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In seinem dreiundvierzigsten Lebensjahre stand damals der Berliner Arzt Dr. Konrad Küster. Aus geistig bedeutender Familie stammend, war er selbst ein Mann von regstem Thätigkeitsdrange. Als viel beschäftigter Arzt fühlte er sein Leben doch keineswegs ausgefüllt durch herkömmliche Ausübung seines Berufes, sondern hegte den lebhaften Trieb in sich, auch in weiterem Sinne ein ärztlicher Ratgeber bei der Heilung der Schäden der Zeit zu werden. Nachdem er einige Broschüren über Berufsfragen veröffentlicht hatte, machte er zunächst einen Lieblingsplan wahr, der ihm schon von seiner Studienzeit vorschwebte: eine Reform der studentischen Burschenschaften. In der That rief er eine Bewegung wach, die mit 69 einem Anschlage am schwarzen Brett der Universität begann und mit der Gründung einer ganzen Anzahl von »Reformburschenschaften« an mehreren deutschen Hochschulen endete. Aber auch auf noch jüngere Gemüter wollte er in seiner Ueberzeugung fördernd einwirken, und so schlug er sich mit Eifer zu denen, die eine Reform der Gymnasien im modernen Sinne anstrebten. An Stelle der humanistisch-klassischen Bildung eine naturwissenschaftliche, modern sprachliche Schulbildung zu setzen – mit besonderem Wertlegen auf das Deutsche und die neuere Geschichte – das war sein Wunsch, wie es der Wunsch vieler war, damals aber noch von wenigen öffentlich verfochten wurde. Diese Bestrebungen brachten Küster mit geistig hochstehenden Männern in Verbindung, und so gelang es ihm, einen größern Verein ins Leben zu rufen, dessen Mitglieder Professoren, Schuldirektoren, Schriftsteller und Gelehrte aller Art wurden, der aber seine Pforten auch den Studenten willig und weit öffnete. Diese eigentümliche Zusammenstellung fand einen ganz glücklichen Ausdruck in dem Namen »Akademische Vereinigung«. Auch wurde das Programm von vornherein ein dehnbares, indem man außer der Schulfrage auch etwaige Reformen des Universitätsunterrichts, des Bibliothekwesens und Aehnliches zur Beratung brachte. Ja, bei der regen Vorliebe Küsters für alle modernen Bewegungen wurde seine »akademische Vereinigung« auch die erste, die eine besondere Frauengruppe einrichtete, und diese wurde in der That die erste Keimzelle für den später so einflußreichen Verein »Frauenwohl«. Endlich gab er der Vereinigung auch ein Organ in der sogenannten »Akademischen Zeitschrift«, die nun neben Küsters »Deutscher Studentenzeitung« achttägig regelmäßig erschien. Natürlich erhielt sie auch einen litterarischen Teil, und auch hier öffnete Küster gern jeder neuen Richtung eine Freistätte. Jedoch wurde dieses Gebiet der Zeitschrift bald wesentlich von einem Unter-Redakteur, dem jungen, damals im Anfang der zwanziger Jahre stehenden Leo Berg (geb. 29. April 1862) verwaltet. Dieser steuerte nun das junge Schiff mit vollen Segeln in das Fahrwasser der 70 litterarischen Revolution. Mit eifriger und ziemlich kritikloser Bewunderung verfolgte er von den ersten Anfängen an die Erscheinungen der jüngsten Lyrik, redete den jungen Verfassern in der akademischen Zeitschrift eifrig das Wort, und schnell wurden diese Mitarbeiter des Blattes, namentlich Hermann Conradi, der sich dabei als Kritiker durch Unbefangenheit und Kenntnis der neuen Litteratur auszeichnete. Als die Anthologie erschien, kündigte Berg sie in drei aufeinanderfolgenden Aufsätzen an unter der tönenden Ueberschrift: »Eine neue Litteraturströmung«.
