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»Es ist eine grenzenlose Not in den unteren Klassen, wovon ich keinen Begriff gehabt. Wenn ich zufällig solchen Jammer sehe, so danke ich Gott, daß ich noch eine Brotrinde zu verzehren habe. . . . Ich habe soeben einen Sekretär bei mir, der mir abschreibt. . . . Das könnte ich zwar auch selbst bewirkt haben. Aber es ist ein Almosen. Es ist ein unglücklicher Kaufmann, dem ich einen Thaler zu verdienen gebe. Wenn man das Elend so bodenlos um sich sieht – nicht bloß bei Bettlern und im Arbeiterstande, da war es von jeher zu Hause – wenn man die halb wahnsinnigen Hilferufe aus den gebildeten Kreisen liest und hört, da kommt man sich wie ein Gesegneter vor, wenn man noch20 Sgr. täglich zu verausgaben hat.«
So schrieb in seiner Junggesellen-Wohnung in der Mohrenstraße zu Berlin im Winter des eben begonnenen Jahres 1868 der Dichter Albert Lindner in seinen Briefen an die daheim gelassene Braut zu Rudolstadt. Soeben mit dem Schillerpreise gekrönt für sein Drama »Brutus und Collatinus«, hatte er die traute thüringische Vaterstadt verlassen und seine Stellung als Gymnasiallehrer aufgegeben, um der neu aufblühenden Hauptstadt Norddeutschlands zuzueilen, wo, wie er meinte, das Glück auf der Straße liegen müsse: und er fand in der ruhmumklungenen Residenz graues Elend, das ihm seine schwungvollen Verse verstummen ließ. Und so wie ihm erging es vielen.
Wie ein Stern war Berlin aufgegangen.
Was ist Berlin? Eine Stadt – so hatte ein Heerführer noch inmitten der Stürme der Freiheitskriege achselzuckend lästern dürfen, trotz der hohen geistigen Geschichte Berlins – der Stadt des Leibniz, der Stadt des großen Friedrich, der Hauptstadt der deutschen Romantik. – Aber jetzt durfte niemand mehr so etwas wagen. Auf den Schlachtfeldern von Langensalza und Königgrätz hatten ja Bismarck und Moltke das ferne Berlin mit Blut und Feuer zur Weltstadt getauft. Den »Kaiser von Norddeutschland« nannte der große Hans von Bülow in einem Briefe an den Musiker Kuczynski den Preußenkönig Wilhelm. Daß man ihn bald einen Kaiser von Deutschland werde nennen dürfen, das ahnte manche hoffende Seele – und nach wenigen Jahren war der Wunsch zum Ereignis geworden. Von Sedan und Versailles kam der Stadt an der Spree der Adelsbrief, der sie in einen Rang 2 setzte mit den glanzstrahlenden Kronenträgerinnen aus altehrwürdigem Geschlechte an der Seine und der Themse. Aber in demselben Zuge, der die Siegesgöttin rauschend in das fast über sich selbst erstaunende Berlin hineingeleitete, rollte auch Pandora ihre Tonne mit verhängnisvollen Geschenken daher. Mit dem Aufblühen von Handel und Gewerbe kam auch die Not der Allzuvielen und die Unzufriedenheit der Massen, die vor den leuchtenden Prunkfenstern darbend und neidisch stehen. So ward Berlin in Art und Unart eine Weltstadt.
Mit den hereinflutenden Milliarden, mit den emporschießenden Palästen, mit den sich herrlich dehnenden und reckenden Straßen, die unlängst erst die Stadtmauer wie eine zu eng gewordene Schale zersprengt hatten, kamen aber auch die Fluten des geistigen Lebens. In dem Jahre der Königgrätzer Schlacht, das jenen Lindner nach Berlin lockte, schrieb Friedrich Spielhagen, der schon seit vier Jahren in der preußischen Hauptstadt lebte, seinen Roman des Sozialismus »In Reih und Glied«. Zwei Jahre nach dem Frankfurter Frieden erregte Paul Heyse die Gemüter Berlins mit seinem Roman »Kinder der Welt«. Selbst war er ein geborner Berliner, der freilich in München zur Poetenrunde des Königs Max gehört hatte. Sein einstiger Genosse, der Bayer Hans Hopfen, der Dichter der »Sendlinger Bauernschlacht«, gab in Wien sein Sekretariat der Schillerstiftung auf und eilte im Jahre der Schlacht von Sedan nach Spreeathen hinüber; und ein Jahr darauf ließ der geistreiche Spötter und verdienstvolle Molière-Prophet Paul Lindau, der unlängst die Briefe eines deutschen Kleinstädters herausgegeben, sein kaum 3 begründetes »Neues Blatt« in Leipzig im Stich, um schnell ein deutscher Großstädter zu werden. Berlin war das Mekka aller derer geworden, die den Geist der Zeit aus dem Vollen schöpfen wollten.
