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»Tausendfältig dringt den Theaterleitern der Ruf in die Ohren: Berücksichtigt die moderne Produktion! Gebt neue Stücke!»Wo sind die neuen Stücke?« fragt der bekannte Kritiker Neumann-Hofer in einem Artikel »Die Tragödie der Zukunft«. (Ei, Ei! Vergleiche den Passus »das Theaterdrama« in meiner Broschüre »Der Kampf ums Dasein der Litteratur«.) Er erklärt darin das alte Jambendrama für völlig überwunden. Einem neuen Bahnbrecher werde es gelingen, »den unpersönlichen Mächten der gegenwärtigen menschlichen Organisationen« ein poetisches Relief zu verleihen. »Ist jener große Genius nahe? Ist er da? Vielleicht beantwortet der Kritiker dereinst diese Frage.« –
So schrieb im Jahre der »Quitzows« der ungeduldige Karl Bleibtreu.Weltgericht, Seite 199.
Natürlich meinte Bleibtreu in bekannter Selbstbewunderung mit diesem Genius sich selbst. Er strebte damals in immer neuen, niemals aufgeführten Bühnenmanuskripten – die stets im Druck erschienen – danach, mit völliger 127 Vermeidung aller eigentlichen Erfindung reine Geschichte in die knappste Bühnenform zu zwingen.
Im Personenverzeichnis seines »Schicksal« findet sich nicht ein einziger Name, dessen Träger nicht eine historisch beglaubigte Person wäre. Die Sprache ist die nüchterne Prosa des Geschichtsbuchs: das historische Ereignis ist ihm nicht der Stoff, aus dem er mit freischaffenden Künstlerhänden etwas Neues formt, sondern wie der Porträtmaler möchte er es nachzeichnen. Und doch soll es ein richtiges Bühnendrama werden. Er gönnt sich nicht Shakespeares kühne Freiheit, den Schauplatz der Handlung immerwährend zu verlegen. Nein, in fünf knappen Akten, mit denkbar geringstem Szenenwechsel will er das ganze Leben Napoleons gestalten; wir sehen den Helden erst als dunklen Punkt in der glänzenden Gesellschaft, dann, wie er beim Ausbruch einer Volksrevolution in Paris dem verzweifelnden Konvent plötzlich als der geniale Mann der That ersteht, und wie er im dritten Akt als der allgefürchtete Retter von Paris nach Italien verschickt wird, stolzer Hoffnungen voll. Dann aber klafft eine ungeheure Lücke. Als Kaiser der Welt treffen wir ihn wieder am Anfang des vierten Akts. Sein ganzes eigentliches Leben hat er hinter den Coulissen gelebt. Mit der Aussicht auf den russischen Feldzug schließt der Akt, und im Park von Malmaison treffen wir den gestürzten Tyrannen wieder, wie er von den Seinen und der Garde Abschied nimmt, um als Kriegsgefangener in Verbannung zu gehen. Natürlich klappen die beiden Akte zusammenhangs- und wirkungslos nach. Alles, alles kann das Drama eher vertragen, als eine Lücke im Stoff, die es in der Mitte auseinanderreißt. Nur eine Idee soll die beiden Hälften verbinden: Bleibtreu nennt seine Napoleon-Tragödie darum »Schicksal,« weil er in der ersten Frau des Emporkömmlings, in Josefine de Beauharnais gleichsam sein verkörpertes Schicksal sieht. Dichterisch führt er das in den drei ersten Akten auch klar durch. In der Gesellschaft bei Barras, im ersten Akte schon, fassen die beiden ein flüchtiges Interesse für einander; in der stürmischen Konventsversammlung im zweiten Akte ist Josefine die erste, die an den plötzlich hervortretenden Bonaparte glaubt, und im Augenblick, wo er sich selbst zum Kommandanten von Paris vorschlägt, da giebt sie ihm einen klugen diplomatischen Rat; und wie er, auf der Rednertribüne stehend, davon mit Glück Gebrauch macht, blickt er zur Galerie hinauf zu Josefine, wie zu dem Stern seines Schicksals. Trefflich steigert sich das im dritten Akt, wo der Retter von Paris, vom Konvent mit Undank belohnt, der neugewonnenen Freundin seine Hand bietet und wo sie durch raffinierte, übrigens echt französische List dem Geliebten das Kommando der italienischen Armee verschafft. Aber nun werden auch diese straff angesponnenen Fäden durch die gräßlich klaffende Lücke erbarmungslos zerrissen. Im vierten Akt ist unglaublicherweise Napoleons Scheidung von Josefine schon beschlossene Thatsache, und im fünften Akte erscheint die Schicksalsfrau nur noch in rührseliger Beleuchtung im Hintergrunde. Also gerade da, wo die eigentliche Seelenmalerei hätte einsetzen sollen, da verwandeln sich die leuchtenden Farben des Oelgemäldes in flüchtige Bleistiftstriche! Das so kraftvoll Angefangene endet wie das bekannte Hornberger Schießen!