Auch Dr. Küster selbst schrieb einmal:
»Unsere Zeitschrift ist oft sehr warm dafür eingetreten, daß es erste Aufgabe unserer Kunst, somit auch der Dichtung sei, die Gegenwart und nicht längst vergangene Zeiten vorzuführen, weil diese uns am verständlichsten und dadurch am besten auf unser Gemüt, unser Denken, auf unser Handeln einwirken könnte.«
Mit diesen Worten führte Küster einen neuen Dichter in seinen Kreis ein, den Lehrer Dr. Otto Kamp in Frankfurt a./M., der früher einmal bei einem Küster'schen Preisausschreiben für das beste Studentenlied mit seiner frischen kecken »filia hospitalis« den zweiten – leider nicht den ersten – Preis errungen hatte. Dieser ließ jetzt in schwarzem Umschlage ein kleines Heft erscheinen mit dem rotumränderten Titel: »Armeleutslieder«. Im gut getroffenen Volksliederton, wenn auch ohne höheren dichterischen Schwung, gab er darin leichte Skizzen aus den unteren Ständen und leitete sie ein mit den Versen:
»Wir singen einen alten Sang,
den Sang der armen Leute;
der ist nicht fein, nicht kurz und lang,
von gestern nicht, noch heute;
er ist so alt wie Menschenleid,
und drin liegt seine Heiligkeit,
der Sang der armen Leute. 71
Es ist der Schrei der Leibesnot
um allbedürft'ge Dinge;
um Dach und Fach, um Kleid und Brot,
daß die der Tag uns bringe.
Und wo's dem Fleiße nicht gelingt,
was Wunder, wenn er bitter klingt,
der Sang der armen Leute.
Wir wissen, daß es Arme gab
und immerfort wird geben,
daß Menschenglück und Gut und Hab'
verschieden sind im Leben.
Wir wissen's all und klagen noch,
und unablässig schallet doch
der Sang der armen Leute.
Wir sehen, daß wir viele sind
und immerzu uns mehren,
drum klingt das Lied nicht leis und lind
und läßt sich nicht verwehren;
und ist nicht fein, nicht zart und bang
der eine alte, große Sang,
der Sang der armen Leute.«
Wirkliches Zielbewußtsein kam aber in diese litterarischen Bestrebungen der akademischen Zeitschrift erst, als ein einstiger Jünger des Dr. Küster, – Dr. Eugen Wolff – nach Berlin zurückkehrte. Er brachte eine tüchtige Arbeit über des großen Lessing kleineren Bruder Karl Gotthelf mit, und in freudiger Ueberraschung traf er in Berlin die junge litterarische Gärung an, die ihm als ein vielverheißendes Symptom erschien. Selbst damals noch schwankend zwischen dichterischen und wissenschaftlichen Neigungen, und in jugendlichem Ehrgeiz schnell bereit zu einer Führerrolle, nahm er die dargebotene Hand Leo Bergs gern an und half den Verein der »Jüngstdeutschen« festigen.
Ein solcher Verein war mittlerweile schon zusammengetreten. Berg hatte seine litterarischen Beziehungen in persönliche umgewandelt, und Dr. Küster lieh auch dieser neuen »Gesellschaft« gern sein Ansehen.