Damals lebte in der so plötzlich neu gewordenen Stadt auch ein älterer Litteraturgeschichtschreiber, der die merkwürdigste Epoche der deutschen Geistesgeschichte mit durchlebt hatte, der selbst ein Prophet des kommenden einigen Deutschlands unter preußischer Vormacht gewesen war, der selbst das neuerdings berühmt gewordene Schlagwort des »Realismus« in langen kampfreichen Jahrzehnten hatte schmieden helfen, und der nun, wo sich alles nach seinem Wunsche zu erfüllen schien, bedenklich das Haupt schüttelte über die »neue Generation«. – »Es war in den ersten Monaten des Jahres 1848, als ich bei einem Besuche in Leipzig einem kleinen Herrn gegenüber saß, dem hübsche blonde Locken ein rundliches rosiges Kindergesicht einfaßten und der hinter großen Brillengläsern starr und schweigsam auf seine Umgebung sah.« So schildert Gustav Freytag seine erste Begegnung mit Julian Schmidt grade in dem sonderbarsten und bedeutungsvollsten aller Wendejahre der deutschen Kultur. Beide hatten dann gemeinsam in den »Grenzboten« für deutsche Einheit unter Preußens Führung, für den bürgerlichen Liberalismus und für dichterisches Erfassen der Wirklichkeit in der Poesie gestritten. Und als im Jahre1855 Freytag seine gewaltige Romandichtung »Soll und Haben« schuf als ein unvergängliches Grenzdenkmal zwischen einstiger und neuer Erzählerkunst – da schrieb auf die erste Seite des unsterblichen Buches Julian Schmidt sein Motto: »Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in 4 seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit.« Und im Jahre 1866 schloß er – bereits seit vier Jahren in Berlin lebend – seine aus kleineren Arbeiten entstandene »Litteraturgeschichte seit Lessings Tode« mit den Worten:
»Wiederum stehen wir vor einem großen Wendepunkt unserer Litteratur. Seit mehr als hundert Jahren ging das ideale Streben unserer Dichter und Denker bewußt oder unbewußt darauf aus, unsere Nation aus der dumpfen Enge kleinbürgerlicher Verkümmerung, aus der Unterthänigkeit eines von geistlosen Höfen und der Verachtung des Auslandes herabgedrückten Volksbewußtseins zu befreien, ihr Selbstgefühl einzuflößen, ihre schlummernde Kraft zu erwecken, sie ebenbürtig einzuführen in die Reihe der Nationen Europas. In hohem Grade ist das geistig gelungen, die Dichtung Goethes war unser Adelsbrief. Aber der stolze Mut des Poeten und Philosophen ließ uns im Stich, wo es galt, das wirkliche Leben nach dem Maß unseres Idealismus einzurichten. Bald war es Unklarheit über das Ziel, bald schwaches und halbes Wollen, bald die Herrschaft subjektiver Stimmungen über die Ueberzeugung, was uns irre führte. Das vergangene Jahr hat diesem traurigen Zustand ein Ende gemacht. Die fremden Nationen, die uns in der letzten Zeit wohl gutmütig und herablassend streichelten, die unserm Schiller wohl einen Platz neben Corneille einräumten und zugestanden, daß Jakob Böhme ein tiefsinniger Schuster gewesen: sie haben uns fürchten gelernt; sie haben erkannt, daß das altgermanische Blut noch nicht versumpft ist. Nicht der Gesammtwille der Nation, sondern ein einziger Großer und Gewaltiger hat das hervorgebracht. Aber wen das für den Augenblick beschämt und fast verdrießt, der mag sich sagen, daß die Vollendung des Gebäudes ohne die Mitwirkung der Nation nicht möglich ist; und daß der Nation Kraft und Fähigkeit dazu nicht fehlt, zeigt in Vergangenheit und Gegenwart ihr geistiges Leben. . . . Das Lebenselement des Geistes ist die Freiheit, aber Freiheit ist nicht die Loslösung des einzelnen Lebens von der geistigen Substanz, der es angehört, der Nation; sondern ein inniges Verwachsen derart, daß in der Größe der Nation jeder einzelne sein höchstes Glück, in ihrem Dienst seinen höchsten Stolz, die reichste Befriedigung seines Ehrgeizes sucht und findet, daß der Staat jeder Kraft nicht bloß Spielraum, sondern auch den Stoff giebt. Es war noch ein Rest unsres alten Spießbürgertums, daß das Volk sich nur als Publikum fühlte, daß die Vertreter der Gemeinden und Städte sich nur in der Abwehr des Regierungseinflusses zu bethätigen glaubten und umgekehrt. Jetzt haben wir ein größeres Maß der Freiheit, des Ehrgeizes, der Nation empfangen; es kommt darauf an, hineinzuwachsen.«
Daß aber gerade dies »Hineinwachsen« seine Schwierigkeiten hatte, das ahnte auch dieser Prophet. Und als typischer Ausdruck für das, was damals viele empfanden, mag noch ein anderes Wort von ihm hier Platz finden: Er verglich in einem Aufsatze über die »junge Generation« diese mit seinen Altersgenossen (11. Januar 1870).
