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»Das jüngste Deutschland« – dieser Name hat sich in den letzten Jahren einigermaßen eingebürgert als zusammenfassende Bezeichnung für die litterarische Bewegung, die etwa im Anfange der achtziger Jahre mit dem ersten Auftreten einer neuen Generation begann und bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine stürmische und sehr wechselvolle Entwickelung durchgemacht hat. Als ich daran ging, diese Bewegung zu schildern, nahm ich mir daher vor allem den Gedanken zur Richtschnur, daß ich eine wirklich geschichtliche Darstellung geben wollte.
Es ist ja leider heute noch ein weit verbreiteter Irrtum, daß die Geschichte der Litteratur eines Zeitraums dadurch könne zur Darstellung gebracht werden, daß man die Vertreter derselben in Einzelschilderungen aneinander reiht und damit gewissermaßen eine Sammlung von kleinen Biographien bietet. Geradezu unerträglich aber wird der Mißbrauch des Wortes »Litteraturgeschichte« für ein solches Buch, wenn es in dem Streben nach Kürze einfach zu der Form eines Schriftstellerverzeichnisses herabsinkt und sich dann obendrein von einem kurzen Lexikon noch dadurch höchst unvorteilhaft unterscheidet, daß es – an Stelle der dort üblichen rein sachlichen Angaben – kurze, gänzlich unbewiesene und für den Leser meist völlig unkontrollierbare Urteile in Form von meist absichtlich recht »knorrigen«, d. h. plumpen Schlagworten giebt. – Welcher Historiker würde wohl einen Abschnitt der Kriegsgeschichte so darstellen, daß er die Biographien der einzelnen Heerführer, Offiziere und Gefolgschaften lose aneinanderreihte, anstatt von Schlacht zu Schlacht fortschreitend, die zusammenwirkende Thätigkeit der gesamten Mannschaften zur lebendigen Anschauung zu bringen.
Dieser Vergleich liegt um so näher für den Abschnitt, den meine Darstellung sich ausgewählt hat, da in diesem Zeitraum die jungen Schriftsteller sich mehr wie jemals gegenseitig so stark beeinflußten, daß oft der plötzliche Wechsel in dem Schaffensgang eines Jüngeren oder Aelteren überhaupt nur aus den herrschenden Strömungen und Richtungen heraus zu verstehen ist. Ja, die Geschichte der »jüngstdeutschen« Litteratur stellt sich, wenn man ihr auf den Grund geht, geradezu dar VI als eine Geschichte beständiger Gruppenbildungen, die in immer neu begründeten Vereinen und Zeitschriften sich immer neue Kampfesorgane zu schaffen suchen.
Sollte also eine einheitliche Darstellung gegeben werden, so war es geboten, alle diese Vorgänge zum Leitfaden zu nehmen und diese sogenannte »litterarische Revolution«, wie sie von den Vertretern der neuen Bewegung selbst früh genannt wurde, zu verfolgen: wie sie in zwei geistigen Hauptstädten Deutschlands – in Berlin und in München – aus den sozialen und litterarischen Verhältnissen naturgemäß hervorwuchs; wie sie anfangs natürlich völlig unpolitisch war, nur in ästhetischer Hinsieht gegen das Alte sich auflehnte und nur in einer Sehnsucht der aufstrebenden Jugend nach neuem Großen bestand; wie sie allmählich durch ihre Führer in die Bahn eines festen ästhetischen Programms geleitet wurde; wie sie aus ihrer extremen Höhe vorübergehend auch mit politisch-revolutionären, sozialistischen und anarchistischen Tendenzen verschmolz; wie dabei Klang und Formschönheit zeitweise geächtet wurden und die Prosa des Alltagslebens den einzigen Inhalt der Kunst bilden sollte; wie dann die Nervosität des Zeitalters den Naturalismus in symbolistische Bahnen lenkte, und wie schließlich auch diese ästhetische Revolution, gleich so mancher politischen, mit einer »Reaktion«, d. h. hier mit einer sehnsuchtsvollen Rückkehr zu Klang und Schönheit – wohl nicht ihr Ende erreichte, jedenfalls aber eine entscheidende Wendung nahm. Innerhalb dieses Kreislaufes der wechselnd herrschenden Strömungen sollte nun die Entwickelung der einzelnen Schriftsteller, ihre jeweilige Machtstellung, ihre Gefolgschaft und ihr Verdrängtwerden durch neu Emporkommende gezeigt werden. Doch muß dabei unvergessen bleiben, daß die ganze Darstellung den Anhängern der jüngstdeutschen Bewegung gewidmet ist, während die älteren Richtungen, von denen sie ausging und zu denen sie teilweise zurückkehrte, in ihren Vertretern naturgemäß berührt werden mußten, jedoch absichtlich nur skizzenhaft im Hintergrunde gehalten worden sind. Ja diese älteren Schriftsteller sind auch da nur gestreift worden, wo ihr Eingreifen die jüngste Strömung beleuchtet oder ihre Beeinflussung durch diese gezeigt wird.
