Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Fünftes Buch.

Die letzten Kämpfe und der Sieg des Neuen.

Erstes Kapitel.

Eine freie Volksbühne wird in Berlin errichtet.

Die Erfolge der »Freien Bühne« hatten gezeigt, daß ein solches Vereinstheater in der That lebensfähig sein kann; aber die Einseitigkeit dieser Freien Bühne selbst hatte ebenso deutlich dargethan, daß den Bedürfnissen der Jugend hier nur in dürftiger Weise Rechnung getragen wurde. Holz, Schlaf und Hauptmann – und weiter keiner! – das war das Endergebnis des ersten Spieljahres gewesen! und das geschichtliche Drama, daß die »Jungen« mit Vorliebe gepflegt hatten, war ganz ausgeschlossen. Kein Wunder daher, daß eine Anzahl der von allen Bühnen Zurückgewiesenen darüber grollte. Kein Wunder auch, daß sie sich ihrerseits zusammenthaten und es noch einmal versuchten. Die Unternehmungslustigsten waren auch die Führer der neuen Bewegung: Bleibtreu und Alberti. Sie vereinigten sich mit Max Stempel und dem sächsischen Dialektdichter Georg Zimmermann, der lange Zeit die Geschäfte der Genossenschaft Deutscher Autoren geführt hatte, und erließen die Ankündigung eines Vereins »Deutsche Bühne«. Mit Recht hoben sie darin hervor, daß die einseitige Betonung des Auslandes ein Fehler der »Freien Bühne« gewesen sei. Gleichzeitig verbreitete sich das Gerücht, daß eine »Freie Volksbühne« in sozialistischen Arbeiterkreisen angestrebt werde. »Wenn also das Glück es will« – so spottete Otto Brahm in seiner Zeitschrift – »haben wir im nächsten Theaterjahr drei »Freie Bühnen« in Berlin zu gewärtigen: die alte »Freie Bühne«, die »Freie Volksbühne« und die »Deutsche Bühne«. Von weiter zu gründenden »Freien Bühnen« verlautete bis zum Redaktionsschluß nichts.«

Nach langen Verhandlungen gelang es der Bleibtreu'schen Gruppe endlich, im »Zentraltheater« unterzukommen, das damals von dem Komiker Emil Thomas geleitet wurde. Am ersten Abend (Sonntag 28. Sept. 1890) wurde Bleibtreus Napoleon-Drama »Schicksal« gegeben. Der Erfolg war, wie vorauszusehen, 183 nach den ersten beiden Akten ein sehr starker, der jedoch durch den großen Bruch nach dem dritten Akt vollständig verloren ging. Am zweiten Aufführungsabend folgte ein älteres Schauspiel eines verdienstvollen Wiener Schriftstellers Adam Müller-Guttenbrunn (22. Okt. 1852 geboren in Guttenbrunn), der namentlich dem Wiener Theaterleben neue Anregungen gegeben hatte. Seine scharfe Broschüre »Wien war eine Theaterstadt« war schnell in vier Auflagen vergriffen (1885). In demselben Jahre hatte er auch sein modernes Schauspiel »Irma«geschrieben. Die Heldin desselben war eine jener vielen »unverstandenen Frauen«, wie wir ihnen in der Litteratur so oft begegnet sind. Sie hat ohne Liebe ihre erste Ehe schließen müssen und ist dann einem Verführer zum Opfer gefallen. Nach dem Tode ihres Mannes erregt die schöne üppige Frau die Liebe eines jungen Künstlers, den sie glühend wieder liebt. Aber das Bewußtsein ihrer dunklen Vorgeschichte und ihr verwöhntes Streben nach äußerem Glanz bringen sie dem Maler gegenüber in eine schiefe Lage, und endlich stiehlt ein junger Backfisch ihr die Liebe des Vergötterten. Der Verfasser selber schildert in der Vorrede zur Buchausgabe (Dresden und Leipzig 1891) die mannigfachen Bearbeitungen, die sein Schauspiel hatte durchmachen müssen, bis es acht Jahre nach seiner Entstehung auf der »Deutschen Bühne« zur Darstellung gelangte, und das mag der wesentliche Grund sein dafür, daß die Unklarheiten des Stückes es um Wirkung und Erfolg brachten. – Dagegen erzielte am dritten Abend die derb wirksame Theatermache in Albertis »Brot!« wenigstens beim Publikum der »Deutschen Bühne« einen unbestrittenen Erfolg, während das tolle 184 Lärmen und Höhnen, mit dem am folgenden Abend Julius Harts unmögliches Schauspiel »Sumpf« begraben wurde, dem Lyriker bewies, daß er kein Dramatiker war. Auch die »Neuen Menschen« des jungen Oesterreichers Hermann Bahr, die das Unterliegen aller guten Vorsätze unter den Drang der Sinne schildern, bedeuteten keinen wirklichen Sieg, und so blieb der ganze Theaterverein »Deutsche Bühne« ohne nachhaltige Wirkung.