5 »In gewissem Sinne waren wir alle Idealisten gewesen, die Demokraten, die Liberalen, die Konservativen, die Romantiker und die Bekenner der reinen Vernunft, die Christen und die Heiden. Wir hielten streng auf Gesinnung, Toleranz war nicht unsere überwiegende Tugend, und der Toast war ein gesuchtes Mittel, den lauten Brustton der Ueberzeugung geltend zu machen. Die neue Generation begegnet den fertigen Formen der Ueberzeugung eher mit Mißtrauen, wenigstens verlangt sie eine gründliche Voruntersuchung. ehe sie sich zu einem Bekenntnis entschließt. Noch in einem andern Punkte macht sich der Idealismus des vorigen Geschlechts gegen den Realismus des jetzigen geltend. Gleichviel, ob wir Hegelianer, Kantianer oder Eklektiker waren: daran hatten wir keinen Zweifel, daß die Vernunft zur Regierung der Welt berufen sei; wenn das im Augenblick nicht deutlich hervortrete, so müsse wenigstens einmal die Zeit kommen, und jeder von uns war an seinem Platz eifrig bemüht, Bausteine dazu zusammenzutragen. Seit der Zeit ist Schopenhauer in Geltung gekommen, dessen Lehre damit endet, das Leben an sich – nicht dieses oder jenes Leben – sei seinem innersten Begriff nach ein Widerspruch, folglich ein Unglück und ein Unsinn.«
Und dieser so geschilderten älteren Generation stellt er dann ebenso geistreich die jüngere gegenüber.
»Ihre Züge sind mehr durchgearbeitet, es steckt mehr Erlebtes, Gedachtes dahinter, sie laden zum Sinnen ein; dagegen fehlt oft Bestimmtheit und Deutlichkeit. Kommt man vom Umgang mit den Aelteren, so weiß man genau, wovon die Rede gewesen ist; zu den Neueren muß man öfters zurückkehren, nachfragen, ob man sie nicht etwa mißverstanden hat. Es ist ein feiner, oft schillernder Stil, reich an Nuancen, an überraschenden Wendungen, aber selten von großem Schnitt; gesättigt mit Kenntnissen und Reflexionen jeder Art, eigenen und fremden; der Schaum der ganzen Romantik, Goethe, Hegel, Jakob Grimm, Schleiermacher; feinfühlig und überall bemüht, Denken und Empfinden zu vermählen. Die junge Generation hat eine viel gründlichere Bildung durchgemacht als die ältere, sie ist frühreif; man merkt es auch wohl bei der am schärfsten hervortretenden Eigenart, daß sie frühgeleitet ist, geleitet nicht bloß im Wissen, sondern auch im Empfinden. Der Zusammenhang aller Wissenschaften ist inniger, lebendiger, seelenvoller. Freilich wird es nun auch viel schwieriger, die mannigfachen Fäden so sicher festzuhalten, daß sie sich nicht ineinander verwirren.«
Kaum war diese Abhandlung Julian Schmidt's über die neue Generation erschienen, als ein jüngerer Litteraturprofessor in Wien seine Meinung dagegen setzte. Da es ein Gelehrter war, der einige Jahre später eine große Rolle in der Berliner Geistesgeschichte zu spielen bestimmt war, so hören wir auch ihn. Es war Wilhelm Scherer. Der kleine, bewegliche Mann mit der liebenswürdigen 6 Lebhaftigkeit seines Wesens, der Enthusiast unter den Philologen neuerer Richtung, war damals auf den erledigten Lehrstuhl Pfeiffer's in der Hochschule an der Donau berufen worden und war nun selbst erst ein Neunundzwanzigjähriger, als er die »neue Generation«, zu der er ja selbst gehörte, gegen manchen Vorwurf des Meisters Julian verteidigte.
