbstmordes der Liebenden gaben die Eltern ihren Widerstand auf, und Hau und Lina heirateten. Sie übersiedelten nach Washington, wo Hau seine juristischen Studien beendete und wegen seiner Kenntnisse, namentlich auf dem Gebiete des internationalen Rechts, als Anwalt beim Bundesgericht zugelassen wurde. Auch habilitierte er sich als Lehrer des römischen Rechts an der Universität der amerikanischen Bundeshauptstadt und fand als Sekretär des türkischen Generalkonsuls Eingang in die diplomatischen und großkapitalistischen Kreise Amerikas. Im Auftrage amerikanischer Industrieller reiste er wiederholt nach der Türkei, um dort geschäftliche Beziehungen anzuknüpfen, was ihm jedoch nicht gelang. Er büßte vielmehr dabei einen großen Teil seines Vermögens ein.
Im Oktober 1906 reiste er von Konstantinopel nach Baden-Baden, um dort seine Frau und sein Töchterchen, die zum Besuch in Europa weilten, abzuholen. Ihm und seiner Familie schloß sich hier die Schwägerin Olga Molitor an, um an einem Ausfluge nach Paris teilzunehmen. Von Paris erhielt die Mutter der beiden jungen Damen, Frau Molitor, in Baden-Baden ein mit »Lina« gezeichnetes Telegramm, in dem sie aufgefordert wurde, sofort nach Paris zu kommen, da Olga schwer erkrankt sei. Dieses Telegramm war gefälscht, denn als Frau Molitor nach Paris kam, war Olga gesund, und Lina wußte nichts von einem Telegramm. Frau Molitor kehrte mit Olga nach Baden-Baden zurück, während Hau bald darauf mit Frau und Kind nach London fuhr, um von dort die Überfahrt nach Amerika anzutreten.
Am späten Nachmittag des 6. November wurde Frau Molitor in ihrer Wohnung angerufen und ihr von einem Manne, der sich als Postinspektor bezeichnete, mitgeteilt, daß das Original des gefälschten Pariser Telegramms eingetroffen sei und sie gebeten werde, sofort aufs Postamt zu kommen. Frau Molitor, die erst am nächsten Tage hingehen wollte, wurde dringend ersucht, doch sofort zu kommen, da die Angelegenheit keinen Aufschub leide. Sie machte sich auf den Weg, nachdem sie ihre Tochter Olga aus einer benachbarten Villa abgeholt hatte. Auf der ziemlich dunklen Promenade ertönte plötzlich im Rücken der beiden Frauen ein Schuß, und Frau Molitor sank, ins Herz getroffen, tot zusammen. Olga Molitor konnte nur angeben, daß ein Mann in einem langen Mantel, der den beiden Frauen schon seit längerer Zeit gefolgt wäre, nach dem Schuß in großer Eile in der Richtung des Bahnhofs fortgelaufen sei.
Der Verdacht der Täterschaft richtete sich bald gegen Carl Hau, den Schwiegersohn der Ermordeten. Nachfragen bei der Post ergaben, daß kein Postbeamter Frau Molitor angerufen habe und keinerlei Telegramm aus Paris gekommen sei. Es mußte also eine mit den Familienverhältnissen im Hause Molitor vertraute Person die alte Dame vom Hause fortgelockt haben. Ein Dienstmädchen wollte überdies die Stimme Dr. Haus am Fernsprecher erkannt haben. Es ergab sich mit Zuverlässigkeit, daß Hau am kritischen und dem vorhergehenden Tage in Baden-Baden und Frankfurt am Main wiederholt gesehen worden sei. In der letzteren Stadt hatte er sich bei einem Friseur einen falschen Bart anfertigen lassen. In diesem falschen, schlecht sitzenden Bart war er auch in Baden-Baden gesehen worden. In London wurde erkundet, daß Hau sich tatsächlich zur Zeit des Mordes auf dem Kontinent befunden habe. Seiner Frau hatte er eine dringende Geschäftsreise nach Berlin vorgetäuscht und ihr erst kurz vor seiner Rückkehr mitgeteilt, daß er nicht in Berlin, sondern in Frankfurt am Main gewesen sei. Auf diese schweren Verdachtsgründe hin erfolgte seine Verhaftung in London und seine Auslieferung an die deutschen Gerichte.
Während der Untersuchung, in der Hau nie aufhörte, seine Schuldlosigkeit zu beteuern, empfing er den Besuch seiner Frau, die bald darauf Selbstmord beging, indem sie sich im Pfäffikoner See ertränkte, da sie es, wie sie schrieb, nicht überleben könnte, daß die Verhältnisse ihrer Familie im Gerichtssaal besprochen würden. In der Verhandlung vor dem Schwurgericht verweigerte Hau anfänglich jede Aussage über seinen Aufenthalt in Baden-Baden und Frankfurt am Main und über die Erörterung seiner Familienverhältnisse. Später gestand er zu, Frau Molitor durch das Telephongespräch vom Postamt aus dem Hause gelockt zu haben. Auch das Pariser Telegramm habe er abgeschickt, um Olga Molitor im Interesse seines häuslichen Friedens aus Paris zu entfernen, da es zwischen ihm und seiner Frau zu Eifersuchtsszenen gekommen sei. Nach Baden-Baden sei er einzig zu dem Zwecke gekommen, um eine Aussprache mit seiner Schwägerin Olga herbeizuführen. Als er jedoch sah, daß er überall erkannt worden war, und daß sich diese Aussprache nicht ermöglichen ließ, habe er seine Absicht aufgegeben und sei nach London zurückgekehrt. Einen Schuß habe er nicht gehört, wer der Mörder sei, wisse er nicht.
In den Aussagen der Zeugen, die zur kritischen Zeit in der Nähe des Tatortes geweilt hatten, ergaben sich mehrfache Widersprüche. So behauptete eine Zeugin, Frau von Reitzenstein, daß der Mann, der den Frauen auf der Promenade gefolgt sei, viel kleiner gewesen sei als der hochgewachsene Hau. Auch über den Zeitpunkt der Tat, der deshalb von größter Wichtigkeit war, weil es fraglich blieb, ob der Mörder nach dem Schusse noch Zeit gehabt haben konnte, rechtzeitig den Bahnhof und damit den Zug nach Frankfurt am Main zu erreichen, war eine volle Aufklärung nicht möglich. Auch hier gingen die Zeugenaussagen mehrfach auseinander.
Die öffentliche Meinung bemächtigte sich des merkwürdigen Gerichtsfalles mit einer in Deutschland ungewohnten Leidenschaft, und es kam im Verlaufe des Prozesses und zuletzt nach der Urteilsverkündigung zu großen Demonstrationen, die sogar das Eingreifen von Militär notwendig machten. Die Geschworenen sprachen Hau auf Grund des Indizienbeweises schuldig und verurteilten ihn damit zum Tode. Ein späterer Versuch Haus, der inzwischen zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt worden war, eine Wiederaufnahme seines Verfahrens zu erreichen, ist vergeblich geblieben.
Berlin, im August 1925.