128 Nun war die ganze Idee mit der Schicksalsfrau in Wirklichkeit gar nicht durchzuführen. Ein Schicksal hat über Napoleon gewaltet; aber dieses Schicksal verkörpert zu sehen in jener koketten Pariser Salondame, ist an sich ein unmöglicher Gedanke, wenn auch die geschichtlichen Nachweise nicht längst dargelegt hätten, wie sehr schon Napoleon in Italien Grund hatte, der herzlosen Josefine zu grollen. Und doch ließ Bleibtreu von diesem unglücklichen Gedanken nicht ab bei mannigfachen Neubearbeitungen.Vgl. Der Zeitgenosse, Jhrg. l, Heft 3 u. 4 und Deutsche Dramaturgie, Organ der deutschen Bühnengesellschaft, und endlich das Bühnenmanuskript der Firma A. Entsch »Der Uebermensch«, Charakterbild in fünf Akten von Karl Bleibtreu, Berlin 1896.
Noch in der letzten Fassung sagt er: »Die wirkliche Josefine durften wir nicht vorführen, dies frivole, ungebildete, oberflächliche Dämchen, dem nur eine gewisse Gutherzigkeit, blendende Liebenswürdigkeit und später zärtliche Anhänglichkeit an ihren Gebieter nicht abzusprechen sind. Wir brauchen die »edle« Josefine der Legende, um den Gegensatz ihres schuldlosen Leidens zur Schuld des Uebermenschen zu betonen.«
Diese Aeußerung verblüfft geradezu aus dem Munde eines Mannes, der ja gerade das streng geschichtliche Schauspiel schaffen will. Und er braucht die Legende? Einen vollständigeren Beweis für die Unmöglichkeit des von Bleibtreu geplanten realistischen Geschichtsschauspiels kann es doch wohl nicht geben – als die beigefügte Erklärung Bleibtreus selbst.
Welch dramatische Charakteristik aber Bleibtreu entfalten kann, das beweise folgende Probe aus dem Schluß des zweiten Aufzugs:
8. Szene.
Murat (stürzt von links vor den Präsidententisch. Im selben Augenblick erscheint Bonaparte von rechts).
Viele Stimmen (durcheinander). Reden, reden!
Barras. Reden Sie!
Murat. Die Aufrührer, offenbar durch das lange Zögern des Konvents ermutigt, gehen zum direkten Angriff auf die Tuilerien über. Von allen Seiten strömen die Heerhaufen der Empörer heran. Man schätzt sie auf 40 000. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß sie den Konvent selbst in den Tuilerien aufheben wollen.
(Großer Tumult hinter der Szene und auf den Galerien.)
Viele Stimmen (durcheinander). Verrat! Wer rettet uns?
Gasparin. Bonaparte!
Bonaparte (mit starker Stimme, um den Präsidententisch herumtretend). Hier ist er. – Zur That! Bürger Präsident, wieviel Geschütz?
Barras. Wir haben 5000 Mann und –
Bonaparte (barsch). Ich frage nicht, was ich schon weiß; antworten Sie! Wieviel Kanonen? – Ah, Sie wissen nicht?
Barras. Die Truppen des Konvents –
Bonaparte. Dummes Zeug! Eine Revolte wirft man nicht mit Flinten nieder, sondern mit Kartätschen. (Sich umschauend) . . . . Joachim Murat, ich rufe dich.
Murat (salutierend). Hier, mein General!
Bonaparte. Komm her! (Bei Seite zu ihm). Kennst du den kürzesten Weg nach der Ebene von Sablon? 129
Murat. Gewiß, was soll ich dort?
Bonaparte. Vierzig Kanonen, die man den Terroristen beim letzten Kampfe abnahm, stehen dort parkiert. Man scheint sie vergessen zu haben. Sie sind unsere sicherste Waffe.
Murat. Du denkst an alles!
Bonaparte (schreibt auf ein Blatt seines Notizbuches). Nimm drei Schwadronen und bringe die Geschütze so geheim als möglich hierher! (Man hört die Glocke zwölf schlagen.) Ah, Mitternacht! Wir haben noch sechs Stunden bis Tagesanbruch. Also fort!
Murat. Ich fliege!
Bonaparte. Halt, noch eins. (Mit feierlichem Ernst.) Joachim Murat, ich habe ein Auge auf dich. Sei versichert, daß mein Schicksal auch das deine sein soll! Deine Carrière beginnt: – Bringst du die Kanonen?
Murat (fest). Ich bringe sie! (Eilig ab.)
Barras (der wie die übrigen Bonaparte beobachtet). Erlaube mir, Bürger General, welchen Auftrag gabst du? –
Bonaparte (barsch). Das geht dich nichts an. Ordonnanzen her! Rasch, rasch! Wird's bald? (Man hört den Ruf im Hintergrunde sich fortpflanzen »Ordonnanzen«.) Hauptmann Duroc!
Duroc (salutierend). Meister!
Bonaparte. Ich übergebe dir das Kommando der Artillerie im Hofe der Tuilerien. Du stellst sofort eine Batterie gegenüber der Kirche St. Roche auf. Hier Ordre an die dort stehenden Infanterie-Offiziere. (Schreibt.) »Der Cul de Sac Dauphine, wo die Straße St. Honoré mündet, ist stark mit Scharfschützen zu besetzen.« (Mehrere Ordonnanzoffiziere erscheinen an den Schranken.)
Carnot (dem eine Ordonnanz einen Zettel überreicht hat, erhebt sich). Bürger, eine schlimme Nachricht. Die ganze Masse der Insurgenten hat die Quais auf dem linken Ufer der Seine besetzt. Andere Massen wälzen sich auf dem andern Ufer durch die Straße l'Echelle heran. Sie wollen direkt den Konventssaal attackieren.
