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So waren die modernen Stoffe wieder in den Vordergrund gerückt, aber der Trieb zum Geschichtlichen und zum Versdrama ließ sich nicht mehr unterdrücken. So errang damals im Wallner-Theater unter der kurzen Direktion von Fritz Lesser ein Schauspiel aus der brandenburgischen Geschichte einen starken Erfolg. Es führte einen neuen Autor in die dramatische Litteratur ein. Max Meßner (geb. 11. März 1860 in Berlin) hatte schon 1884 mit seinem Drama »Michael Servet« Beachtung gefunden, aber keine Aufführung erreicht. Aus dem Leben des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg hatte er die bekannte Episode ausgewählt, wo der junge Herrscher dem Testament seines Vaters zufolge grausam mit den Raubrittern aufräumt. Willibald Alexis hat in seiner Novelle »Die Hosen des Herrn von Bredow« dem Stoffe unübertreffliche epische Form verliehen. Ganz unabhängig von ihm benutzte Meßner den Stoff dramatisch. Steht bei Alexis der Geschichte entsprechend der vertrauteste Freund des jungen Herrschers nur darum auf der Seite der Raubritter, weil er selber einer ist, so faßt Meßner den Konflikt dramatisch so auf, daß Otterstedt, des Kurfürsten Freund, sich der Hinrichtung der Räuber nur darum widersetzt, weil er den Geburtsadel für erhaben über die Schmach des Henkerstricks hält. Zwei Weltanschauungen kommen zum kraftvollen Ausdruck: die ausgleichende Gerechtigkeit, die der Kurfürst vertritt, und die veraltete Auffassung von der Unantastbarkeit und Unfehlbarkeit des Adels, für den Otterstedt kämpft. – Stark und nachhaltig war die Wirkung.
Auch Georg Ruseler führte sich glücklich mit einer dramatischen Gestaltung der Kämpfe der Stedinger in der Weser-Marsch ein. Doch fand das Schauspiel 288 nur aus dem heimischen Hoftheater in Oldenburg einen vollen Widerhall. Mit weniger Glück versuchte er sich 1893 noch an dem alten Hohenstaufenstoffe Konradin. Wie Herrig, Martin Greif und andere suchte er das handlungsarme Schicksal des letzten Hohenstaufen durch eine Doppelliebesgeschichte zu beleben. Er hat sich als Jüngling mit Agnes, der Tochter seines Erziehers, des norddeutschen Ritters Eckhard von Dreschen, verlobt. Aber bei seinem Römerzuge begeistert ihn Julia, die leidenschaftlich hochsinnige Tochter des römischen Ritters Frangipani. Er bricht der fernen Agnes die Treue, weist seinen getreuen Eckhard von sich und verlobt sich mit Julia. Aber Frangipani liefert den Schwiegersohn durch Verrat in die Hände des grimmen Karl von Anjou, der ihn zum Tode verurteilt. Auf Bitten der herbeigeeilten Agnes aber will er ihn begnadigen, falls Konradin dauernd auf das südliche Erbland verzichtet. Schon läßt sich der Jüngling durch die einstige Braut dazu überreden, da erscheint Julia und verlangt von ihm, daß er als Mann und Held sterben solle. Schnell umgestimmt, beugt er sich dem Henkerbeil, Julia tötet sich an seiner Leiche, und Agnes geht in ein deutsches Kloster.
Man kann gewiß nicht sagen, daß die an sich schon weiche Gestalt des letzten Hohenstaufen durch solches Schwanken in Liebeswirren sympathischer geworden sei. – Fehlte hier die Beziehung des geschichtlichen Stoffes zur Gegenwart, so fand eine solche Kirchbach in dem Vergleich der Eroberung Mexikos mit den Goldstrebern der Neuzeit. Im Tempel ruht das heilige Gold. Da dringt Pizarro ein mit seinem Heer, um dies Gold zu rauben und zu münzen. Von Akt zu Akt wächst die Wut auf das Gold. Durch seine Massenhaftigkeit verliert es den Wert unter den Räubern, und wie schon der Sonnenkönig tot auf dem Thron sitzt, da brechen die Spanier in das Gewölbe ein und plündern die Jahrhunderte alten Mumien. So stellt des »Sonnenreiches Untergang« (1894) die Schrecken des moralischen Untergangs im Materialismus dar, und Pizarro selbst ruft entsetzt:
Verflucht der Reichtum, der uns nur zerstört
und ohne Segen uns zermalmen wird!