Ganz anders erging es der »Freien Volksbühne«. In Berlin hatte es längst Bewegungen gegeben, die den Arbeitern, dem sogenannten »Volk«, Theatervorstellungen verschaffen wollten. Ein größerer »Verein zur Gründung deutscher Volksbühnen« hatte unter Führung des Freiherrn von Malzahn, des Malers Prof. Karl Emil Doepler senior und anderer kunstfreudiger Männer gerade in jenen Jahren eifrig gearbeitet, und unter andern hatte Wildenbruch sein verbotenes Hohenzollerndrama »Der Generalfeldoberst« zu gunsten der Kasse dieses Vereins vorgelesen. Aber, obgleich an einem anderen Abend schon der Baumeister Sturmhövel den Plan des neuzubauenden Theaters entwickelt hatte – zum Bau kam es nicht. Dann war jüngst Professor Adler in einer Schrift dafür eingetreten, daß im königlichen Schauspielhause besondere Gratisvorstellungen guter Dramen für Arbeiter veranstaltet werden sollten, ähnlich wie die römischen Imperatoren ihrem murrenden Volke panem et circenses (Brot und Schauspiele) zur Ableitung der revolutionären Gedanken darboten. Aber die Anregung hatte keinen Wiederhall gefunden. Da wurde durch die Erfolge der »Freien Bühne« ein junger angehender Gelehrter in Berlin auf den Gedanken gebracht, auf ähnlicher Grundlage eine Freie Bühne für das Volk ins Leben zu rufen. Das war Dr. Bruno Wille (geb. in Magdeburg 6. Febr. 1860). Er hatte schon längere Zeit eine stille Rolle in der jungen Litteraturbewegung gespielt. Von den Mitgliedern des Vereins »Durch« hatten sich einige zu engerem Bunde zusammen gefunden. Der ehemalige Schauspieler Julius Türk (geb. in Lautenburg in W/Pr. am 26. Mai 1865) gehörte unter andern dazu. Er war ein leidenschaftlicher Gegner des Schauspielers Josef Kainz und hatte ihn in einer heftigen Broschüre angegriffen, auf deren Titel er seinen eigenen Namen unter dem stolzen Pseudonym »Kühnhold Wahr« verbarg. Durch ihn lernte ich den jungen Philosophen mit dem sanften Wesen und der ruhigen, überzeugenden Sprechweise kennen – eben Bruno Wille. Wie eine moderne Sokratesnatur erschien dieser damals mit seiner immer gleichen 185 Ruhe und mit seiner Fähigkeit, von jedem beliebigen Gesprächsgegenstand ausgehend, immer in seiner sachlichen und niemals verletzenden Weise zur Entwickelung seiner sozialen Gedanken zu kommen. Freilich eigentlich hatte er evangelische Theologie studiert, war aber mehr der Philosophie geneigt und war in Bonn ein Schüler des altkatholischen Theologen Knoodt gewesen; dann aber hatten ihn die modernen Ideen ergriffen, er war Materialist und Atheist geworden und lebte – mit seinem ursprünglichen Studium ganz zerfallen – wieder in Berlin bei seiner Mutter. Mit einer Arbeit über den »Phänomenalismus des Hobbes« errang er den philosophischen Doktorgrad (1888). Wir sahen uns damals sehr häufig. Auch ein junger Rheinländer gehörte zu seinem Kreise, Wilhelm Bölsche (geb. in Köln am 2. Jan. 1861), der Sohn eines Redakteurs der Kölnischen Zeitung. Er hatte in Bonn Philologie und Kunstgeschichte studiert; dann war er nach Paris gegangen, hatte dort naturwissenschaftliche und litterarische Studien getrieben und eine Analyse von Heines Werken zu veröffentlichen begonnen, die jedoch nicht über die erste Abteilung hinauskam (1887). Ferner hat er »Naturwissenschaftliche Grundlagen der Poesie« geschrieben, ein Werk, das die Grundstimmung seines Wesens und den untilgbaren Widerspruch desselben früh kennzeichnete, denn – wie viel Beziehungen auch zwischen Naturwissenschaft und moderner Poesie bestehen mögen – eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Poesie bleibt für alle Zeit gleich unmöglich, wie der Versuch, auf poetischem Wege die Rätsel der Natur entschleiern zu wollen. – Auch in der Dichtung hatte sich Bölsche bereits versucht, mit einem 186 kulturhistorischen Roman aus der Zeit Mark Aurels, »Paulus«, und mit einem humoristischen Roman aus der römischen Kaiserzeit »Der Zauber des Königs Arpus«.