(Allgemeiner Tumult im Hintergrunde: »Rette sich, wer kann!«)
Eine Stimme. Heben wir die Sitzung auf!
Eine andere. Die Waffen niederlegen!
Eine dritte. Der Konvent ziehe sich nach St. Cloud zurück.
(Barras läutet umsonst mit der Glocke.)
Bonaparte (mit dem Fuße aufstampfend). Eine Memme, wer das sagt! – Leutnant Junot!
Junot (salutierend). Chef!
Bonaparte (schreibt). Hier Ordre an den Vorsteher des Zeughauses! Man schaffe 800 Gewehre in den Konvent, um ihn zu bewaffnen. Will ein Franzose seine Ehre bewahren, so verteidigt er sie. Lieber sterben, als den Tod fürchten!
(Junot ab, Pause.)
Josefine (halblaut, begeistert). Beim Himmel, dieser Mann ist schön!
Gasparin. Bravo, Corse!
(Allgemeines Bravo und Händeklatschen.)
Ein weiteres Geschichtsdrama: »Weltgericht« leitet Bleibtreu ein mit den Worten: »Die ganze Geschichte der Revolution in fünf Bilder (Akte) zusammenzudrängen, ohne je im Akt auch nur eine Verwandlung der Szene eintreten zu lassen, wird man für ein unmögliches Kunststück halten. Nun, das Kunststück ist hier spielend gelöst und zwar ohne dem Lauf der Ereignisse irgendwie Gewalt anzuthun«. – Das muß leider bestritten werden! Der Grundsatz, die Szene niemals in einem Akt zu wechseln, auf den Bleibtreu einen schwerverständlichen 130 Wert legt, hat vielmehr die innere Geschlossenheit auch dieses Dramas arg geschädigt. Um zunächst in einer einheitlichen Szene sämtliche Helden der Revolution dem Beschauer vorführen zu können, wählt Bleibtreu zum Schauplatz »das Gastzimmer einer Taverne, am Karousselplatz, gegenüber den Tuilerien«. Der Reihe nach lernen wir sie hier allerdings kennen: vom Wirt Legendre, der den durchs Fenster hinausschießenden Sanskulotten die Büchsen lädt oder die Weingläser füllt, bis hinauf zu Danton, Robespierre und Marat. Nacheinander treten sie alle ein, werden mit Hochrufen von der Menge empfangen und erhalten in den Ausrufen des Volks sozusagen ihr Etikett angeknüpft, um sich darauf selbst sofort mit ein paar Worten zu charakterisieren.
Statt daß wir Zeugen des Sturmes auf die Tuilerien sind, hören wir von ihm nur reden; an Stelle der großen weltgeschichtlichen Handlung spinnt sich episodenartig eine kleine Novelle an von einem gefangenen Aristokraten, dessen Tochter die Begehrlichkeit des brutalen Danton erregt, während der Vater die Gunst des Volksmannes verachtet. Diese kleine Novelle setzt sich im zweiten Akt fort, wo Danton sich mit der widerstrebenden Schönen in sein Schlafzimmer einschließt, Robespierre und sein Jünger St. Just aus diesem Grunde nicht vorgelassen werden, und dann ganz unvermittelt die Anklage gegen die Girondisten und deren Gefangennahme hineinspielt. Was aber die Girondisten zu bedeuten haben, davon erfahren wir nichts. Im Zwischenakt werden sie hinter den Coulissen hingerichtet. Der dritte Akt zeigt uns in den Gartenanlagen der Tuilerien den verrückten Marat als bramarbarsierenden Volksredner, und kurze Zeit nachdem er abgegangen ist, erfahren wir, daß er von einer gewissen Charlotte Corday ermordet worden ist. Ganz unvorbereitet als historisch trockene Notiz schneit diese Nachricht so herein. Gleich darauf wird Danton im Auftrage Robespierres von St. Just verhaftet. Ganz gelegentlich haben wir davon gehört, daß hinter den Coulissen zwischen dem zweiten und dritten Akt auch der König hingerichtet worden ist. Und ebenso erfahren wir jetzt, daß hinter den Coulissen in der Pause vom dritten zum vierten Akt Robespierre seinen berühmten Aufzug gehalten hat, wo er sich als Hoherpriester dem Volke dargestellt und den Glauben an ein höchstes Wesen wieder eingeführt hat. Weitere Blutbefehle, die er giebt, reizen nun im vierten Akt die Menge, und die aufgeregte Seherin Theos prophezeit ihm schließlich in einer ungeheuren Apotheose die Alleinherrschaft in Frankreich. In der Pause zum fünften Akt ist wieder hinter den Coulissen der Diktator schon gestürzt, und wir sehen die Direktoren der neuen Regierung nur noch die letzte aufräumende Blutarbeit verrichten und dann zum Champagnerfrühstück taumeln. Trotz noch so liebevoller Auspinselung einzelner Charaktere, wie Robespierre, bleibt alles Abstraktion, fast nichts klärt sich zur Anschauung heraus. –
Unter dieser unglaublich starren Theorie von der einheitlichen Dekoration jedes Aktes leidet auch das folgende Drama Bleibtreus »Ein Faust der That«, das den englischen Revolutionsführer Cromwell zum Helden hat.