»Wir fliegen nicht gleich zu den letzten Dingen empor. Die Weltanschauungen sind in Mißkredit gekommen. Selbst der letzte interessante Versuch einer solchen (wohl Eduard von Hartmann?) kann dem nicht abhelfen, denn das blos Interessante hat keinen Wert mehr. Wir fragen: Wo sind die Thatsachen, für welche ein neues Verständnis eröffnet wird? Mit schönen Ansichten, mit geistreichen Worten, mit allgemeinen Redensarten ist uns nicht geholfen. Wir verlangen Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. Diesen Maßstab haben wir von den Naturwissenschaften gelernt. Und hiermit sind wir auf den Punkt gelangt, wo sich die eigentliche Signatura temporis ergiebt. Dieselbe Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieselbe Macht regiert auch unser geistiges Leben; sie räumt mit den Dogmen auf; sie gestaltet die Wissenschaften um; sie drückt der Poesie ihren Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind.«
Und mit diesem letzten Gedanken beleuchtet er die Umgestaltung in der modernen Romandichtung:
»Die Menschen erscheinen wie Puppen in der Hand unüberwindlicher Mächte. Die Verhältnisse, unter denen einer aufwächst, werden ihm ein unabwendbares Verhängnis, das ihn zermalmt oder erhebt. Die verborgensten Orte und Gänge der moralischen Welt werden unablässig durchforscht. Man strebt nach Wahrheit, nach dem Bezeichnenden, Charakteristischen mit einer Energie und Rücksichtslosigkeit, welche für zartbesaitete Gemüter etwas Abstoßendes hat.«
Während so Scherer als Wortführer seiner Generation den Realismus voll annimmt und mit jener Erklärung des neuen Romans auf dem Standpunkte des Engländers Taine steht, verteidigt er sie aber mit vollem Brustton gegen den Pessimismus und die Abhängigkeit von Schopenhauer, die Julian Schmidt ja auch als ein Kennzeichen der damaligen Jugend hervorgehoben hatte.
»Diese hochstrebenden Menschen wären dem Pessimismus verfallen? Ich setze einer solchen Behauptung den bestimmtesten Widerspruch entgegen. Der gelesenste deutsche Dichter ist augenblicklich Fritz Reuter. Beweist das Pessimismus oder Optimismus?«
Allerdings war Fritz Reuter, der mit seinem goldigen Humor sein eigenes verlorenes Leben und das platte Land seiner schlichten Landsleute verklärt, nur der Größte von den vielen, die damals auch das Tieftraurige heiter zu erzählen wußten. Zur Seite stand ihm darin der freilich noch sehr wenig beachtete Schweizer 7 Gottfried Keller, der seinen »Grünen Heinrich« damals zwar noch sterben ließ, aber doch versöhnenden Goldglanz über das Bild des langsam Untergehenden goß. Ja auch Spielhagen, dessen ersten Romanen gerade ihre Tragik Wert verleiht –, mit festem Entschlusse wendet er sich von dem willensfeindlichen Philosophen des Pessimismus ab.
»Da darf ich denn wohl mir zur eigenen Ehre annehmen – so berichtet er später in seiner Selbstbiographie »Finder und Erfinder« – daß, als ich selbst noch jung war, ich nicht einen Augenblick darüber schwankte, was von solcher Weisheit zu halten sei; und wenn ich auch auf den fraglichen Ruhm Anspruch machen darf, mit zu den ersten zu gehören, welche den Schopenhauerianismus dichterisch verwerteten, es in geziemender Weise gethan zu haben. Ich lasse meinen Schopenhauerianer wahnsinnig werden, und als er wieder zur Vernunft kommt, den Tod suchen für eine Sache, in der er die Menschheit sieht.«
Und dabei ist allerdings allen diesen Werken der realistische Zug gemein: mecklenburgische Bauern bei Reuter, Schweizer Kleinbürger und Münchener Maler bei Keller, pommersche Junker bei Spielhagen, der deutsche Professor bei Freytag und bei Heyse die Welt der sinnenfrohen Menschen. Und daneben spiegelt sich das Streben nach Wirklichkeitspoesie in dem sinnigen Storm, in dem gemütvoll satirischen Raabe und manches andere.