Bald darauf wandten sich alle drei der sozialdemokratischen Partei zu. Türk gab für längere Zeit die dramatische Kunst auf, um seine freie Zeit vollständig dem sozialdemokratischen Parteileben widmen zu können; in Wille regte sich das Theologenblut: er wurde sogenannter Sprecher in demjenigen Teile der Berliner freireligiösen Gemeinde, der gleichzeitig sozialdemokratischen Grundsätzen huldigte; und auch Bölsche stürzte sich nach einer längeren Zeit des Schwankens in das Parteileben, dem er innerlich früher ganz fern gestanden hatte. Nun aber wurde für alle drei der Gedanke der Freien Volksbühne fruchtbar. Wille und Bölsche waren den Arbeitern als wissenschaftliche Parteiredner bekannt, und Türk konnte seine alten dramatischen Neigungen hier mit den politischen vereinigen. Nach längeren Vorbereitungen berief Wille eine Arbeiterversammlung ein, und sein Name in Verbindung mit denen andrer Parteimänner genügten, um gegen 2000 Arbeiter am Dienstag den 29. Juli 1890 im großen Saale des »Böhmischen Brauhauses« zu vereinigen. Da saß neben Wille und seinen beiden vertrautesten Freunden sein Parteigenosse Wildberger und der Redakteur des politischen Parteiblattes Kurt Baake; daneben saß aber auch am langen Vorstandstische Dr. Otto Brahm. Und daraus war nun gleich zweierlei zu erkennen, erstens: die Volksbühne, die hier nun endlich erstand, hatte von vornherein einseitig einer politischen Partei zu dienen; und zweitens: sie hatte auch einseitig einer bestimmten ästhetischen Partei zu dienen. Und das ergab sich auch schnell aus den Verhandlungen.

Wille begann zu reden – in seiner ruhig klaren, herzgewinnenden Art, die niemals ihren Zauber auf die Arbeiter verfehlte, doch einseitig in seinem Programm; er führte zwar aus, »es sei lächerlich, wenn in den Tagesblättern die Rede gewesen sei, man wolle ein sozialdemokratisches Theater gründen, – als ob das nicht ein Unsinn sei!« Aber dennoch gab er zu, daß er der Meinung sei, man müsse Stücke wählen, von denen ein gewisser »sozial kritischer« Hauch ausgehe. Und dann erklärte er: wie er die Versammlung beurteile, würde sie sich wohl nicht für die »veraltete Kunst der Schönfärberei«, sondern für die moderne der »Wahrheit und Aufrichtigkeit« entscheiden. Nun, was sollte die Versammlung da entscheiden? Es waren ja 2000 Leute, die von der älteren Kunst noch viel weniger wußten als von der neuen. Sagten diesen Arbeitern also ihre litterarischen Vertrauensmänner: die Dramen der Klassiker seien schönfärberisch und verlogen, die modernen Stücke aber seien aufrichtig und der Wahrheit entsprechend – nun so war kein Zweifel, daß die Arbeiter ihnen vollen Glauben schenken und sich für die modernen Stücke entscheiden würden. Sehr rührend wußte allerdings Brahm später in seinem Bericht in seiner Zeitschrift eine Episode aus der Versammlung zu schildern:

»Ein Mann trat auf, schlicht und im Werktagsrock, wie er aus der Fabrik kam, mit ungestärktem Hemd; Leiden malten sich auf seinen Zügen, und nicht leicht fand er die Worte. Aber 187 rührend war es zu hören, wie nun dieser Arbeiter ein Programm entwickelte, das jeder von uns Naturalisten hätte unterschreiben können: Wir wollen nicht die ewige Lüge auf den Brettern sehen, rief er, wir wollen die Wahrheit erfahren über das Leben, und lieber das Schreckliche sehen, Laster und Krankheit, als daß wir uns einen blauen Dunst vormachen lassen von edlen Grafen, die mit Hundertmarkscheinen um sich werfen, und von Kommerzienräten.« –

Und an diese Schilderung knüpft Brahm dann die kühne Schlußfolgerung:

»Und dies war das Wort, das wie ein Leitmotiv durch die Versammlung klang; gebt uns Wahrheit! Nicht klassische und romantische Werke, realistische wollen wir haben, in denen der Wahrhaftigkeitsdrang und der feine Wirklichkeitssinn dieser Zeit sich ausdrückt; wir wollen das Leben sehen, wie es ist, nicht, wie es nicht ist!« –

Sehr gut! Und Herr Brahm will sich und seinen Lesern allen Ernstes einreden, jener arme Mann im »ungestärkten Hemd« habe mit der »ewigen Lüge auf den Brettern« das gemeint, was man litteraturgeschichtlich unter der romantischen oder gar unter der klassischen Dramatik versteht? Aber Herr Dr. Brahm! Wimmelt es denn bei Goethe von edlen Kommerzienräten?! Aber Herr Schillerbiograph, giebt es denn bei Schiller edle Grafen, die mit Hundertmarkscheinen um sich werfen? Nein, jener Arbeiter-Redner hatte die ihm einzig bekannte Litteratur der Kolportage-Romane gemeint, die er mit Recht verurteilte als verlogen! –

Man begann mit Ibsens »Stützen der Gesellschaft«, und den Arbeitern war diese Satire auf die höhere Gesellschaft natürlich sehr angenehm. – Gern hatte sich dies Publikum in alles gefügt; auch darein, daß nach sozialistischem Grundzug jeder Platz im Hause den Preis von fünfzig Pfennig kostete – soviel betrug nämlich der monatliche Vereinsbeitrag – und daß die Plätze ausgelost wurden. Mit verständnislosem Spott nannte ein Berliner Blatt das den »Knobel-Comment der Freien Volksbühne«! – Aber schon die zweite Vorstellung zeigte das Verfehlte in der Wahl eines kraß naturalistischen Dramas: Gerhart Hauptmanns Schauspiel »Vor Sonnenaufgang«! Mußte den Arbeitern nicht die Gestalt des jammervollen Loth, der im Anfang so viel renommiert und dann feige davon läuft – mußte er ihnen nicht wie eine Verhöhnung ihrer eigenen Parteiagitatoren erscheinen? Freilich ging der Vorstand der »Freien Bühne« sehr vorsichtig zu Werke; ein paar Abende vor jeder Aufführung ließ er das betreffende Stück durch einen seiner Redner – z. B. durch Bölsche – erklären. Aber alles dieses half nichts beim »Sonnenaufgang«-Stück. Otto Erich Hartleben, der mittlerweile in Berlin dem Mitarbeiterkreis der Zeitschrift »Freie Bühne« beigetreten war, berichtet darüber unter anderm: »Der zweite Akt wurde, im Gegensatz zu den bisherigen Aufführungen, so kraß herausgebracht, daß einem das Lachen wohl vergehen konnte; das Publikum fühlte auch die Gesamtwirkung dieses grausigen Hofbildes und applaudierte am Schluß in offenbar spontaner Ergriffenheit – im einzelnen aber war es sehr fidel und zum Lachen aufgelegt; das Drastische wurde leicht zum Komischen. Von einer einheitlichen, oder auch nur für eine bestimmte Wirkung geschlossenen Stimmung war unter solchen Umständen natürlich nicht die Rede« . . . Dagegen kam es natürlich wieder zu einer starken Wirkung, als wieder ein wirkliches bühnengerechtes Drama auf der Volksbühne erschien: Ibsens Volksfeind. Daß hierin eigentlich alle Partei-Einseitigkeit bitter verhöhnt wurde, merkten die Zuschauer gar nicht.

