Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Zweites Kapitel.

Gegensätze auf dem Münchener Parnaß.

Die alte Isarstadt war seit dem Anfange des Jahrhunderts ein Hauptsitz deutschen Geistesstrebens gewesen. König Ludwig I. hatte dort die bildenden Künste zum Leben erweckt; König Max rief sich die berühmte Tafelrunde von Dichtern und Gelehrten, König Ludwig II. (1864) wurde der rettende Schutzengel Richard Wagners, schuf das Festspielhaus zu Bayreuth, und in seiner Einsamkeit schwelgte er nicht nur in Musik, sondern hatte aller Orten seine geheimen Dichter, die nur für ihn schufen. Die Poeten freilich, die seines Vaters Hof geziert hatten, waren nicht mehr dort. Emanuel Geibel lebte längst wieder in seiner Vaterstadt Lübeck (seit 1869), Bodenstedt war über Meiningen und Berlin nach Wiesbaden gezogen. Und so war denn Paul Heyse als ragende Säule aus der alten schönen Zeit nur noch von wenigen Genossen minderen Ranges umgeben. Aber der berühmte Verein »Das Krokodil« bestand noch und wahrte die Erinnerungen seiner großen Tage. Paul Heyse selbst, damals ein rüstiger Fünfziger und auf der Höhe seines Ruhmes, galt daher als der unbestrittene König im Münchener Geistesleben. Waren in den Tagen des Königs Max die Dichter selbst Professoren gewesen – wie Bodenstedt und Geibel – so verknüpfte jetzt noch manches Freundschaftsband den Dichter und Professorensohn Heyse mit den Münchener Gelehrten der Hochschule. Der geistreiche Historiker Moriz Carrière, der als einstiger Freund Bettinas von Arnim die letzte Hochflut der Berliner Romantik noch mit durchlebt hatte, und der jetzt in Wort und Schrift seine idealistische Kunst- und Weltanschauung verkündete; Michael Bernays, der eifrige Goetheforscher, der aus den Werken dieses Meisters sein Lebensprinzip schöpfte – sie standen auf einem geistigen Boden mit dem großen Novellisten, der selbst das Goethesche Lebensideal von Jugend auf angestrebt hatte und es im maßvoll künstlerischen Genuß des Diesseits zu finden glaubte, den keine Grübelei trüben, dem kein Dogma irgend einer Art Fesseln anlegen und dem nur die Schönheit selbst die Grenzen vorschreiben sollte, die der Lebensgenuß nicht überschreiten darf, wenn er nicht von selbst zur Qual werden soll. –

So ungefähr könnte man die Weltanschauung bezeichnen, wie sie Heyses Dichtung damals vertrat. Dabei öffnete er sein gastliches Haus ebenso gern aufstrebenden Jüngern seiner Kunst wie seinen eigenen Genossen, und in dieser 29 Geselligkeit, die von Kunst, Dichtung und Musik gewürzt wurde, war nur eins verpönt – die Klänge Richard Wagners. Ja, wie zwei Antipoden standen sich diese gegenüber: der Geist der schönheitstrunkenen Dichtung, die von nichts singen und reden will, als von Liebe und die Blässe des Gedankens meidet – und der kraftgewaltige Geist jener Musikdramen, die alle Tiefen des Denkens aufwühlen, die Tragik der Liebe mit dem Aufwärtsringen des Menschengeistes verschmelzen, alte und neue Philosophenweisheit in wunderbaren Tönen verklären, den sozialen Fluch des Goldes in der Menschen- und Götterwelt verfolgen und in jedem Klang und jedem Wort, in Scherz und Ernst, heiliges Deutschtum predigen. Ja, der echt germanische Himmel mit Sturm und Wetterwolken, ahnungsvoller Morgenröte und weihevoller Rätselstimmung wölbt sich über Wagners Welt, während Heyses Jünger unter dem ewigen Lichtblau des italienischen Himmels mitten in der Welt des Kampfes gedankenlos und sorgenfrei und der anderen Menschen unbekümmert wie unter einem schützenden Zeltdach den heiteren Trank der Kunst schlürfen.