Ja, die Charaktere Cromwells wie König Karls sind fein angelegt; der König thöricht, eingebildet, aber voll männlichen Stolzes im Augenblick des Todes – sein 131 Gegner klug, verschlagen, unaufrichtig, aber zielbewußt und eine siegende Willensnatur. Aber im ganzen Stück wird ewig nur verhandelt und Politik getrieben, die ganze Vorgeschichte der englischen Revolution wird als bekannt vorausgesetzt, keiner der beiden Gegner erscheint einmal in einer rein menschlichen Situation. – Liebe, Freundschaft, rein menschliche Motive giebt's nicht in dem Stück, in dem die Frauen überhaupt fehlen (wie sehr auch König Karl von seiner niemals auftretenden Gattin schwärmen mag) – und so ist das Ganze in seiner abstrakten Trockenheit nur ein Stück verklungener Kriegsgeschichte ohne Interesse für die Gegenwart – es ist das, was man eine »Haupt- und Staatsaktion« zu nennen pflegt.
So fehlt Bleibtreu denn der Blick für das eigentlich Dramatische in hohem Grade. Mochte er in seinem Drama »Harold der Sachse« auch in bewußtem Gegensatz zu Wildenbruch den verhängnisvollen Eidschwur seines Helden größer auffassen – er läßt ihn mit Bewußtsein einen Meineid schwören seinem Vaterlande zu lieb – im Grunde genommen ist das Stück bald lyrisch, bald episch. Trotzdem finden sich große, ja manchmal genialische Ansätze zur Seelenmalerei hier wie im Renaissancedrama »Dämon«, das in der Charakteristik Michel Angelos, Machiavellis und des Cäsar Borgia manches Bedeutende zeigt. Auch die soziale Frage versuchte er zu behandeln in dem Schauspiel »Volk und Vaterland«, das folgenden Inhalt hat: Eisenhart, der Sohn eines großen Waffenfabrikanten, hat mit dem früheren Offizier Garnau einen Vertrag geschlossen, wonach er eine kolossale Lieferung von Gewehren nach Chile diesem zu einem festen Termin zuzustellen hat. Da bricht ein Streik unter den Arbeitern aus, und Eisenhart, der sich schon durch Spielschulden ruiniert hat, fürchtet, den Lieferungstermin nicht einhalten zu können. Da bestürmt er seinen einstigen Kindheitsgespielen und jetzigen Werkführer Reinhold Brandt, er möge auf die Arbeiter einwirken.
Brandt ist zwar kein Sozialist, doch steht er im Herzen auf Seiten der Arbeiter; aber da er die Schwester seines jungen Chefs heimlich liebt, so verspricht er, in der Versammlung gegen den Streik zu sprechen. Aber im Augenblicke, wo er das ausführen will, kommt ihm die unerhörte Nachricht zu, daß seine eigene Schwester vom jungen Eisenhart verführt worden ist. Nun spricht Brandt wütend für den Streik und zwar in Gegenwart von Adele Eisenhart, die sich von dem sonderbaren Baron Garnau in den Versammlungssaal hat führen lassen. Sie verhindert einen persönlichen Streit zwischen Brandt und Garnau. Aber das Haus Eisenhart scheint durch den Streik ruiniert. Da folgt eine eigentümliche Wendung. Garnau erklärt sich bereit, den Lieferungsvertrag zu lösen und die Kosten selbst zu tragen, wenn Adele Eisenhart seine Braut wird. Und sie willigt ein, um ihren Vater zu retten. Da bricht plötzlich der Krieg aus, und bei dieser Gelegenheit bestätigt sich Brandts Verdacht, daß Garnau ein Spion ist und jene Waffenlieferung in Wahrheit nicht für Chile, sondern für den Feind des Vaterlandes bestimmt hatte. Natürlich wird Garnau verhaftet, seine Verlobung mit Adele gelöst, und Brandt erhält die Hand der wieder frei gewordenen Geliebten und wird obendrein Kompagnon in der Eisenhartschen Fabrik. –
132 Leider kann man nicht zugestehen, daß die soziale Frage in diesem Stücke in irgend einer tiefen Weise erfaßt wäre; sie bildet hier nur ein Theatermotiv. Und dieser Brandt, der aus rein persönlichen Beweggründen, aus Liebe, Rache und Eifersucht seine Stellung zur Streikfrage jeden Augenblick ändert, kann doch nicht als ein sozialer Held gelten sollen. Wie zwergenhaft klein erscheint er etwa neben der großen Duldergestalt von Kretzers »Meister Timpe«! Dem Inhalt nach ist Bleibtreus »Volk und Vaterland« nur eine dramatisierte Romanhandlung mit herkömmlichen Motiven, der ein großer technischer Fehler anhaftet: die späte Aufklärung von Garnaus wahrem Charakter. Daß es aber der Bleibtreuschen Arbeit nicht an hübschen Einzelheiten fehlt, die hier und da den echten Dichter beweisen, das wird gern zugestanden. Soviel von den dramatischen Werken dieses unerschöpflich produzierenden Schriftstellers! –