Im folgenden Jahre griff Kirchbach mitten in die modernste Kriegsgeschichte hinein, indem er den Helden von Chartum – Gordon Pascha – und seinen Untergang im Mahdistenkrieg schilderte. Gleichzeitig mit seinem »Sonnenreich« aber hatte ein junger Feuilletonist gleichfalls aus der neueren Kulturgeschichte nicht ohne Glück seine Dramenstoffe gewählt. Es war Heinrich Landsberger, der sich Heinrich Lee nennt (geb. in Hirschberg i. Schles. am 24. Juni 1862). In seinem »Examen« hatte er die ehrwürdige Gestalt des Philosophen Kant mit außerordentlich feiner Auspinselung aller Seiten seines Charakters in den Mittelpunkt einer scherzhaften, aber lebensvollen Handlung gestellt, und 1894 machte er die Gründung des Zollvereins zum Motiv eines sehr sauber durchgeführten geschichtlichen Bühnen-Zeitbildes »Der Schlagbaum«. – Ja, das Verlangen, den geschichtlichen Stoff in der modernen Zeit zu suchen, ging so weit, daß Walter Harlan (geb. den 25. Dez. 1867 in Dresden) gar den Versuch machte, in seinem Schauspiel »Im April« (Leipzig 1895) die Jugend- und Liebesgeschichte Bismarcks zu dramatisieren! – Und auch die moderne Weltanschauung suchte man symbolisch in dramatische Form 289 zu bringen. So verfaßte der bekannte Wiener Musiker Adalbert von Goldschmidt (geb. 5. Mai 1848 in Wien), der Komponist verschiedener Opern, ein großes merkwürdiges Melodrama, in dem die Dichtung bei weitem die Hauptsache ist. In diesem geistreichen Mysterium »Gäa« sind alle Figuren symbolisch. Da erscheint die Erde als Weib; Aeon, die Zeit, tritt dazu, die Geister des Wassers und Feuers treten auf, der Teufel und der Liebesgott Eros zeigen sich, und aus ihrem Liebesbunde entspringt beim wunderbaren Erwachen der ganzen Natur der erste Mensch Kadmos. Und nun wird die ganze Entwickelungsgeschichte der Menschheit an ihm symbolisch dargethan: die Zeiten der jugendlichen Urkraft, die der Spekulation, das Christentum mit seinen Entstellern und seinen Gegnern – die moderne Weltanschauung, die Naturwissenschaft – kurz, alles, alles wird in einer verwickelten, aber formschönen Symbolik vorgeführt. Endlich stirbt Kadmos, und seine verzweifelnde Mutter Gäa stürzt sich in die Tiefe des Weltenraumes. In das allgemeine Dunkel aber ruft eine Stimme aus der Höhe:
»Die Thräne ist gestillt,
der Trieb des Werdens quillt!«
So soll angedeutet werden, daß nach dem Untergang des Menschengeschlechts und nach Zertrümmerung der Erde das unendliche Weltall wieder Neues hervorbringe. – Zur Ausführung des Werkes kam es freilich nicht, aber Reicher trug es in Berlin öffentlich vor, und es erschien zuerst in französischer Sprache in einer Uebersetzung von Catulle Mendès.