Die junge Generation aber hatte allzuviel Stürme um sich brausen gefühlt, zuviel Gedanken auf ihrem Wege gefunden und zuviel deutschen Aufschwung mit erlebt, als daß sie sich sorglos unter jenes blaue Zelt hätte setzen können.

So erging es auch dem zweiundzwanzigjährigen Wolfgang Kirchbach (geb. d. 18. Septbr. 1857), der von frühster Kindheit an die Stürme der Weltgeschichte um sich hatte wehen fühlen. Als Sohn eines deutschen Malers war er in London zur Welt gekommen. Dort war er aufgewachsen neben den älteren Söhnen des Dichters Ferdinand Freiligrath und des Schriftstellers Karl Blind, die bekanntlich beide ihrer politischen Gesinnungen wegen aus Deutschland verbannt worden waren. In einem Gespräch ihrer beiden Söhne Wolfgang und Ferdinand hat Kirchbach später die Eindrücke wiedergegeben, die seine Kindheit umklungen haben:

Ich war zu jung, um alles zu verstehen, was sie sagten, und doch wußte ich in meinem Traume das Schicksal der beiden Knaben voraus, die beide lebten in tiefer, heißer Liebe für ihr deutsches Vaterland, obwohl sie Englisch sprachen, wie ich. – Der Knabe Ferdinand Blind begann: »Weißt Du schon, Wolfgang, warum Dein Vater und der Meine hier in dieser Fremde leben?« – »Wohl weiß ich's,« sagte Wolfgang, »und hier der kleine Wolfgang soll es hören, daß er's nie vergißt, niemals. Sie mußten in die Fremde ziehen, weil sie ein freies und einiges Vaterland gepriesen, weil sie nicht wollten, daß Deutschland ein Land der Schmach sei, weil sie dies Land über alles liebten, dies Land, das zerrissen, krank, elend zwischen anderen Reichen liegt.« – »Aber es wird nicht zerrissen bleiben, Wolf«, entgegnete Ferdinand.

30 So wehte der Hauch des deutschen Patriotismus in Kirchbachs frohe Kindheit hinein. Als kleiner Knabe kam er in sein eigentliches geistiges Vaterland, und mit Begeisterung sah er mit seinen jungen Augen Deutschland groß und einig werden. So ging er nach Leipziger Studierjahren im Jahre 1879 nach München, als erste Gabe ein Märchenbuch darbietend. In phantastische Form hatte er seine dichterischen Erstlinge gekleidet, und man sieht darin, wie sich ihm ganz unwillkürlich das Leben zum Märchen verklärt; aber nicht zum Ammen- und Feenmärchen der Romantiker – denn er ist nichts weniger als ein Träumer – sondern zum Gedankenmärchen. Er will nicht die Wirklichkeit zum Traum verdämmern lassen, sondern durch das Duftgewebe des Traumes zeigt er die Wirklichkeit in tiefer, gedanklich verklärter Gestalt.

So stand er seiner Veranlagung nach im Gegensatz zu dem Altmeister Heyse, für den er aber trotzdem große Verehrung fühlte. Denn eine geistig so durchgebildete Natur wie Kirchbach, der das klassische Altertum so gut zu schätzen weiß wie die modernste Neuzeit, wird nie der »lächerlichen Sucht« der Neuerer verfallen, auf Bedeutendes zu schelten, nur weil es sich in einer neugewordenen Zeit fremdartig ausnimmt. So verkehrte er auch im Hause Paul Heyses und lernte dort einen begeisterten Jünger des Meisters kennen, der sich später bedeutungsvoll entwickeln sollte, den Sohn aus einem reichen Hause zu Frankfurt a./M., Ludwig Fulda (geboren 15. Juli 1862).