188 Die merkwürdige Wahl des Stückes hatte allerdings eine innere Verbindung mit dem inneren Gegensatz, der Wille und Wildberger von ihren »Genossen« zu trennen begann. Und wirklich schien Wille auch in der Oeffentlichkeit die Rolle des Ibsen'schen Volksfeindes spielen zu wollen. Auch unter den Führern der Arbeiterbewegung gab es jetzt plötzlich »Alte und Junge«: den »Alten« blieb nach wie vor die Masse heilig, den »Jungen« aber das Individuum. Sie fingen an mit Verachtung auf die »Herdenmenschen« herabzublicken, und sie sahen in ihrer großen, wohlorganisierten Partei eine Art von Herde, die willenlos dem berühmten Führer folgte. Nun kam hinzu, daß unlängst das Ausnahmegesetz »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« außer Kraft getreten war (30. Sept. 1890). Da über der Partei seit diesem Tage nicht mehr das Damoklesschwert der rücksichtslosen Unterdrückung schwebte, so schien auch die straffe Zentralisierung den »Genossen« nicht mehr so nötig. Sie fingen an, in der Herrschaft der alten Freunde Bebel und Liebknecht einen »Terrorismus« zu erblicken; sie machten ihnen den Vorwurf, den seit alten Zeiten die Jugend gegen das Alter auszuspielen beginnt: daß es erschlaffe, daß es nachgiebig geworden sei, daß es ihm an Thatkraft fehle. – Und – wie dergleichen immer so lange unter der Oberfläche verborgen bleibt, bis es plötzlich hervorschießt wie der Pilz in einer Nacht, – so gab es jetzt mit einem Male eine Partei der »Jungen« in der Sozialdemokratie Berlins, und Bruno Wille, der Herrscher in seinem selbstgegründeten Reich der Freien Volksbühne, war der Führer und der Sprecher dieser »Jungen«. Es gab eine unerhörte Aufregung in der Partei, und die bürgerliche Gesellschaft freute sich, daß die »Roten« einander gegenseitig in die Haare zu fallen begannen. Weiter Blickende hatten ohnehin längst vorhergesagt, daß der Fall des Ausnahmegesetzes innere Spaltungen der Partei zeitigen würde – und nun gab ihnen die Zeitgeschichte recht. Bruno Wille aber war plötzlich der Mann des Tages geworden. Depeschen berichteten über sein Vorgehen von Hauptstadt zu Hauptstadt. Die Zeitungen entwarfen sein litterarisches Porträt. Ein Pariser Interviewer schilderte seinen Landsleuten verwundert, wie er den jungen Löwen des Tages als Sprecher der freireligiösen Gemeinde gesehen und gehört und in ihm, statt eines sprühenden Mannes der That, einen sanften jungen Prediger erkannt habe. Wille war mit einem Male für die weiteste Oeffentlichkeit entdeckt! Aber die ganze Aufregung ging vorüber, wie ein Traum. Bebel erschien in Berlin. Durch den Fall des Ausnahmegesetzes plötzlich von Acht und Bann befreit – durfte er zum erstenmal wieder in der Reichshauptstadt zu den Massen der Seinen öffentlich reden. Zu ungezählten Tausenden strömten die Arbeiter herbei, und im Triumph hielt der alte, jugendkräftige Parteigeneral seinen Einzug in den Riesensaal, wo Wille seiner wartete, umringt von seinem Stabe, in dem sich namentlich die jungen Reichstagsabgeordneten Wildberger und Werner befanden. Der Kampf entbrannte, aber es war von vornherein ein ungleicher Kampf. Bebel brachte Waffen mit, die ihm die Vergangenheit geschmiedet hatte: sein altes Ansehen, sein langes Märtyrerleben für seine Ueberzeugung und nicht zum Geringsten sein Bewußtsein, daß er selbst aus der Klasse derer hervorgegangen, für 189 die er eintrat; und er brachte Waffen mit, die er noch in der Gegenwart täglich neu zu schärfen wußte: vor allem seine stürmische Rednergabe. Gegen ihn konnte der junge Gelehrte, dessen Leib keine Narben aufwies, mit seinem sanften Pastorenorgan so wenig ausrichten, wie seine Genossen. In einer einzigen Schlacht war der kaum ausgebrochene Krieg entschieden, und das Siegel wurde ihm bald danach aufgedrückt auf dem Parteitage zu Erfurt (1891), wo die »Jungen« zahlreich überstimmt wurden und Werner und Wildberger aus der Parteileitung austreten mußten. Darum schieden sie nun freilich nicht aus dem Leben, und auch Wille wirkte noch im Kleinen fort, nachdem er hatte erfahren müssen, daß er eine Agitatornatur im Großen nicht war. Aber ein Teil seiner Jugendgenossen hielt zu ihm, nun noch mehr erbittert durch das rücksichtslose Vorgehen der Alten. Und in manchen jungen Köpfen, denen die »dogmatische« Sozialdemokratie verleidet worden war, tauchte jetzt ein neues »Ideal« auf: das der »Anarchie«.

Natürlich sympathisierte dabei in dieser modernsten Schriftsteller-Gruppe wohl niemand mit den feigen Meuchelmördern, die durch ihre verabscheuungswürdigen Greuelthaten der Anarchistenpartei bis auf den heutigen Tag den nur allzubegründeten Ruf einer Verbrecherbande eingetragen haben. Aber viele unter den Jüngsten hatten sich damals daran gewöhnt, jede Partei nur nach ihren philosophischen Grundlagen zu beurteilen. Und mittlerweile waren ja wieder neue Philosophen volkstümlich geworden.

 


 


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