Mitten in diese geschichtlichen und symbolischen Regungen hinein fiel die Uebernahme des »Deutschen Theaters« durch Otto Brahm (1894). Bei seiner Abschiedsvorstellung hatte L'Arronge einzelne Szenen aus allen Klassikern gegeben, und darunter hatte er auch schon Hauptmann gerechnet. Als nun jetzt nach der Sommerpause Brahm die Zügel ergriff, da wußte man, daß nun ein förmliches Hauptmann-Theater entstehen würde. Zur Eröffnungsvorstellung wählte der Schillerbiograph freilich »Kabale und Liebe«. Doch zeigte sich dabei, wie wenig wahres Verständnis Brahm für Schiller besaß. Denn dies ganz von glühender Leidenschaft getragene Schauspiel wollte er auf den Ton des naturalischen Kleinstils 290 spielen lassen, und so wirkte die unsterbliche Tragödie – stellenweis komisch. Und an der gleichen Stillosigkeit scheiterte Hauptmanns Versuch, den Holz'schen Sekundenstil anzuwenden auf ein Geschichtsdrama: »Florian Geyer« betitelt. Hauptmann hat hier den Helden nicht in seinen Thaten, sondern in der Wirkung derselben auf die Umgebung zeigen wollen. Das wirkliche Geschehen will er erkennen lassen aus dem Rückschlag auf die Stimmung der handelnden Personen. Mit demselben Recht aber könnte man aus einem Bilde einen Eichbaum malen wollen, indem man nur den Schatten malt, den er in einer Mondnacht auf die Wiese wirft. Mit demselben Recht konnte man Goethes Leben schildern, indem man nur aus den Gesprächen seiner Verehrer die Wirkung seiner Werke zeigen würde. Das sind Unmöglichkeiten. Den Helden Florian Geyer kann man nur vor den Augen des Beschauers erstehen lassen, wenn man ihn auf dem Schlachtfeld und im Versammlungssaal in scharfem Gegensatz gegen seine Widersacher hinstellt. Wie die Weber vor unsern Augen hungern und sich empören, hätten die Bauern erst vor uns als Gemißhandelte dastehen müssen, dann mußte ihnen der Retter erstehen. Statt dessen ist es umgekehrt. Wir sehen erst vier Akte lang die Niederlagen der Bauern, dann erst ihre Mißhandlung. Wir sehen den gebrochenen Florian, und dann erst wird er zum Helden. Das sind Kunststücke, die zu bedauern sind bei einer so reich begabten Natur wie Hauptmann. Er hat es nicht nötig, Absonderlichkeiten zu begehen, um aufzufallen. Die Heerstraße der Dichtung ist erprobt seit Jahrhunderten. Nach neuen Heerführern verlangt sie, nicht aber nach Wegebauern, die aus den Felsen Thäler und aus den Brücken Berge machen wollen. – Und so wurde trotz aller Bemühungen seiner Anhänger die Erstaufführung des »Florian Geyer« eine Niederlage für Hauptmann.