Ein Künstlerroman mußte unter den Münchener Anregungen naturgemäß Kirchbachs nächste größere Arbeit sein, und er wählte sich zum Helden den italienischen Maler, Dichter und Tonkünstler aus dem siebzehnten Jahrhundert Salvator Rosa. Dieses bunt in allen Farben schillernde Genie mit der zerfahrenen wilden Jugend, mit seinem märchenhaften Räuberleben in den Abruzzen, mit seinem hungernden Zigeunertum in Neapel, mit seiner Not und Qual in der mittelalterlichen Weltstadt Rom, bis zu seinem endlichen sieghaften Durchdringen zu Ruhm und künstlerischer Eigenart – war es nicht in der That geschaffen zum Helden für eine Dichtung Kirchbachs, der hier seine Freude an drastischen Wirklichkeitsbildern ebenso zeigen konnte, wie seine Fähigkeit zum künstlerischen Nachempfinden? Und der obendrein hier seiner bald grübelnden, bald sarkastischen Laune die Zügel schießen lassen konnte zu lustigen Bocksprüngen? Aber seine ganze Eigenart zeigte er doch erst in dem sonderbaren Novellenzyklus: »Die Kinder des Reichs«. Hier stand er mit beiden Füßen auf dem Boden des geliebten Vaterlandes, hier schwelgt er in wonniger Bewunderung des Reichsgedankens, der für ihn eine geradezu mystische Größe erhält. Er hat nun das deutsche Vaterland an vielen Ecken und Enden kennen gelernt. Er kennt Berlin, Leipzig, München und das süddeutsche Hochgebirge. Alle diese Einzeleindrücke aber drängt es ihn wieder zu einem Gesamtbild zusammenzufassen. Alle diese Kinder deutscher Gaue, Stämme und Städte haben für ihn nur noch eine Bedeutung als »Kinder des Reichs« (1883). Mit einer phantastischen Vision auf dem Wetterstein, jener höchsten Gebirgsgruppe der bayrischen Alpen und somit dem höchsten Punkte des Deutschen Reichs, beginnt die Geschichte. Wie der Dichter von dort aus 31 herniederschaut in die herrliche Landschaft, taucht vor seinem geistigen Auge das ganze Deutsche Reich auf, bis zu den fernsten Hansastädten an der Meeresküste. Und endlich sieht er das ferne London und sich als Kind mit jenen beiden Knaben im Gespräch.

»Die Bilder vom Reiche aber, die ich ahnungsvoll vom Berge geschaut, wurden im Thale deutlicher in mir, und ich schrieb sie nieder als ein Zeugnis von den Werken Gottes und den Thaten der Menschen.«

Und in jeder Oertlichkeit, die uns vorgeführt wird, tritt uns irgend eine Erscheinung entgegen, wodurch die Menschen in Beziehung zum Ganzen des Reiches gesetzt werden. In Berlin ist die Hauptfigur ein alter Postsekretär, der seine innige Freude daran hat, daß durch seine Hände die Briefe und die Geldsendungen aus dem ganzen Reiche laufen. Er steht als Vertreter des Altberlinertums im Gegensatz zu seinen beiden Söhnen, dem Major und dem Rechtsanwalt, zu deren Leidwesen er seinen subalternen Posten nicht aufgeben will. Und in den Verwicklungen der Handlung entrollt sich eilig das ganze Berlin mit seinen Höhen und Tiefen und mit seinen gesellschaftlichen Gegensätzen. – In seltsam phantastischer Weise werden in Leipzig die socialdemokratischen Verhältnisse mit den Geschicken einer excentrischen Frau verknüpft. – In München steht das Künstlertum und der Kampf gegen den Ultramontanismus im Vordergrunde. – Ein liebenswürdig neckisches Reiseabenteuer verknüpft die deutsche Landschaft Oesterreichs mit denen des Deutschen Reichs. – Am Fuße der Wartburg spielt eine zarte Seelengeschichte, und »Allvater Wodans abenteuerliche Reise« giebt einen phantastisch gedankenreichen Ueberblick über die Entwicklung des Deutschtums von den germanischen Urwäldern bis zu den damaligen Hetzreden des russischen Generals Skobeleff.