Ich weiß mich noch deutlich des Augenblicks zu entsinnen, wo ich diesem Kreise zum erstenmal nahetrat. – Denn hier beginnen auch meine ersten persönlichen Beziehungen zu der Welt der Litteratur. – Auch ich war einer von denen gewesen, die aus einer kleinen Stadt in schöner Landschaft in eindrucksfähigen Jünglingsjahren hinübergekommen waren in die Großstadt. In dem Augenblicke, da sich die Pforte des Gymnasiums hinter mir schloß, nahm ich auch Abschied von Bonn und dem grünen Rheinstrom und vom frischen Grabe des Vaters, um als junger Student der Mutter nach Berlin – meiner früh verlassenen Geburtsstadt – zu folgen. Obwohl ich inzwischen noch zweimal die ferne Rheinstadt und die väterliche Universität wieder aufgesucht und mir von dort zuletzt den Doktorhut geholt hatte, so war doch meine Geburtsstadt nun wieder meine eigentliche Heimat 72 geworden, und der von früh an in mir rege Dichtertrieb hatte mir die Litteratur von jeher nahegebracht, auch ehe ich das Studium der Naturwissenschaften mit dem ihrigen vertauschte. Von der jungen Bewegung aber erfuhr ich ganz zufällig. als ich einmal an einem Schaufenster die Hart'schen Monatshefte erblickte, und der Buchhändler in dem jugendlichen Käufer solcher sonst ungekauften Zeitschrift naturgemäß einen Zukunftslitteraten erblickte und mir den Weg zum Herausgeber des Blattes andeutete. Nun verfiel ich meinem Schicksal schnell: Ich ward einer von den vielen, die ehrfurchtsvoll an der Thür Heinrich Harts klopften, begeistert empfangen, nach Vorlesung einiger Verse bewundernd aufgemuntert wurden und dann des versprochenen Abdrucks der Gedichte monatelang vergeblich harrten. Ich las seine Aufsätze über die neue Richtung, wurde zu der Anthologie geführt und wunderte mich, wie wenig die pomphaften Vorreden mit dem Inhalt übereinstimmten; ich versuchte es vergebens, aus Bleibtreus Revolutionsbroschüre volle Klarheit zu erhalten, und wurde doch gewaltig warm bei seinem »dies irae«. Aber zündend schlugen die Verse von Arno Holz in mein Herz. Und als ich nun in einem von mir gegründeten Privat-Theaterverein später Leo Berg persönlich kennen lernte, und von ihm endlich auch zu der Begründungssitzung des neuen Jüngstdeutschenvereins geladen wurde, war es meine größte Spannung, den Dichter Arno Holz zu sehen. Ich sah ihn und noch mehrere andere. An der Tafel, die Dr. Küster mit dem allzu früh ergrauten Haupt und dem jugendfrischen Gesicht überwachte, saßen der jungen Litteraten genug: auch solche, die bisher in den jüngstdeutschen Schriften noch nicht 73 hervorgetreten waren. Zu den ersten, die etwas von ihren eigenen Poesien vorlasen, gehörte ein blonder schlanker Jüngling, dessen schottischer Name im Gegensatz stand zu seinem deutschen Wesen, John Henry Mackay. Seine schon im Druck erschienene Dichtung »Kinder des Hochlands« war mir damals noch nicht bekannt und enttäuschte mich, als ich sie später las. In fünf Gesängen mit wechselndem, niemals rein behandeltem und nur selten fließendem Versmaß wird da auf 76 enggedruckten Seiten erzählt, wie der Hirt Duncan den Mut nicht finden kann, um die Hand der schönen Fischertochter Scheila anzuhalten, die er einst aus einem furchtbaren Gewitter im Hochgebirge gerettet hat. Da er bei dieser Gelegenheit selbst zum Krüppel geworden ist, so fürchtet er: das Mädchen nicht mehr glücklich machen zu können. Aber wie er gerade auf immer von ihr Abschied nehmen will, findet er sie im verzweifelten Ringen mit seinem eigenen bisherigen Herrn, einem frechen Wollüstling. Er rettet sie zum zweiten Male und wird ihr Gatte. Breite Naturschilderungen, die bei aller Begeisterung doch der eigentlichen Anschaulichkeit ermangeln, füllen die handlungsarmen Stellen dieser dürftigen und ziemlich herkömmlichen Geschichte. Um so mehr enttäuschte mich diese Dichtung später, als es mir an jenem Vereinsabend einen tiefen Eindruck machte, wie der junge Poet mit weicher gefälliger Stimme eine Reihe von trefflich stimmungsvollen Liedern vorlas: »Winter- und Frühlingstage am Ostseestrand«, deren erstes lautete:
»Und wieder nun am Meer! Die Lippen dürfen
den salz'gen Hauch der Fluten wieder schlürfen!