Er war aber keineswegs der einzige, der damals nach etwas völlig Neuem auf dramatischem Gebiete rang. Gleich ihm von größeren Bühnenerfolgen ausgeschlossen und doch unaufhörlich thätig war Heinrich Bulthaupt in Bremen, (geb. am 26. Oktbr. 1849). Aus der alten, ehrwürdigen Hansastadt gebürtig, hatte er nach Vollendung seiner rechtswissenschaftlichen Studien und nach längeren Reisen im Orient, Griechenland und Italien zunächst in seiner Heimatstadt als Anwalt gewirkt und dann die Stellung eines Stadtbibliothekars erhalten. Unablässig hatte auch er Dramen veröffentlicht. Im Jahre 1870 hatte er mit »König Saul« begonnen und darauf »Die Arbeiter«, »Gerold Wendel« und »Eine neue Welt« folgen lassen. In der Vorrede zu dem »Verlorenen Sohn« sagte er damals: »Worauf käme es denn nun aber an? Das dramatische Stoffgebiet müßte erweitert, der Dichter, wenn er seine Konflikte nicht ausschließlich in dem Bereich des menschlichen Herzens sucht, an das Leben unserer Tage verwiesen werden. Es gälte also, die geistige Strömung unserer Zeit zu verstehen, aufzuspüren, ob uns unser Jahrhundert keine dramatischen Stoffe geschenkt, erratische Blöcke, wert behauen und gestaltet zu werden. Und wem es gelänge, sie zu entdecken und zu bezwingen, dem müßte, so sollte man denken, die Liebe oder doch die Aufmerksamkeit des Publikums und derer, die nach modernen Stoffen schreien, von selbst entgegenkommen? Es müßte, vielleicht, aber gerade das Gegenteil ist wahr. Wehe dem Dichter, der es heutzutage wagen würde, ein soziales Drama wie »Kabale und Liebe« auf die Bühne zu bringen – ja, was rufe ich Wehe! man würde ihn gar nicht dazu kommen lassen; hundert Rücksichten auf den Staat und die Gesellschaft würden ihm die Pforte zum Theater verrammeln, und besäße er zehnmal Schillers Genie. Und die »Räuber«, würde man sie ohne Verbot passieren lassen? würden nicht einige kühne Wendungen im »Don Carlos« dem Rotstift ohne Gnade zum Opfer fallen? Und gelänge es nun wirklich dem Dichter, solche gefährliche Konterbande hier und da einzuschmuggeln – würde unser Publikum willens sein, die ernstesten, die größesten Konflikte dieses Jahrhunderts auf dem Theater wieder zu sehen, wie es das Publikum Schillers gethan, wie es die Fürsten des vorigen Jahrhunderts vornehm duldeten? Ich fürchte sehr: nein! Es ist nicht anders, der Ruf: modern, modern! ist entweder eine Selbsttäuschung oder eine 133 Lüge. Man will nicht den modernen Geist, man will nur das moderne Kleid, und in diesem je mehr, je lieber gesellschaftlichen Skandal. Man wendet sich wohl auch einem Dramatiker wie Ibsen zu, der in seiner Darstellung einiger Kardinalübel unserer Zeit, der Nervenzerrüttung, der Halbheit, der sozialen Lüge im engeren Sinne wirklich zum Träger modernen Geistes im Drama geworden ist – aber man schenkte ihm diese Gunst erst dann, als seine Stoffe anfingen sich zu zersetzen, und der Dunst des haut goût ihnen bei der Menge den abscheulichen Reiz des »Sensationellen« gab. Daneben gefallen glänzende, stürmisch bewegte Schaudramen, einerlei ob sie sich mit dem Leben und dem Geist dieses Jahrhunderts berühren oder nicht, und selbstverständlich ist man allzeit gern bereit, sich von einem großen Talent von der Bühne herab patriotisch stimmen und erheben zu lassen. Aber so gewiß das Moderne nicht im Tendenziösen liegt, so gewiß hat man völlig tendenzlosen modernen Dramen den Gang über die Bretter erschwert.« Und er weist darauf hin, wie sein Schauspiel aus den Bauerkriegen »Gerold Wendel« unter Hinweis auf das Sozialistengesetz und sein Drama aus der Columbus-Zeit: »Eine neue Welt« unter Berufung auf den Kultur-Kampf vom Berliner Hoftheater abgelehnt wurde!
In der That – bei so unglaublicher Engherzigheit war es alles Mögliche, daß es noch Dichter gab, die Höheres anzustreben wagten. Natürlich gab das auch manchem Pfau Gelegenheit, sein Rad zu schlagen. So widmete Wilhelm Walloth sein fünfaktiges Trauerspiel »Gräfin Pusterla« an Karl Bleibtreu (Leipzig 1886). Mit geradezu lächerlicher Anmaßung schreibt der junge 134 Verfasser, nachdem er seine sämtlichen Gönner aufgezählt hat, in der Vorrede: »In Frankreich würde dieses Stück sofort aufgeführt, gelobt, vielleicht gar bewundert werden, denn es ist (nach H. Laubes Ausspruch) effektvoll und bühnengerecht, in Deutschland hoffe ich kaum auf einen Achtungserfolg; wir sind keine Nation, die sich vom Bedeutenden und Großartigen hinreißen läßt . . .« Und um ganz seine einsame Größe mitten in der deutschen Wüste zu kennzeichnen, schrieb der eitle Mensch auf den Titel als Motto folgende Verse von Platen: »Wenn auch einsam! Stimme geheim, o stimme Deinen bergstromähnlichen, echoreichen starken Gesang an!«
Man höre nun die »originelle« Erfindung: Herzog Lucchino Visconti von Mailand hat bisher die schöne Francesca Adorini geliebt, nun aber entflammt sein Herz für die junge bürgerliche Bianca, die soeben die Gattin des Grafen Pusterla wird. Bei Lessing hießen diese Figuren Prinz von Guastalla, Gräfin Orsina, Emilia Galotti und Graf Apiani. Man sieht, es stimmt ganz genau. Die großartige Aenderung nur, die Walloth mit Lessings berühmter Tragödie vorgenommen hat, besteht darin, daß bei Lessing ein schurkischer Minister Namens Marinelli die bösen Gelüste des Prinzen anschürt, während bei Walloth – o glorreicher Einfall! – die abgesetzte Geliebte selbst es ist, die den Fürsten antreibt, durch verbrecherische Mittel sich in den Besitz der neuen Geliebten zu setzen. – Natürlich endet Alles in Blut.