Wer diesen ganzen Plan des Werkes überschaut, der wird, trotz mancher Nacktheiten, die darin vorkommen, erstaunt sein, wie der Staatssekretär Bödiker dieses deutschnationale Buch als gemeingefährlich erklären, diese gedankenreichen Novellen für eine Nachahmung des französischen Naturalisten halten konnte. Eine Probe zeige den Unterschied:

»Auf dem Anhalter Bahnhofe zu Berlin tönte die Glocke Mitternacht. In den Lüften über der Hauptstadt des Reiches erhob sich ein brandender Sturm der Töne, denn in der Nähe und in der Ferne klangen mit helleren Stimmen vier Schläge die volle Stunde, und langsam, tieferzitternd, vollerdröhnend sangen die schwereren Glocken in zwölf bedeutungsvollen Schlägen den ernsten Choral der Mitternacht. Ein Summen ging über die Dächer der Stadt, als wären in allen Revieren verborgene Geister aus tiefem Schlummer aufgeschreckt; sie murrten ihr Geisterbrausen vom Askanischen Platze hinüber durch die Straße zur Bethlehemskapelle, sie teilten es in der Nähe den Geistern der Lucaskirche mit. Die riefen, aus ihrem Schlafe halb erweckt, zwölf warnungsvolle Rufe hinüber über stille Gärten und verschlafene Paläste, über den schwarzen, lautlosen Asphaltboden der Leipziger Straße, über den Palast des Generalpostamtes und seine Dachfirste zur Dreifaltigkeitskirche. Dort waren neue Geisterscharen versammelt, denn die hohen stundenlangen Häuserreihen hinauf und herab aus weiter Ferne brausten neue Stimmen; sie kamen herüber von der Hedwigskirche, wo sie plauderten und hinüberheulten über die Kastanienbäume und Lindenstämme einer nächtlich vereinsamten breiten Straße zwischen ernsten Palästen und über die Schornsteine derselben zur Dorotheenkirche. Weit drinnen, wo die engen alten, winkeligen und schwarzen Straßen sind, antworteten die verschlafenen Töne der Geister des 32 Nicolaiturms, und das dunkle Wasser der Spree entlang über unzählige Brücken, über Viadukte und Hafenbecken, über tausende von kleinen Schiffen und Zillen schwebten die brausenden Geisterscharen und verloren sich tönend in weite Fernen der Arbeiterviertel. Und als der letzte Schlag verklungen war, verschwanden die Stimmen der aufgeschreckten, summenden Geister, und sie sanken zurück in den tiefen, dunklen Schlaf der Nacht. Da ward aus Morgen und Abend ein neuer Tag.«

So war denn Kirchbach nicht wenig empört über den Vergleich mit einem Franzosen, den er damals noch gar nicht einmal kannte. Doch sollte er ihn jetzt kennen lernen.

Das Jahr 1870 hatte ja für Frankreich in ähnlicher Weise einen Einschnitt in das Geistesleben gebildet wie für Deutschland. Emile Zola, der fleißige sorgsame Beobachter mit dem klaren Kopf und kühlen Herzen eines modernen Naturforschers; der meisterliche Schilderer, dem das Schönste genau so viel wert ist wie das Häßlichste – hatte nach dem furchtbaren Zusammenbruch seines auch von ihm geliebten Vaterlandes begonnen mit seiner ihm eigenen langsamen, stetigen, unbezwinglichen Beharrlichkeit, das Paris des zweiten Kaiserreiches nach allen Ecken und Kanten hin dichterisch zu zergliedern in dem ungeheuren Riesenromanzyklus »Les Rougon-Macquart«.