Und dabei ein Krieg gegen alles Uebersinnliche! Der »Grüne Heinrich« wendet sich langsam aber sicher von der Religion seiner Kindheit ab, in den »Problematischen Naturen« wird der Theologe als Buchstabenkrämer verspottet, und eine alte pommersche Bauersfrau schüttelt ungläubig den Kopf über den Gedanken an die Unsterblichkeit, die der Held des Romanes geradezu verpönt. Lauteres Aufsehen aber noch, als diese Spielhagenschen Angriffe, erregte Heyses immer wiederholte Proklamierung des Rechtes der Sinne. Wie deutlich läßt er »Im Paradiese« seinen Künstlerhelden die freie Schönheitswelt des alten Rubens erklären:
»Sage selbst« – so belehrt der Bildhauer Jansen seinen Freund, den jungen Maler Felix, indem er an den Wänden des Rubenssaales herumdeutet – »wird dir hier nicht wieder zu Mute, wie in den tropischen Wildnissen, wo die Natur sich vor strotzenden Säften nicht zu lassen weiß, wo alles, was wächst oder sich regt und bewegt, wie im Rausch seiner eigenen Kraft vor sich hinträumt? Hier fällt es niemand ein, daß es überhaupt ein alltägliches und prosaisches Leben giebt, das alle Kreaturen sich irgendwie dienstbar macht, die Männer für den Staat, die Weiber zu Lasttieren der Familien verbraucht, Pferde in den Pflug spannt und wilde Bestien nur gelten läßt, wenn sie im zoologischen Garten oder in einer Jahrmarktsbude zur Schau stehen. Hier wimmelt wirklich die herrliche Schöpfung noch, wie am 8 siebenten Tage, nackt und lustig durcheinander, und selbst die anzüglichsten Dinge, die wir in unserer geschniegelten Gesellschaft sorgfältig verstecken, geschehen hier in der Unschuld am Licht des Tages.«
Und was hier leidenschaftlich ein stürmischer Poet für die Kunst verlangte: den lebensfrohen Realismus, – das begehrt in sanfterer, gleichsam gesitteterer Form ein gefeierter Berliner Kritiker für das Drama.
Im Jahre 1877 erschien Karl Frenzels »Berliner Dramaturgie«. Der Fünfzigjährige hatte darin gesammelt, was ihm selbst als das Reifste erschien unter den Kritiken, die er seit dem Jahre 1862 für die Berliner »Nationalzeitung« geschrieben. »Zuweilen gelang es mir in der kritischen Tagesarbeit, das Wahre und Schöne verfechtend, das Urteil einer großen Stadt in gewissem Sinne mitzubestimmen« – so sagt er in seiner bescheidenen Art in der Vorrede. In der That galt er damals und noch lange Jahre danach als der »Hohepriester der Berliner Kritik«. Und was hatte er nun verfochten? Auch er wünschte einen Zug zum Modernen. Den Jüngeren empfahl er die Lehrmeister, die er selbst besessen: die realistischen Franzosen, und rieth von allzu eifriger Nachfolge der Klassiker ab.
Bei einer wohlgelungenen Lustspielaufführung ermuntert er einmal den Dichter Gustav zu Putlitz:
»Während die Darstellung der Tragödie nur noch in den seltensten Fällen befriedigt, und meist statt der Erhebung Mißbehagen erzeugt, rundet sich das Zusammenspiel bei einer Komödie harmonisch ab und erfreut uns mit dem Schein des Lebens. Nur von dieser Stelle aus scheint der Aufschwung des Theaters möglich zu sein. Nicht den Sisyphusstein der Tragödie den Berg hinaufzurollen, sondern das Lustspiel zu vertiefen, es immer mehr zum Spiegel der Zeit zu machen; das ist heute die Aufgabe der dramatischen Schriftsteller.«
Und in solchem heißen Verlangen nach modernen Stoffen auf dem Theater sehnt sich der Kritiker förmlich nach einem Dichter, den er in diesem Sinne loben könne. Jede Gelegenheit dazu ergreift er gern. So rühmt er bei einer wertlosen Arbeit wie Frohbergs »Hollandgänger«:
»Aber alles berührt uns mit einer gewissen Unmittelbarkeit und dem Zuge wirklichen Lebens.«