Hinaus zum Strand! Vorbei den stillen Hafen,
der eisbedeckt, gebändigt und verschlafen
zur unerwünschten Ruh den Schiffer zwingt,
weil noch den Lenz der Winter niederringt. –
Vorbei! Ich will die Wasser wieder sehn,
zu denen mich die Sehnsucht hergetrieben.
Was schadet es, daß noch kein Frühlingswehn
mit ihnen kost? Mich trieb ein altes Lieben
durch Winterkälte her. . . .
Ich bin am Strand.
Da stehe ich, von Staunen festgebannt.
So weit ich schaue bis in fernste Weite,
deckt Eis das Meer! Kein Wasser rings zu sehn!
nur eine weiße Fläche. Wie sie spähn,
die Blicke, wie ich sie auch suchend breite,
ich sehe Eis und Schnee nur. Langsam steige
ich von der Düne nieder in den Schnee.
Fast wallt es in mir auf wie Geistesweh,
daß ich mein Meer nicht schau'n soll, und ich neige
die Stirn, indes der Fuß auf Eisesplatten,
auf starren Blöcken, wildzerriss'nen, glatten
dahingeht . . . und da dringt zu mir empor
ein dumpfes Murren an mein lauschend Ohr!
Das ist das Meer! So will es mich begrüßen
mit seinen alten, wilden, vollen, süßen, 74
geliebten Lauten! Und ich lausche wieder
und horche zu den dumpfen Tönen nieder.
Das braust verhalten, gurgelt, murrt und grollt
und wühlt eintönig an der Eisesdecke,
Ja Flut, die unter mir den Flutsand rollt –
so recht! – Und wenn du willst, so dehne, recke
die Arme und zersprenge diese Ketten
und schlinge sie in deinen Schlund hinab,
und wenn du magst, auch mich –, wo kann ich betten
mich besser als bei dir? Bei dir ein Grab!
Wie groß und herrlich, wenn die ew'gen Wogen
hin über den verstummten Schläfer ziehn! –
Wie hat der Winter seine Hand gespannt!
Wie hängt doch über mir der Himmelsbogen,
und kalte Winde um die Stirn mir fliehn,
kein Vogelflug, kein Meer, kein Strauch, kein Land –
nur Schnee und Eis! Doch ich war froh – mich grüßte
das Meer auf meinem Gang durch diese Wüste.
Wie weit ich schritt, die dumpfen Laute drangen
herauf zu mir durch das erhab'ne Schweigen,
das alles Leben rings in Banden hielt.
Ich aber mußte mich ihm schauernd neigen,
und wie der Wogen Stimmen mich umklangen,
die, sichtlos, doch die alten Lieder sangen,
hab' ich Unendliches in mir gefühlt.