Daß aber das historische Schauspiel als solches dem Bedürfnis der Zeit vollständig entsprach, bewies die unmittelbar auf die Geyer-Première folgende Erstaufführung von Wildenbruchs neuem Schauspiel »König Heinrich«. Hier hatte sich dieser Dichter endlich, endlich – wiedergefunden! Seit den »Quitzows« wies dies Schauspiel zum ersten Male wieder alle Vorzüge Wildenbruchs auf – freilich auch manche alten Fehler. Von hinreißender Kraft ist das Vorspiel und der erste Akt. Das Vorspiel zeigt den Knaben Heinrich in den verwirrenden Eindrücken, die seine Erziehung zu einer so verfehlten machten. Der erste Akt des eigentlichen Schauspiels entwirft in großen Zügen das Bild des leidenschaftlichen jungen Herrschers voll Feuerkraft, aber ohne jede Selbstbeherrschung. Wie er es mit allen verdirbt: mit seiner Gattin, mit den Großen seines Reichs, mit den päpstlichen Gesandten, deren gewaltigen Oberherrn er mit einem einzigen Federstrich, mit einem sackgroben Brief aus der Welt zu schaffen glaubt! Der zweite Akt zeigt ebenso groß und kühn das Bild des Papstes Gregor. Drei Verbrecher melden sich bei ihm zur Buße: Der eine hat den Papst selbst bestohlen: das wird ihm sofort großmütigst verziehen. Der zweite hat einen Mord begangen – dafür wird ihm schwere Buße auferlegt, aber endliche Verzeihung in ferne Aussicht gestellt. Der dritte aber hat die Kirche beraubt – ihn erklärt Gregor für ewig verdammt. Trefflicher kann das Charakterbild dieses Kirchenfürsten nicht erfaßt 291 werden, der für sich als Mensch nichts begehrte, aber in seiner Eigenschaft als Papst den Cäsarenwahn der römischen Imperatoren übertraf. – Nun kommt die Gesandtschaft Heinrichs mit dem groben Brief; und die sofortige Erklärung in Acht und Bann – die selbstverständliche Antwort dieses Papstes – bildet wirkungsvoll den Schluß des zweiten Aktes. Aber der dritte Akt, der nun folgen müßte, scheint ganz zu fehlen. Nun erwarten wir doch in Deutschland die große Reichstagsszene zu sehen, wo wir die Wirkung der päpstlichen Bannbulle auf die Großen des Reichs und auf diesen hochfahrendsten, aber auch kraftstrotzendsten aller jungen Könige beobachten könnten. Aber nichts von alledem. Wir treffen einen ganz anderen Heinrich, in dem wir den ersten gar nicht wiederzuerkennen vermögen! Einen längst entthronten und darüber jammernd Verzweifelnden! Nach einer weinerlichen Szene mit Kindern am Weihnachtsbaum beschließt er, mit seiner Frau nach Italien zu gehen und Buße zu thun. Aber im vierten Akt setzt Wildenbruchs großartige Kraft wieder ein. Gewaltig erscheint wieder die Gestalt des Papstes, wie er in seinem Hochmut den Kaiser draußen warten läßt. Und psychologisch richtig ist hier der junge Fürst gezeichnet, wie er sich anfangs zur Demut zwingt, um dann wieder im Heldenmut emporzulodern. Schade nur, daß der fünfte Akt wieder völlig aussetzt. An Stelle der großartig dramatischen Stellen, die von der Weltgeschichte hier dargeboten werden – nichts als ein Gespräch zwischen Papst und König in der Engelsburg! An sich erscheint es unmöglich, daß der König sich in die belagerte Burg einschleicht; und das Gespräch selbst hat nur einen Zweck für die Fortsetzung des Stückes, die erst ein Jahr später auf der Bühne erschien. Sie brachte unter dem Titel »Kaiser Heinrich« eine dramatische Schilderung des gealterten Fürsten und seines Streites mit seinem gleichnamigen Sohne. Steht dieser zweite Theil auch an Theaterkraft hinter dem ersten zurück, an geistigem Gehalt überragt er ihn, denn eine ganz eigenartig-deutsche Weltanschauung durchdringt ihn. – Nun, die ungeheure Wirkung des Stücks bewies in seiner Uebereinstimmung mit dem vollständigen Abfall des »Florian Geyer« wieder einmal, wonach die Zeit in Wahrheit verlangte. Man war der ewigen Weichlinge und Schwächlinge herzlich satt – und wenn sie mit noch so großer Kunst geschildert waren! Man verlangte Helden, Kraftnaturen – und wenn ihr Bildnis noch so viel Zeichenfehler des Malers aufweisen sollte. Mit dieser Forderung hatte die litterarische Revolution begonnen – der geleckte Naturalismus hatte sie nicht erfüllen können. Und darum stand Wildenbruch, wie am Anfang der Bewegung, so auch an ihrem Ende, noch immer siegreich und ungestürzt da, trotz all seiner Mängel, – denn er hatte wenigstens Kraft und Temperament!