Und wie Paul Lindau in Berlin erscheint und sich schnell des Theaters bemächtigt, da findet Frenzel manches an ihm auszusetzen; aber bei der ersten Aufführung von dessen Schauspiel »Maria und Magdalena« rühmt ihm der Kritiker doch gern nach:
»Paul Lindau hat die Empfindung des modernen Lebens; er steht inmitten unsrer Bewegungen und Kämpfe, und fehlt ihm der Tiefblick auf den Grund dieser Strömungen, in ihre Ursache und in ihr Wesen, so hat er dafür die Gabe schnellen und leichten Erfassens der hervorspringenden Erscheinungen, Schwächen und Irrungen des gesellschaftlichen Verkehrs und eine muntere satirische Laune, die sich wohl zuweilen überschlägt, aber doch im Ganzen in den Schranken der Anmut bleibt.«
Und mehr verlangt Frenzel nicht vom Theaterdichter:
»Die Idee, daß die Bühne eine Art moralischer Bildungs- und Erziehungsanstalt sein solle, was sie meinem Gefühl nach niemals war und sein konnte, tritt mehr und mehr zurück. Die Bühne dient dem edleren Vergnügen, zur Anregung dem Geiste, zur Erheiterung dem Gemüt, zur Belebung der Phantasie. Aber ehe solche Gedanken sich festsetzen und durchdringen, ehe die 9 Ziele, denen sie nachstreben, Anerkennung finden, tritt ein unbehaglicher Zwischenzustand ein. Das griechische Theater hat ihn durchgemacht, als es von der Posse des Aristophanes, die Athen in seinen Tiefen erschütterte, zum harmlosen Lustspiel des Menander herabstieg. . . . Vor dem Aufschwung der geistigen Bedeutung und der Volksbeliebtheit des Romans ist die deutsche dramatische Dichtung in die zweite Linie zurückgewichen.«
Aber trotz dieser Prophezeihungen schien einmal wieder gerade das Gegenteil eintreten zu sollen von dem, was die kritischen Geister voraussagten. Das moderne Leben sollte bloß noch der Gegenstand der Dichtung sein, und gerade jetzt lebte von neuem mit heißem Drang die Sehnsucht nach historischer Poesie auf. Auch das war eine Folge der großen Tage von 1870 und 71 gewesen. Das neue Deutsche Reich gemahnte an den Glanz des versunkenen Mittelalters, der greise allgefeierte Kaiser Wilhelm ward unaufhörlich als wiedererstandener Barbarossa besungen, und der jungen Dichterwelt ging es wie dem großen Gustav Freytag selbst, der im Hauptquartier des kunstfreundlichen Kronprinzen den Krieg miterlebt hatte.
»Schon während ich auf den Landstraßen Frankreichs im Gedränge der Männer, Rosse und Fuhrwerke einherzog, waren mir immer wieder die Einbrüche unserer germanischen Vorfahren in das römische Gallien eingefallen; ich sah sie auf Flößen und Holzschilden über die Ströme schwimmen, hörte hinter dem Hurra meiner Landsleute vom fünften und elften Corps das Harageschrei der alten Franken und Alemannen; ich verglich die deutsche Weise mit der fremden und überdachte, wie die deutschen Kriegsherren und ihre Heere sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben bis zur nationalen Einrichtung unseres Kriegswesens, dem größten und eigentümlichsten Gebilde des modernen Staates. – Aus solchen Träumen und aus einem gewissen historischen Stil, welcher meiner Erfindung durch die Erlebnisse von 1870 gekommen war, entstand allmählich die Idee zu dem Roman »Die Ahnen«. Der erste, dem ich, gegen Gewohnheit, von der Absicht erzählte, einen solchen Roman zu schreiben, war unser Kronprinz, als er zu Ligny leidend auf dem Feldbette lag und in seiner rührenden Weise von der Sehnsucht nach den Lieben daheim gesprochen hatte.«
Nichts kann lebendiger als diese autobiographische Notiz den Zusammenhang zwischen der wieder erwachenden geschichtlichen Dichtung und der großen Zeit mit ihren großen Männern beglaubigen.