Eine urgermanische Gestalt in diesem Kreise war der kraftvolle Konrad Gustav Steller, der seine glutvollen Balladen aus der deutschen und römischen Vorzeit vortrug. Neben ihm saß der Bankbeamte Gustav Schmidt, der unter dem Namen Heinz Fabri feurige Oden in Klopstocks Art schrieb. Ein reichbegabtes Mitglied des jungen Vereins war auch Franz Herzfeld, der unter dem Namen Franz Held seinen »realistischen Romanzero« nach einem Ausspruch Bleibtreus »Gorgonenhäupter« genannt hatte. Wunderbar mischten sich in diesen Romanzen Romantik und Realismus. Da sollen zwei Brüder, die dasselbe Mädchen lieben, ihr ein »Nixengeschmeid« aus dem Wasser holen. Der eine stürzt dabei hinab. Der andere rettet ihn mit Gefahr seines Lebens, erbittet aber dafür zum Lohn den Nixenschmuck, den er in der Hand des Bruders erblickt. Da dieser 75 sich dessen weigert, erschlägt der Retter den kaum Geretteten und wirft die Leiche ins Meer. Heimgekehrt zu Schön-Ellen, muß er an einem Nebenbuhler noch einen Mord begehen, und wie er endlich bluttriefend das Mädchen erlangt, wird ihm das kurze Eheglück schwer vergällt durch den Geist des ermordeten Bruders: dessen lehmfarbige Gespensterhand tötet das erste Kind des jungen Paares auf dem Wasser, das zweite über dem Taufbecken in der Kirche. In seiner Verzweiflung beichtet der Mörder lautschreiend seine Schuld, und während ihn der Arm der Gerechtigkeit ergreift, wird seine Genossin nächtlicherweile vor ihrem Spiegel von Geisterhänden erwürgt. – Und das nennt man Realismus!? – Nicht minder phantastisch, aber mit tieferem Sinn erdenkt der Verfasser, der selbst jüdischer Abkunft ist, die Mär von dem Cimbernkönig Cheru, der die jüdische Magd Noëmi von Seeräubern kauft und sie zwingt, seine Gattin zu werden. Zwei Söhne gebiert sie ihm, dann stirbt er, und sie wird nach germanischem Brauch samt dem Schlachtroß auf einem Scheiterhaufen geopfert:
»Hoch auf das Schiff, das am Strande sich bückt,
werden Eichenstämme geschichtet.
An dem Mast, mit Seilen verstrickt,
ragt der Tote, jäh aufgerichtet.
Aus dem Halse des Rappen rinnt
ihm zu Füßen das Blut durch die Spalten,
doch sein geschlossenes Aug' ist blind
für des guten Hengstes Erkalten,
blind für Noëmis Herzblutträufen,
deren Knie seinen Schildrand streifen.
Uebers Gebälk, mit der Mähne des guten
Hengstes fällt ihr Gelock in die Fluten.
Bauchige Flammen bläh'n sich wild!
Schwarzes Segel im Sturmesfegen
treibt dem verglühenden Sonnenschild
das verglühende Schiff entgegen.
Wellen, die sich die Brust zerschlagen,
draus ein blutiger Gischt entschäumt!
Heulender Wolken Heldenklagen
durch das Gewog der Unendlichkeit!
Nach den Leichen der Düne lüstern
sperren scheckige Drachen die Nüstern,
aber sie werden von Qualm umgossen
und die Glut versengt ihre Flossen.
Prasselnd zischt das Gebälk mit Gefauche
in die Flut. Und aus Asche schweben
die drei Leichen zu jagendem Rauche,
geisterblickend in dämmerndem Leben.
Cheru rast durch die Nacht auf dem Roß,
wirft den Arm um Noëmis Hüfte;
bebend umklammert das Weib den Genoß
zwischen dem schillernden Schwarm der Lüfte! 76
Fern wird's hell. Mit sehnenden Klängen
irre Wogen zum Lichte drängen;
Dort aus silberner Meeresglätte
glänzt ein Eiland; der Seligen Stätte.«
Aber dort – in Walhalla – wird Noëmi als Jüdin nicht eingelassen, und auch als später die Seelen der Kinder der Friedensburg nahen, wenden diese sich entrüstet von der Mutter ab, und sie bleibt als die überall Verstoßene jammernd und rachebrütend zurück.
Zu ganz wilder Phantasie reißt den jungen Poeten der Vorsatz fort, das »Sklavenschiff« von Heine zu vollenden.
Er läßt das gerettete Paar Jussuf und Leila zu Ahnherren eines Volkes von Löwenmenschen werden, denen der Stammvater in »zehn Geboten des Zornes« gebietet, ein Leben skrupelloser, nackter Naturfreiheit zu führen.