Da ist doch Franz Held auch als Dramatiker ein ganz anderer Mann; auch er ist ja ein Jünger Bleibtreus wie Walloth. Am Vorabende der französischen Revolution zeigt er in seinem »Fest auf der Bastille« dieser schrecklichen Festung weitläufige Gebäude; das Hotel des Gouverneurs, die Kaserne, die Wachtstube, die Wohnung des Hilfsmajors, das Domestikenzimmer, das Badekabinett u. s. w. werden der Reihe nach im Akte wirklich benutzt. An einem schönen Frühlingsnachmittag des Revolutionsjahres 1789 werden wir auf diesen Bastillenhof eingeführt und sehen dort ein buntes Leben und Treiben. Lakaien und Zimmerleute sind mit den Vorbereitungen zum morgigen Fest beim Gouverneur der Festung, Marquis de Launay, beschäftigt. Aber der benachbarte Tapetenfabrikant Réveillon kommt hilfeflehend herbeigelaufen, um Schutz für seine Fabrik zu erbitten, die bereits von Arbeiterunruhen bedroht wird. Dabei gehen die Vorbereitungen zum Fest weiter. Neue Lakaien werden angeworben. Darunter befindet sich auch Camille Thurioth, der diese Rolle nur spielen will, um auf solche Weise seinen in der Bastille eingeschlossenen Vater zu sehen. Während er seinen Dienst antritt, wird der gebrechliche Vater über den Hof geschleppt und mit Püffen mißhandelt. Bunt schlingen sich nun die Episoden durcheinander. Während die Gefangenen seufzen, wird für die schöne Gouverneursfrau das Badewasser dahergetragen. Aus Versehen gerät Camille in ihre Badezelle hinter den Coulissen, und wir erfahren später, daß dort im Herzen der lüsternen Frau Liebe zum schönen Lakai erwacht ist, während draußen auf dem Hofe ihr Mann einen Verrat seines Sohnes Paul entdeckt und ihn – seinen eigenen Sohn – zum Staatsgefangenen der Bastille macht. Alle diese mit scharfer Charakteristik 135 gezeichneten Episoden geben ein lebensvolles Bild von den grellen Gegensätzen im Bastillenhof – schade nur, daß sie sich durchaus nicht zum festen Bau einer dramatischen Handlung zusammenfügen! Das geschieht auch im zweiten Akt nicht. Mit großer Kühnheit ist hier wieder der bühnische Schauplatz eingerichtet. Man blickt ins Innere zweier Nachbarzellen hinein, in denen Vater und Mutter Thurioth Wand an Wand unmittelbar nebeneinander wohnen, ohne gegenseitig von einander zu wissen. Sie unterhalten sich durch Klopfen an der Ofenröhre, ohne eine Ahnung zu haben, wer sie sind. Und draußen rauscht die lärmende Schar der Gäste des Gouverneurs die Treppe hinauf, um oben auf der Plattform, die der Beschauer noch über den beiden Zellen wahrnimmt, bei einem verschwenderischen Mahl und oberflächlichen Gesprächen ein Feuerwerk von königlicher Pracht zu bewundern. Daß dies ganze dreifache Neben- und Uebereinander – das lärmende Zechen der Gesellschaft und darunter das getrennt gefangene Ehepaar – bühnisch überhaupt zu einer einheitlichen Wirkung gebracht werden könnte, bezweifle ich stark. Auch ist der Schluß so unbefriedigend wie nur möglich. Camille Thurioth besticht einen der Schließer, ihm die Thür zu seines Vaters Zelle zu öffnen. Von seinem Lakaiendienst hinter dem Stuhl der in ihn verliebten Gouverneurin durch die eifersüchtige Ungnade des Gouverneurs befreit, eilt er die Treppe hinunter, kommt aber durch Verwechselung in die Zelle seiner Mutter, von deren Gefangenschaft er noch nichts weiß; und der Schrei des Erstaunens, den er ausstößt, alarmiert die Gesellschaft, die eben die Treppe hinuntersteigt. Sie ist nach dem lustigen Abend in Schrecken versetzt worden durch den leichtsinnigen Paul, der unter Bruch seines Ehrenworts seine Gefangenwohnung verlassen hat, um in der früheren Tracht des Henkers der Bastille die Gesellschaft zu überraschen. Von seinem Vater wird er dafür zur Zellengefangenschaft verurteilt. Auf der Treppe findet der Gouverneur den jungen Camille Thurioth, der aus der Zelle seiner Mutter vom Schließer noch rechtzeitig herausgestoßen worden ist, und droht ihm mit Gefangenschaft und Tod, während jener mit mahnendem Hinweis auf das herannahende Gericht der Weltrevolution antwortet. Das alles ist mit echten Wirklichkeitsfarben gewissermaßen in einem finstern Rembrandtton gemalt. Nur freilich – ein eigentliches Drama ist es nicht, und Held läßt sich durch Bleibtreus Dogma dazu verleiten, daß er drei räumlich durch Wand und Mauer getrennte Schauplätze dem Blick des Zuschauers lieber auf einmal zeigt – nur damit nicht innerhalb eines Aktes die Szene gewechselt werde!