Die ersten sechs Romane davon hatten innerhalb Frankreichs wenig, nach außen fast gar nicht gewirkt. So lange Zola Aebte und Excellenzen, berauschend schöne Gärten und allenfalls die Fleischläden auf den Märkten von Paris schilderte, hatte der langsame Trott seiner Schritt-für-Schritt-Darstellung und der Mangel an Perspektive bei dem gleichmäßigen Betonen jeder Kleinigkeit auf die größeren Leserkreise zu eintönig, ja langweilig gewirkt. Anders aber wurde das Verhältnis mit einem Schlage, als Zola sich auf seiner vorgeschriebenen Roman-Reise den Lasterhöhlen von Paris näherte. Nun schien die Sache pikant zu werden, nun hielt man den gleichmütigen Schilderer alles Wirklichen für einen obszönen Schriftsteller, nun schimpfte man auf ihn und nun – verschlang man in Frankreich so gierig die dargebotene Kost, daß in allen Ländern Europas der Heißhunger nach dieser Speise geweckt wurde, und es fehlte nicht an bereitwilligen 33 Uebersetzer-Kellnern, die das allbegehrte Gericht jedem Volke in seiner eigenen Schüssel vorsetzten. Auch in Deutschland las alles L'assommoir (»Der Totschläger«), die Geschichte von der Schnapskneipe, die Groß und Klein, Mann und Weib ins Verderben hinabschlingt. Da wurden denn auch die deutschen Kritiker aufmerksam und mußten die große Schilderungsgabe des kaltherzigen Dichters bald zugeben, ohne seine bedenkliche Einseitigkeit zu verkennen. So blieb die Bewunderung, wo sie auftauchte, kühl und verstandesgemäß. Da kam im Jahre 1883 nach München ein Mann zurück, gerades Weges aus Paris und die Seele ganz erfüllt von seinem Zola. Dieses Mannes Seele war allerdings leicht zu erfüllen von allem, was ihm groß und gewaltig dünkte. Und so war er recht dazu geschaffen, der eigentliche Prophet der neuen Litteraturrichtung zu werden. Sehen wir uns ihn näher an!

Michael Georg Conrad wurde am 5. April 1846 zu Gnodstadt im bayrischen Frankenlande geboren. Sein erstes Ziel war, Lehrer zu werden. Er widmete sich der Pädagogik und ging mit dieser Kunst auf Reisen. Einige Jahre lebte er als Lehrer in Genf. Eines der ersten Ideale, das sein begeisterungsfreudiges Herz erfüllte, war die Freimaurerei. In Neapel hatte er eine zeitlang als Meister vom Stuhl den Hammer geführt, und sicherlich war der hochgewachsene blondgelockte Franke – eine recht urgermanische Hünengestalt – schon körperlich ein stattlicher Mann für solches Amt. So erfüllte er sich in Italien und später in Paris mit den dort herrschenden freimaurerischen Anschauungen, und in seinem Schriftchen »Flammen für freie Geister« hielt er sie den deutschen Brüdern später entgegen. Aber auch für alle anderen Anregungen war sein Herz offen. So lernte er in Neapel den damals schon leidenden deutschen Professor Friedrich Nietzsche kennen und las mit Begeisterung die ersten Werke dieses Mannes, dessen spätere geistige Entwickelung für Deutschland so bedeutungs- und verhängnisvoll werden sollte. Und nicht weniger begeisterte ihn auf der Fahrt nach Frankreichs Küsten Emile Zolas Roman: »Im Bauche von Paris«. Der Schimmel, der gleich im ersten Kapitel den Marktkarren zieht, prägte sich in seiner natürlichen Lebenswahrheit dem geistigen 34 Auge des Lesenden ein wie etwas Wirkliches. Conrad glaubte noch nie eine solche Kunst der Schilderung wahrgenommen zu haben und nahm sich vor, daß ihn in Paris einer seiner ersten Wege zu dem damals, wie gesagt, noch nicht sehr gefeierten Zola führen sollte. Freundlich empfing der kleine, willensstarke, nüchterne Franzose den großen deutschen Schwärmer, und dieser gewann von dem Charakter seines Ideals nun einen ebenso starken Eindruck wie früher schon von seiner Begabung.