Neben Held saß in diesem Verein auch Arno Holz, der unlängst eine geradezu gewaltige Zahl seiner herrlichsten Schöpfungen zu seinem »Buch der Zeit« vereinigt hatte – einer hundertstimmigen Liedersammlung, in der von den weichsten Herzenslauten bis zum rollenden Donner alles erschütternd anklingt, was den Einzelnen oder die ganze Zeit bewegt. Schade nur, daß schon übertriebene Franzosenverehrung und Neigung zu boshaftem Spotte sich darin regen. – Neben Holz tauchte auch schon sein Freund Johannes Schlaf auf, der grade in der akademischen Zeitschrift Bleibtreus Broschüre verherrlichte.
Also waren die wesentlichsten neuen Mitglieder der jungen litterarischen Vereinigung beschaffen, die noch vergebens nach einem Namen suchte. Als eine dazu eingesetzte Kommission unter dem Vorsitz von Arno Holz nur schlechte Witze darüber zu Tage förderte, fand Dr. Küster glücklich das Wort »Durch«. So hatte nun der Verein in seinem Namen sein Programm. Aber Eugen Wolff sorgte schnell dafür, daß es noch deutlicher formuliert werde. Auf seine Anregung wurde beschlossen, in abendlichen Vorträgen die Meinungen darüber auszutauschen. Am 12. September 1886 brachte die »akademische Zeitschrift« folgende Notiz: »In der freien litterarischen Vereinigung »Durch«, welche ein Sammelplatz vornehmlich für die jungen, modernsten Dichter und Schriftsteller bilden will, sprach Freitag, den 3. September Dr. Adalbert v. Hanstein über »das Drama der Zukunft«. Weit entfernt aber, sich nebelhaften Träumen hinzugeben, faßte er seine Aufgabe sehr richtig auf dahin, daß er eine historische Betrachtung derjenigen Litteraturströmungen alter und neuer Zeit anstellte, welche auf die Fortentwicklung des deutschen Dramas befruchtend einwirken können.«
Daran schloß sich Eugen Wolff an mit dem zweiten Vortrag über das Thema: Die »Moderne« zur Revolution und Reform der Litteratur, den er gleich darauf in der akademischen Zeitschrift veröffentlichte. Er äußert darin, drei Strömungen böten sich in der Litteratur der Gegenwart dar: »Erstens jenes dilettantische Blaustrumpfwesen, welches in erschrecklich gesegneter Fruchtbarkeit reich an Wasser, aber arm an Blut, jahraus, jahrein seine Dutzendmachwerke mit schablonenhafter Geschicklichkeit auf den Markt wirft« . . . Zweitens eine Gruppe, die 77 »mit ermunternder Elektricität geladen« scheint, aber »kein stärkender, gesund erfrischender Schlag ist die Wirkung, sondern ein raffinirtes Kitzeln, und wir müssen wohl erkennen, daß hier kleine unedle Geister in einer verunglückten Spekulation auf große edle Gefühle befangen sind.« Und drittens die Epigonenklassicität. Nachdem Wolff diese alle drei zurückgewiesen, verneint er die Anschauung, daß die »nationalen Ereignisse« die neue Dichtung direkt beeinflußt hätten, ebenso wie er die Meinung verwirft, daß die Litteratur des Auslandes die Veranlassung gegeben habe; und er widerspricht auch der Anschauung, daß ältere Richtungen die neue Bewegung hervorgerufen haben könnten, wobei er allerdings richtig zeigt, wie falsch der Selbstvergleich der Jüngsten mit den Stürmern und Drängern oder mit dem »jungen Deutschland« von einst sei. Und endlich schließt er:
»Also eine neue Litteraturbewegung trotz diesem und jenem, mit einzelnen heilsamen Befruchtungen durch Aelteres und Fremdes, aber mit durchaus unmittelbarer Urquelle. Bleibt doch auch kein anderer Entstehungsgrund übrig!«
Nun stellt er als die drei wichtigsten Fragen der neuen Poesie auf: »die soziale Frage«, »die Nationalitäten-Frage« und »die religiöse Frage«. Am Schlusse aber bringt er ein lebensvolles Bild:
»Treten wir in einen Tempel unmittelbar vor das Bild der antiken Göttin hin, alsbald werden wir in Andacht niederknieen, wortlos, wunschlos, gedankenlos. . . . Da tönt von außen ein Tosen und Brausen an unser Ohr, erschreckt fahren wir aus unserer Andacht auf, wir stürmen hinaus und siehe: Ueberall Bewegung, Handlung und das Bild des modernen Lebens. Nein, die stille kalte Antike ist nicht mehr unser höchstes Ideal. Aber, wie es finden? – Dort weist einer auf die Dirne, die sich frech durch die Straße spreizt und jagt ihr nach. . . . Ist dies unser modernes Ideal? Dann wehe! Dann gehe der Jünger der Kunst in den antiken Tempel zurück, lieber bei den göttlichen Toten zu sterben, als bei den entgötterten Lebenden zu leben. Aber da eilt ein anderes Weib durch das Gewühl, ein junges Weib mit jenem Glanze der Keuschheit, wie er keine Jungfrau zieren kann, denn es ist nicht der harmlose Zug der Nichtwissenden, es sind die schmerzverklärten Züge der Wissenden, die überwunden hat. Nicht Ebenmaß der Glieder schmückt dies Weib, in wilder Schönheit umrahmt ihr Haar Stirn und Nacken, und in wilder Hast stürmt sie dahin. . . . . Daheim harrt wohl ein geliebter Sprößling ihrer, für den sie tagüber arbeitet; nun wird sie mit ihm vereint den Lohn der Arbeit genießen, darum verdoppelt sie ihre Schritte. Und wer, gefesselt von ihrem Anblick, ihr folgt, der idealsuchende Jüngling, wagt auch dieses Weib nicht zu berühren, wie jene Göttin, aber er mag auch nicht vor ihr niederknieen, ihr muß er folgen, mit Eifer nachstreben, um ihr nahe zu sein, wortlos, wunschlos . . . aber nicht gedankenlos, vielmehr lebt es in ihm auf, wie wenn ein lang Gesuchtes gefunden, ein lange nach Gestaltung Ringendes sich gestaltet, und es flüstert in ihm: »Die Moderne!«
Hier war offenbar der Dichter mit dem Litteraturpropheten durchgegangen, und der versgeschwinde Karl Henckell in der Ferne säumte nicht, sich das dankbare Motiv zu Nutze zu machen. Er sandte, kaum daß er es gelesen, ein Gedicht:
Bild nach dem Motiv »Die Moderne« von Eugen Wolff:
»Lärmen, Brausen, Tosen, Jagen,
geisterhelles blaues Licht,
Karren, Pferdebahnen, Wagen,
achte all' des Trubels nicht!
Hab' ich doch ein Weib gesehen,
eh' es im Gewühl verschwand,
hastig hier vorübergehen,
das die Seele mir gebannt.
Ach, kein holdes Maß der Glieder
schmückte edel die Gestalt,
keiner Liebesgöttin Mieder
übte reizende Gewalt. 78
Aber schön in wilden Fluten
nieder floß das schwarze Haar,
und in seelenvollen Gluten
glomm das tiefe Augenpaar.
Auf der notgefurchten Stirne
thronte ihr ein menschlich Weh,
die vor Menschen eine Dirne,
herzensrein wie Waldesschnee.
Schwere Arbeit, saure Plage,
harter Frohnden trübe Last,
ohne Murren, ohne Klage
kehrte sie zu kurzer Rast.
Kehrte wohl zu ihrem Knaben,
der die Mutter lächelnd ließ,
an dem Kusse sich zu laben,
der entehrte Not versüßt.