Bei den jüngstdeutschen Autoren aber habe ich mich bemüht, neben der Charakteristik jeder dichterischen Eigenart auch durch ein näheres Eingehen auf die jeweiligen Hauptwerke, ja durch kürzere und längere Entwickelungen auch des Inhalts zahlreicher Romane und Dramen dem Leser, statt eines bloßen Urteils, vielmehr einen lebendigen Begriff von der geistigen Thätigkeit der Besprochenen zu geben. Unterstützt wird diese angestrebte Anschaulichkeit wohl wesentlich durch eingefügte Dichtungsproben, von denen namentlich bei den Lyrikern ein sehr ausgedehnter Gebrauch gemacht worden ist. Doch auch manche charakteristische erzählende oder dramatische Werke wurden durch kurze Stichproben belegt.
Alles dies dürfte wohl als Beweis dafür gelten können, daß ich ehrlich danach gestrebt habe, sachlich zu sein und auch da, wo eine Poetennatur meinen Beifall nicht findet, meine Meinung wenigstens zu begründen. Doch liegt nach meiner Ansicht das Schwergewicht nicht auf der Prägung solcher Urteile. Ich glaube vielmehr, daß vor allem der Versuch, die jüngstdeutsche Bewegung auf weiterer VII kultur- und zeitgeschichtlicher Grundlage in einer geschlossenen einheitlichen Geschichtsdarstellung zusammenzufassen, nicht nur dem weiteren Kreise der Leser willkommen sein wird, sondern auch den Fachgenossen zum mindesten als eine nützliche Vorarbeit erscheinen möge. Als eine Vorarbeit insofern, als dem Mitlebenden ja nicht alle geheimen Regungen seiner Zeitgenossen so verständlich werden können wie dem späteren Forscher, der aus der geschichtlichen Ferne einen Zeitraum wie von hoher Warte überblickt. Dafür aber genießt der Mitlebende freilich den Vorteil, aus eigener Erfahrung manches noch nirgends Aufgezeichnete, manches nur von ihm Erschaute, zur Belebung seiner Schilderung beisteuern zu können. Um aber dieses Vorteils nicht verlustig zu gehen, mußte ich naturgemäß stellenweise in den Ton des Memoirenschreibers hinübergleiten; und wenn ich bei solcher Gelegenheit durch den Gang meiner Erzählung auch zu meinen eigenen dichterischen Arbeiten geführt wurde, so habe ich derselben gleichfalls nur im Tone des Autobiographen gedacht. Im Uebrigen aber habe ich ein weitläufiges, zerstreutes und zum großen Teil sehr schwer zugängliches Quellmaterial benutzt und mich bemüht, daraus ein einheitliches Ganzes zu gestalten. Um aber auch dem Nachschlagenden die Möglichkeit zu geben, sich über den Entwickelungsgang eines einzelnen Schriftstellers schnell und möglichst erschöpfend zu unterrichten, wurde eine besondere Sorgfalt der Ausarbeitung des Registers zugewendet.
Endlich wurde mein Streben nach einer möglichst lebensvollen Darstellung von der Verlagsbuchhandlung in anerkennenswerter Weise unterstützt durch die Aufnahme von mehr als hundert Bildnissen zeitgenössischer Schriftsteller und Bühnenkünstler. Daß es uns nicht immer leicht wurde, die Vorlagen zu erhalten, wird man uns gern glauben. Indem ich daher an dieser Stelle all denen meinen Dank sage, die mich durch gütige Mitteilung von Bildern oder anderem Material freundlich unterstützt haben, bemerke ich gleichzeitig, daß man nicht gleich dem Verfasser und dem Verleger schuld geben wolle, wenn das eine oder das andere Bild unter der großen Zahl der vorhandenen noch vermißt werden sollte.
Bad Freienwalde a. O., September 1900.
Dr. Adalbert von Hanstein.