Je mehr sich Conrad in den Pariser Verhältnissen zurecht fand, desto klarer stand bald sein Urteil fest. Es waren vor ihm und zugleich mit ihm genug Deutsche in Paris, aber er brachte für seine Beurteilung einen Maßstab mit, der immer der beste ist: sein natürliches Empfinden.

In seinem Buche »Madame Lutetia« entrollt er Bilder von Paris, die weit entfernt sind von der bis dahin meist üblich gewesenen Verherrlichung des Babel an der Seine. In seiner Schrift »Parisiana« unterscheidet er sich in seinem litterarischen Urteil sehr von der herkömmlichen Verhimmelung aller französischen Schriftsteller. Bisher hatte man den rein künstlerischen Maßstab angelegt und daher geschickte Bühnenmacher wie Sardou und geistreiche Sinnenkitzler oft auf eine Stufe gehoben mit dem großen Molière von einst. Conrad verlangt aber außer der äußeren Kunst auch Gedankengehalt und sittlichen Ernst. Darum verurteilt er jene beiden, da sie nur Spieler und Tändler sind, preist aber mit vollen Tönen den Dramatiker Emil Augier als »den letzten Gallier« und den Romanschriftsteller Emile Zola als den »Großmeister des Naturalismus«. Erfüllt von solchen Anregungen kam er nach München ins Vaterland zurück, um dort alles zu verkünden, was seine Seele bewegte. Er war von jeher eine Kämpfernatur für seine Freunde und gegen seine Feinde; und wofür und wogegen kämpfte er nicht alles in München! – Für eine Reform der Freimaurerei; gegen den Ultramontanismus, in Schriften wie »Klerikale Schilderhebung« und »Die letzten Päpste«. Dabei schwärmte er für Nietzsche, schwärmte für Wagner, schwärmte für Zola! Und mittlerweile fing auch er an, naturalistisch zu dichten. Ganz von selbst wurden seine Pariser Erfahrungen unter der Hand zu novellistischen Skizzen, wie er sie in dem Werke »Lutetias Töchter« vereinigte. Wie der Name sagt, handelt es sich hier nur um französische Frauengestalten, während im »Totentanz der Liebe« auch deutsche Stoffe behandelt werden. Stofflich ist nun die Verwandtschaft mit Zola groß, aber in der Form unterscheidet sich der Jünger doch sehr von seinem Meister. Bei ihm ist alles knapp, vom Puls der Leidenschaft durchbebt, oft genug satirisch gefärbt. Alles in allem freilich beruht Conrads Bedeutung überhaupt nicht auf seinen Dichtungen, sondern auf seinen kritischen Aeußerungen. Er ist der größte Anreger der jüngstdeutschen Bewegung.

Schnell trat er auch in natürlichen Gegensatz zu Paul Heyse; schnell näherte sich ihm Kirchbach. Der Verlagsbuchhändler Wilh. Friedrich in Leipzig, der damals den Ehrgeiz entwickelte, für die Neuen das zu werden, was für die Klassiker Cotta gewesen, vermittelte auch die persönliche Bekanntschaft der beiden. Im Verlage von Friedrich erschienen damals die Romane von Wilh. Walloth, der gern ein Reformator des historischen Romans geworden wäre. Doch hatte er wenig 35 Zeug dazu. Den egyptischen Romanen von Georg Ebers trat er freilich entgegen mit seinem dreibändigen »Schatzhaus des Königs«. Dies alte heitere Märchen mit dem diebischen Helden, der für seine gelungenen Spitzbübereien endlich mit der Hand der Königstochter belohnt wird! Tieck hat ein satirisches Drama, Heine eine satirische Ballade daraus gemacht. Dafür ist der Stoff geeignet. Aber für einen ernsten historischen Roman? Natürlich mußte Walloth das Beste von der Geschichte dann weglassen. Aber das wäre doch nicht nötig gewesen, daß er von einem Theatereffekt zum andern stürmt, Verschwörungen, Belauschungen, haarsträubende Todesgefahren und unmögliche Rettungen im letzten Augenblick kolportageromanartig häuft, um seinen beinahe ermordeten und beinahe zerquetschten Helden mit einer beinahe lebendig begrabenen Jüdin zu verheiraten, die sich schließlich als natürliche Tochter des Königs entpuppt. Das niederstürzende Königsbild, das viele hundert Arbeiter erschlägt, ist freilich ein ebenso erfreulicher Anfang, wie das Ertränken einer ganzen Tafelrunde durch einen heimlich in den Speisesaal geleiteten Nilkanal ein ebenso erbaulicher Abschluß ist. Schade nur, daß die allerwärts borgende Phantasie des Verfassers eine herrliche mittelalterliche Foltermaschine, die den Gefangenen langsam zwischen ihren Wänden zermalmt, dem Amerikaner Poe stiehlt und sie – mit moderner elektrischer Leitung ausgestattet – in das alte Egypten verlegt. O! – man sehnt sich wirklich nach Georg Ebers zurück, der doch wenigstens in der Kulturgeschichte ein sicherer Führer ist! – Und doch sollte es bald Leute geben, die Herrn Walloth als den wahren Realisten des Geschichtsromans ausschrieen.