Dem schnurgerade entgegengesetzten Prinzip huldigt ein anderer junger Schriftsteller, der damals mit einem Geschichtsdrama verheißungsvoll hervortrat, der Elsässer Fritz Lienhard (geboren zu Rothbach am 4. Oktober 1865). Natürlich sandte er seinem Schauspiel »Naphtali« die übliche revolutionäre Vorrede voraus: »Als ich mein vorliegendes Erstlingswerk niederschrieb, hatte ich noch wenig von der immer weiter um sich greifenden »Revolution der Litteratur« vernommen, und selbst das Bardengebrüll der »Blase schotengrüner Jungen«, denen gegenüber ein billiges Geschimpfe jetzt Mode zu sein scheint, drang kaum in die Abgeschiedenheit meiner elsässischen Heimat. Nur das eine revolutionäre Element beherrschte 136 mich von jeher: ein angeborner Widerwille gegen Pathos und Schönrederei, Jambenpoesie und Theaterphrasen.«
Von seinem geschichtlichen Stoffe aber meint er: »Greift nur in Euer eigen Herz: Ihr werdet finden, daß er gar zu nahe liegt!« – Richtig! Wie jeder historische große Stoff, wenn man ihn in Beziehung zur Gegenwart zu setzen weiß. Und das thut Lienhard, indem er gewissermaßen den Streit der Alten und der Jungen unter die »Ebräer« im alten Aegypten verpflanzt. Der ungestüme Thatendrang, der Ehrgeiz, die Liebe und alle sonstigen jugendlichen Eigenschaften verkörpern sich ihm zu seinem Helden Naphtali. Erfahrung, vorschauende Weisheit und besonnene Menschenbeherrschung machen für ihn die Gestalt des Moses aus. Er ist der ewig sich gleich Bleibende, Naphtali aber der immer hin und her Flackernde. Jenen beherrscht der eine feste, heilige Wunsch, in selbstloser Treue sein Volk aus der Knechtschaft zu führen; diesen treibt eigentlich nur die Begier, sich selbst empor zu ringen, und darum schwankt er hin und her zwischen den Parteien und ist am Ende von allen verlassen, während jener wie ein Felsen im bewegten Meer am letzten Ende alle überragt. Naphtali, obwohl seiner Geburt und Ueberzeugung nach Ebräer, verkehrt gern mit den vornehmen jungen Aegyptern, aber an den heimischen Stamm fesselt ihn die Liebe zu seiner treuen Mirjam. Verhaßt aber ist ihm des Mose beständiges Mahnen zur Ruhe und Geduld.
Und er widerspricht dem mahnenden Weisen in erregter Volksversammlung. So kommt es zum voreiligen Aufstand, der blutig unterdrückt wird. Die jungen Rädelsführer werden eingekerkert und der Reihe nach hingerichtet, bis auf Naphtali selbst. Für diesen erwirkt Nitokris, des ägyptischen Feldhauptmanns Tochter, bei ihrem Vater Gnade – denn der junge Ebräer hat ihr einmal das Leben gerettet. Ja der Feldhauptmann bietet ihm sogar einen hohen Ehrenposten im ägyptischen Heer an, und Naphtali wird zum Verräter seines Vaterlandes. Ja – er wird auch zum Verräter seiner Liebe, denn schon liegt er in den Banden der üppigen Nitokris. Seine sanfte Mirjam hatte ihn niemals ganz befriedigt, weil sie dem ungestümen Drang seiner Sinne nicht nachgeben wollte. Nitokris thut's, und gerade darum wird sie ihm bald zuwider. In dem Augenblicke, wo der Würgengel des Herrn durch die Straßen der Stadt zieht, und wo Mose die Erlaubnis erhält, sein Volk zu sammeln und hinwegzuführen, da sieht Naphtali in reuevoller Verzweiflung in sich selbst den einzig Unwürdigen – voll Selbstverachtung. Vergebens eilt 137 er dem davongezogenen Volke und dem verfolgenden Pharao nach und sinkt jammernd an der Küste des Roten Meeres nieder. Und während von drüben die Heilsrufe der geretteten Seinen erschallen, stürzt er sich mit liebend ausgebreiteten Armen ins Meer. –
Es ist trotz Schwulst und Ueberfluß viel Kraft und Wahrheit, und vor allem hoher sittlicher Ernst in diesem Schauspiel. Auch ist es mit guter dramatischer Steigerung aufgebaut. Nur verfällt Lienhard in den entgegengesetzten Fehler als Bleibtreu. Er wechselt die Szene unnötig oft, er gefällt sich gerade darin und – in dem Streben, der natürlichen Entwickelung möglichst wenig Gewalt anzuthun – geht er wirkungsvollen Aktschlüssen geradezu geflissentlich aus dem Wege. Und in demselben Gegensatze steht die schwungvolle, ja oft glutvolle Sprache zu der absichtlich nüchternen Redeweise der Bleibtreu'schen Schule.