10 Während des folgenden Jahrzehnts war der Dichter mit dem Riesenwerke beschäftigt, dessen acht Bände langsam von 1872–1881 erschienen. Und er blieb keineswegs der Einzige. Schnell stand ihm in Felix Dahn ein Genosse zu Seite, der im Jahre 1876 mit seinem »Kampf um Rom« eine ungeheure Popularität erlangte und später eine ganze Reihe von kleinen Romanen aus der Völkerwanderung den Freytag'schen Erzählungen zur Seite setzte. Und wer zählt die Namen aller derer, die auf gleichen Spuren wandelten? Wurde doch der historische Roman so einzig beliebt, daß auch die Familienblätter einmal das Strickstrumpfthema fallen ließen und mit geschichtlichen Erzählungen ihre Leser reizten. In der Schweiz errang Conrad Ferdinand Meyer in demselben Jahre, das Dahn berühmt machte, den größten Triumph mit seinem bündner Roman »Jürg Jenatsch«, er, der sich im Jahre 1871 bei aller Welt eingeführt hatte durch sein kraftvolles lyrisches Charakterbild »Huttens letzte Tage«. Ja, ältere Dichter kamen jetzt erst zu ihrem Rechte, wie Alexis, der Walter Scott der Brandenburger Mark, und Scheffel mit seinem vor Jahrzehnten erschienenen »Ekkehard«, der nun erst eine so begeisterte Leserwelt fand, wie auch der frische »Trompeter von Säckingen«. Ja auch das Epos lebte erst jetzt wieder voll auf. Freilich war es nie untergegangen. In den sechziger Jahren hatten Hamerling und Hermann Lingg, der eine mit dem »Ahasver« und dem »König von Sion«, der andere mit seiner »Völkerwanderung« so manchen Anhänger begeistert; aber nun kam eine wahre Versfreudigkeit über die Menschen. Wilhelm Jordans neugeformten »Nibelunge«, die in dem Jahre des sechsundsechziger Kampfes fertig geworden waren und mit einer wirklichen 11 Prophezeihung geschlossen hatten, wurden von dem Verfasser selbst an allen Orten vorgetragen, und in der patriotischen Stimmung fanden sie fast dieselbe Verbreitung, wie einst das mittelalterliche Nibelungenlied am Anfange des Jahrhunderts zur Zeit der Befreiungskämpfe gefunden hatte. Die weit größte Begeisterung aber weckte natürlich der unter den geschichtlichen Dichtern, der am wenigsten in die Tiefe zu dringen suchte, der formgewandte, liebenswürdige, aber wenig gestaltungskräftige Julius Wolff. Als ein sechsunddreißigjähriger Mann war er in den siebziger Krieg gezogen. Schon hatte er ein wechselreiches Leben als Fabrikleiter und Redakteur hinter sich. Nun sang er erst im Jahre des Sieges seine Lieder »Aus dem Felde« und dann mit dem Till Eulenspiegel beginnend, brachte er eine große Zahl der beliebten deutschen Märchen- und Sagenhelden in die leicht fließende Form seiner melodischen Verse und traf damit den Geschmack des Publikums wie kein anderer. Wohl kaum jemals sind epische Dichtungen in solchen Massenauflagen verlangt worden, wie damals die seinen, und natürlich schadete der Riesenerfolg, der noch kaum einen künstlerisch unverdorben gelassen hat, auch seiner Selbstkritik. Neben ihm sandte Rudolf Baumbach seine harmlosen und fast immer geistreich zugespitzten Lieder in die Welt hinaus, in denen die Studenten Zöpfe tragen und die Mädchen Mieder. Ja, die geschichtliche Begeisterung wuchs von Tag zu Tage, und kein Land und Volk konnte zu entfernt sein, um nicht das Interesse der lesenden Menge zu fesseln. Georg Ebers verstand es sogar, für die versunkene Kulturwelt des alten Egypten das ganze gebildete Deutschland mindestens für ein Jahrzehnt zu begeistern. Antiquarische Anmerkungen durften in keinem solchen Romane der damals neuesten Richtung fehlen. Gelehrsamkeit überwog oft genug die Poesie, und der geschichtliche Hintergrund war geradezu Mode geworden – und auch auf dem Theater sollte er wieder auftauchen. Hier war der einzige Ort, wo die alten Propheten des Realismus und der Modernität lange Recht zu behalten schienen. Aber auch hier rang man unablässig, die Direktoren für den ernsten Gehalt geschichtlicher Dichterwerke zu gewinnen. Das erste Opfer, das hier blutend niedersank, war Albert Lindner. Die großen Tage von Sedan hatten ihm seine Verse wieder aufleben lassen, er warf alle seine Entwürfe über Bankierparvenüs und gefallene Mädchen bei Seite und schrieb seine »Bluthochzeit« – aber auch der starke, ja stürmische Bühnenerfolg konnte ihn nicht dauernd retten. Hunger und Wahnsinn wurden schließlich sein Teil.
Adolf Wilbrandt ging von seinen Lustspielen, trotz der damit errungenen Erfolge, zur Tragödie hohen Stils über, und das Publikum fehlte seinem »Volkstribun Grachus« so wenig wie seiner »Arria und Messalina,« seinem »Nero« oder seiner »Kriemhild«. Ihm wurde im Jahre 1875 der Schillerpreis zu teil, wie er Lindner und Geibel schon geehrt hatte.