Vorläufig gesellte sich in München zu Conrad und Kirchbach der alte Herr von Reder, der damals nahezu sechzigjährige Epiker zu dem Mann im Anfang der vierziger und dem Jüngling im Anfang der zwanziger Jahre. Dies Zusammenleben der drei gab für Kirchbach die Anregung zu dem Gedicht von den »Drei seligen Faunen«, die aus dem Bacchusreigen vorübergehend entfliehen und bei einem Bauern das Knechtesjoch tragen, um nützliche Erdentiere zu werden, bis Dionysos die Enttäuschten wieder befreit und zu ihrem Götterleben zurückführt.

Dies Lied bildet den Schluß von Kirchbachs damals erscheinenden Ausgewählten Gedichten (1883), an denen man allgemein rühmte, daß sie nicht bloß das alte Lied der Liebe fiedeln, sondern auch wieder mit Gedankentiefe Welt und Menschenleben dichterisch zu durchdringen suchen. Ein Jahr später veröffentlichte Wildenbruch seine »Dichtungen und Balladen«, unter denen namentlich das farbenprächtige Hexenlied im Sturm die Herzen eroberte.

Aber das kraftvollste lyrische Talent erstand inzwischen in den Schleswig-Holsteinschen Landen, die der deutschen Litteratur schon so manchen Dichter von Kraft und Gemütstiefe geschenkt hatten: einen Hebbel, einen Storm. Und Kraft und Gemütstiefe sind auch die beiden bezeichnendsten Dichtereigenschaften des jungen schleswigschen Edelmanns, der in dieser Zeit seinen Militärdiensten Lebewohl sagte und sich auf sein holsteinsches Gut zurückzog. Detlev Frhr. von Liliencron (geb. in Kiel am 3. Juni 1844) hatte als preußischer Offizier die Feldzüge von 1866 und 1870/71 mitgemacht, als Hauptmann seinen Abschied genommen und 36 stand im 40. Lebensjahre, als er von seinem Gute Kellinghusen aus seine erste Gedichtsammlung in die Welt schickte unter dem bezeichnenden Titel »Adjutantenritte«. Bezeichnend ist dieser Titel freilich nicht für den Inhalt, sondern im Wesentlichen nur für die Art der Gedichte: denn sie haben etwas soldatisch Keckes an sich. Es klingt aus ihnen wie Säbelrasseln und Trompetenschmettern – obgleich zumeist nicht das moderne Soldatenleben den Stoff für die Lieder hergiebt; nur die zum Schluß angehängte Skizze, die den Titel des Buches wiederholt, führt im Wechsel von Vers und Prosa lebensvoll in eine moderne Schlacht ein. Was aber die ganzen Dichtungen gemeinsam durchweht, das ist die Küstenluft von des Dichters meerumschlungener Heimat. Der salzkräftige Odem der See hat dieses Sängers Nerven gestählt, so daß er die oft wilde Geschichte seines engeren Vaterlandes zu markigen Balladen gestaltet. – Und doch fehlt ihm die echte, tiefe Empfindung nicht – auch für das Weiche und Zarte, dem er wortarmen, aber herztiefen Ausdruck zu verleihen weiß. So ersteht in seinen Gedichten der stiernackige friesische Bauer, der blutbespritzte Ritter aus Sage und Geschichte, und um sie her breitet sich die weite Landschaft mit Düne, Deich und Marsch, mit Moor und Haide und mit dem fernen weithinrauschenden Meer, dessen Donner hinüberdringt in die Stille des weltabgeschiedenen Friedhofs. Ein wahres Meisterwerk herber, aber echter Schilderung von rauher Natur und rauhen Menschen bietet uns da:

                  Der Haidebrand.
»Herr Hardesvogt, vom Whisttisch weg,
viel Menschen sind in Gefahr.
Es brennt die Haide von Djernisbeg
und das Moor von Munkbrarupkar.«
Schon steh' ich im Bügel, schon bin ich im Sitz,
in den Sattel springt der Gendarm wie der Blitz.
Just schlägt es im Städtchen Glock zwölfe;
wir reiten, als hetzten uns Wölfe.

Hier schläft ein Garten in Mitternachtruh,
dort dämmert im Mondschein der Busch,
und Felder und Wälder verschwinden im Nu,
wir fliegen vorüber im Husch.
Und sieh, in der Ebene stäubt Funkengeschwärm,
schon murmelt herüber verworrener Lärm.
Es gilt. Die Sporen dem Pferde,
der Bauchgurt berührt fast die Erde.

Herunter vom Gaule, wir sind am Ort,
und stehen in Rauch und Qualm.
Das Feuer frißt gierig; das Kraut ist verdorrt,
vom Sommer vertrocknet der Halm.
Doch mitt' in der dampfenden Pußta, o Graus,
steht hell in Flammen ein einzelnes Haus.
Und aus dem sengenden Schilfe
ruft's markerschütternd um Hilfe. – 37

Sechshundert Mann gruben den Graben breit
und geboten dem Feuer Haltein,
sechshundert Mann sind zum Retten bereit
und schauen verzweiflungsvoll drein;
Unmöglich ist es, zum brennenden Haus
sich durchzukämpfen, vergeblicher Strauß,
denn kaum sind im Torfe die Sohlen,
so rösten sie schon wie Kohlen.

Das Schreien wird schwächer, dann hat es ein End,
das Haus ist abgebrannt.
In der Haide züngelt es, zischelt und brennt,
doch nur bis zum Grabenrand.
Im Osten zeigt sich ein purpurner Streif,
auf Aehren und Blumen und Gras fällt der Reif.
Und ruhig im alten Bogen
kommt die Sonne heraufgezogen. – . . . .

Und nun folgt die schreckliche Aufklärung. Ein altes, einst braves Mütterlein, das vom eignen Sohne aus dem Hause geworfen worden, hat dies Haus nun aus Rache dem Verderben geweiht. – Neben solchen großen Gemälden finden wir auch kleine leichthingeworfene Skizzen mit dem flüchtigen, aber fesselnden Leben der Momentphotographie, wie:

                      Viererzug.
Vorne vier nickende Pferdeköpfe,
neben mir zwei blonde Mädchenzöpfe,
hinten der Groom mit wichtigen Mienen,
an den Rädern Gebell.

In den Dörfern windstillen Lebens Genüge,
auf den Feldern fleißige Spaten und Pflüge,
alles das von der Sonne beschienen
so hell, so hell. –

So ist Liliencron, ob er mit breitem Pinsel malt oder mit flüchtigem Riß entwirft, ein echter Naturkünstler, doch freilich – zu dem Münchener Parnaß hatte er nur vorübergehende Beziehungen. Es ist Zeit, daß wir den Blick weiter umhersenden.

 


 


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