Eile, Mutterliebe, eile,
die kein stolzer Sänger nennt.
Dulde, daß ich bei dir weile,
der dein Herz von fern' erkennt.
Was im Sinn mir wühlend gärte,
läuterte zu reinem Leid
deine rührend schmerzverklärte
heldengroße Herrlichkeit.«
Mit gleicher Leichtigkeit hätte sich wohl auch noch eine Novelle aus der frischen kleinen Skizze machen lassen – aber – was sagte sie als Litteraturprinzip? Mit der einen Hand warf der Reformator das Bildnis der Göttin um, mit der andern wies er die Dirne aus dem Tempel, und nun lud er die Arbeiterin auf den leeren Sockel im Heiligtume ein! Sollte sie denn nun der einzige Gegenstand der Kunst werden? Gewiß nicht, und so fühlte denn Wolff, daß er sich klarer ausdrücken müßte, und faßt seine Meinung von der Zukunft der Litteratur in folgende zehn Thesen zusammen:
Wolff wünschte und glaubte damals, daß die Mitglieder des jungen Bundes diese Thesen durch Unterschriften zu den ihrigen machen sollten. Ich weiß noch, daß ich zu denen gehörte, die sich weigerten, ihre freie dichterische Entwickelung in dieser Weise einzubannen. Als die Thesen daher in Dr. Küsters neugegründetem Blatte, der »Deutschen Universitätszeitung«, abgedruckt wurden (1. Jahrgang, Nr. 1 vom 1. Januar 1888), wurde auch ganz im allgemeinen davon gesprochen, daß diese Sätze ungefähr das Streben der Mitglieder des Vereins »Durch« zum Ausdruck brächten. Immerhin ist es heute von Interesse, diese klaren Thesen zu lesen und mit der späteren Entwickelung der Litteratur zu vergleichen. Auch hat meines Wissens Wolff zum erstenmal im Gegensatz zur »Antike« damals das Wort »Die Moderne« gebildet.
Im übrigen behielt der ganze Verein nicht seine Bedeutung. Wolffs anerkennenswerter Wunsch, keine »Clique« und nicht einmal eine »Schule« zu bilden, erfüllte sich – aber eben darum konnte sein andrer Wunsch sich nicht erfüllen, daß von hier aus eine litterarische Revolution ausgehen könne. Denn Revolutionen brauchen einseitige Programme, Zusammenrottungen unter energischen Führern und flatternde Banner mit knappen, kernigen Devisen. Revolutionen setzen einen Herden-Trieb voraus, der zu blinder Gefolgschaft führt; die so grundverschiedenen Elemente unseres Vereins aber hielt nichts zusammen, als das Bewußtsein jugendlichen Aufstrebens. »Durch« wollten wir, d. h. wir wollten die eigene Individualität zur Entwickelung bringen – das aber ist das grade Gegenteil von einem geordneten Heerzuge der Massen. Obwohl daher der Verein noch eine Zeitlang bestand, obwohl namentlich die Brüder Hart demselben noch lange ihre Neigung bewahrten, obwohl Bleibtreu und andere Heerrufer vorübergehend erschienen, so blieb er doch nur das, was er hatte sein sollen: ein Sammelpunkt – und wurde nicht, was die Wortführer verlangten und was doch dem Worte nach schon ein Widerspruch ist – eine »Dichterschule«.
Und das war überhaupt das Zeichen der ganzen jungen Litteraturbewegung in den Jahren 1885 und 1886 gewesen, in München wie in Berlin – die Jugend drängte sich überall hervor, bald schüchterner, bald dreister; aber sie zwängte sich noch nicht ein in neue Theorien, sie wollte die kaum erkämpfte Freiheit noch nicht wieder hergeben für ein akademisches Schlagwort, wie es später der »Naturalismus« wurde. Nur ganz im allgemeinen hatte sie einen Gegensatz geschaffen: den Gegensatz der Alten und der Jungen. – 80