Auch Paul Heyse wandte sich als Dramatiker der Geschichte zu. Sein »Hans Lange«, sein »Kolberg« zeigten ihn zwar nicht als Bühnenbeherrscher, aber wohl als kecken Erfasser geschichtlicher Zeitbilder. Und endlich bemächtigte sich ein kunstsinniger Fürst der geschichtlichen Darstellung auch auf der Bühne. Herzog Georg von Meiningen hatte in aller Stille an seinem kleinen Hoftheater eine 12 neue Art von klassischen Musteraufführungen vorbereitet. Unter dem Zeitgeiste des Realismus stehend, wollte er besonders in Kostüm und Dekoration das treue Bild jeder Epoche gespiegelt sehen, und gleichzeitig belebte er mit keckem Griff die Beweglichkeit der Statisten. Sein »Volk« auf der Bühne war nicht mehr eine träge, starre Masse, sondern ein wirkliches, leichtbewegliches Volk, das lebenswahren Anteil nahm an den Geschehnissen. Und alles, was der Dichter vorgeschrieben, das sollte auch wirklich zum szenischen Ausdruck kommen. Es war ein theatergeschichtliches Ereignis, als am 1. Mai 1874 in Berlin das erste Gastspiel der »Meininger« Shakespeares »Julius Cäsar« mit nie bisher gesehener Pracht und Wahrheit brachte, bis dann die Truppe fast ganz Europa durchzog und allen Bühnen das rühmliche Beispiel gab, das später wohl in Uebertreibung der Aeußerlichkeiten ausartete, das aber in wohlthätigster Weise den Wirklichkeitssinn in der geschichtlichen Darstellung weckte. Damit war natürlich dem historischen Drama an sich ein höherer Aufschwung verliehen. Der Meininger Fürst hatte der Welt bewiesen, daß die »Klassiker« noch keineswegs unvolkstümlich geworden waren – und nun lernten es von ihm auch die Herren an den Hoftheatern in Berlin, in Wien, in Petersburg und gar in London . . . So war das Bild der Litteratur, das im Jahre 1880 sich in Deutschland darbot, geradezu zum Erstaunen anders, als es die alten und die jungen Propheten vorhergesagt. Statt daß die »neue Generation« nur moderne Stoffe wählte, schopenhauerisch seufzte, molièrisch die Schwächen der eigenen Zeitgenossen geißelte, oder irrlichternd in philosophischen Grübeleien hin und her schwankte – statt dessen berauschte sie 13 sich im Glanze des Vaterlandes, schwelgte in historischen Rückblicken, huldigte dem Ernst der Geschichte und machte die Poesie fast zur wissenschaftlichen Abhandlung; und statt die Prosa des Tageslebens zu üben, feilte sie den Vers zu einer Reinheit aus, wie sie vorher in Deutschland fast noch nicht bekannt gewesen war. Ja auch die Ueberlieferungen des »Realismus« lebten nur noch in der ernsten Geschichtsauffassung eines Freytag, in dem Streben nach kraftvollem Ausdruck bei Jordan und Dahn, in der fein ausmalenden und doch kräftigen Charakterisierung eines Meyer – und in der Meininger Theaterreform. Freilich mehr und mehr schmolz die Glätte des Zeitschriftenstils und der Wohllaut des Verses auch diesen Realismus langsam hinweg, und endlich sah die litterarische Welt genau umgekehrt so aus, als es die Propheten auf dem Katheder und in den Redaktionsstuben vorhergesagt hatten. Und das war ja wohl nicht zum erstenmal der Fall.
Aber dennoch waren die »Alten« noch keineswegs ganz bei Seite geschoben mit ihren Anschauungen. Im Gegenteil. Es sollte hier zur Wahrheit werden, was die so laut gepriesene Naturwissenschaft in neuerer Zeit als ein Gesetz entdeckt hat: daß nämlich häufig die Söhne ihren Vätern weit weniger gleichen, als den Großvätern die Enkel. Ja, der »Atavismus« sollte hier gewissermaßen in sein Recht treten. Die abermals »neue Generation« war nicht mehr groß geworden in der Sehnsucht nach einem einigen Deutschland, sie fand es als gegeben vor und nur in ihre Knabenjahre hinein hatte der Lärm der Waffen getost. So war auch die Freude an dem Gewonnenen nicht mehr groß genug für sie, um ihr manche Mängel des kaum Geschaffenen zu verdecken. Und da erwachte denn für die jüngste Generation das wieder, was einst die ältere der damaligen Jugend gegenüber vertreten hatte: der Realismus und das Verlangen nach dichterischem Betrachten der modernen Welt. Aber dennoch wurden die Enkel nicht der Großväter Freude; denn die realistischen sowie die sozialen Gedanken traten bei ihnen mit der rücksichtslosen Kraßheit jugendlichen Sturmes und Dranges auf, und so kam es, daß sie nicht nur zu den sanften Formpoeten, sondern auch zu den früheren Realisten in Gegensatz traten. Daraus ergab sich eine Art bewußter Revolution, die merkwürdig genug begann, da sie zunächst sich nur als ein Aufbäumen der »Jungen« gegen die Alten darstellte und erst später ein Programm fand. 14