Ja, das Dogma der Nüchternheit war in der jungen Generation durchaus noch nicht seßhaft geworden. Auch Detlev v. Liliencron war ja ein Kampfgenosse Conrads und Bleibtreus, und doch liebte er den dramatischen Vers, so namentlich in seinem Hohenstaufendrama »Der Trifels und Palermo« (Leipzig 1886). Der Held desselben ist Kaiser Heinrich VI., der grausam kraftvolle Sohn und Nachfolger des Rotbart. Mit großer Kraft ist der Charakter dieses mittelalterlichen Welteroberers, dieses am Cäsarenwahn erkrankten Uebermenschen gestaltet. Den Hauptinhalt des Stückes aber bildet seine Herzensgeschichte. Der Kaiser ist vermählt mit Konstanze, die ihm einst Sizilien zum Erbe eingebracht hat; aber nun mag er sie nicht mehr, und sein Herz verlangt nach Irene, der Erbin Griechenlands. Auf seiner heimischen Burg Trifels lernt er sie lieben, sie, die mit dem Grafen Philipp von Schwaben verlobt ist; und in der Hauptstadt Siziliens sieht er seine Gattin wieder, die er nicht mehr liebt. Wie seine Politik ihn hin und her treibt zwischen Trifels und Palermo, so schwankt sein Herz zwischen Irene und Konstanze, oder vielmehr – es schwankt wenig: schnell ist sein Entschluß gefaßt, Konstanzen abzuschütteln trotz ihrer Treue, und Irene an sich zu ketten trotz ihrer Weigerung. Wie zum Schluß die päpstliche Genehmigung nicht eintritt, will er mit keckem Gewaltstreich den Knoten durchhauen, aber seine Gattin Konstanze kommt ihm zuvor, indem sie gleichzeitig ihm und sich selbst Gift beibringt. – Aber es fehlt dem Ganzen sehr an dramatischer Technik. Gerade, wenn eben eine starke Handlung eingesetzt hat, wird sie oft plötzlich durch Erzählung verwässert.
Ein wirklicher Dramatiker ist dagegen Felix Schulz, der sich C. G. Bruno nennt. Sein Erstlingsdrama war »Königssohn und Rebell« (Berlin 1887). Es bringt den Sohn und Nachfolger Heinrich VI., den zweiten Friedrich aus dem Stamm der Hohenstaufen, im Streit mit seinem Sohn Heinrich; doch in ganz merkwürdiger Weise ist hier Geschichte, Sage und eigene Phantasie durcheinander gewirbelt. Schulz ist zweifellos Realist, wenn er auch in Jamben schreibt, aber der Realismus der Geschichte ist ihm ganz gleichgültig. »Daß ich mir voll bewußt bin, wie weit ich von der Geschichte abgewichen, darüber wirst Du am klarsten sein; denn Du weißt, daß ich mich der Geschichte, wie keiner andern 138 Wissenschaft, gewidmet habe.« So berichtet er selbst in einer kurzen Widmung an einen Freund. Und so hat er denn die sagenhafte Person des Klingsohr aus dem mittelalterlichen Liede vom Wartburgkrieg und vom gleichfalls sagenhaften Minnesänger Heinrich von Ofterdingen gleich an den Eingang seines Stückes gestellt, obgleich er sonst der sangumklungenen Wartburg ein fast unheimlich realistisches Gepräge gegeben hat. Den Landgrafen Hermann von Thüringen, hochberühmt im deutschen Lied, faßt er als einen impotenten alten Mann auf, mit dem seine Gattin Elisabeth darum wie eine Heilige leben muß, weil er Ehemannsrechte nicht auszuüben vermag. In ihrem Beichtvater Konrad von Marburg aber sieht er einen perversen Menschen, der seine Lust daran hat, den schönen Leib der Heiligen zu geißeln. Den jungen Prinzen Heinrich dagegen, Kaiser Friedrichs Sohn, der in Wirklichkeit mit Margarethe von Babenberg vermählt war, läßt er unverheiratet sein und zeigt ihn verliebt in die heilige Elisabeth. Und ebenso willkürlich gestaltet er das Verhältnis der Kirche zu den einzelnen Personen um. Friedrich, der Freigeist, der in Dantes Hölle als Zweifler in einem glühenden Sarge schlummern muß – ist ihm ein von den Pfaffen beherrschter Schwächling!
Im übrigen wird das Drama von der Idee beherrscht, daß der junge Heinrich den deutschen Gedanken gegenüber den italienischen Träumereien seines Vaters vertritt. Aber nicht nur als Deutscher steht Heinrich im Gegensatz zu den übrigen – er ist auch der Kraftmensch, der feurige Jüngling, der das Recht der Liebe und Leidenschaft vertritt; der Stürmer und Dränger, der das Philistertum verabscheut. Trotz dieser mancherlei Verwirrungen und Ueberladungen mit Motiven, die dem Stücke Klarheit und Spannung rauben, ist es nicht ohne manchen Beweis jugendlichen Könnens. Aber von höchstem Interesse ist es als ein typisches Beispiel aus der damaligen Gärungszeit: die der deutschen Jugend angeborenen Jünglingsideale der Vaterlandsliebe und der Freundschafts-Schwärmerei vermengen sich mit der platten Alltagsweisheit der Naturalisten, die eine Beherrschung der sinnlichen Triebe für feige männliche Schwäche hält und unter den Schleiern der Heiligen verkappte Dirnen sucht! Und diesen ganzen Kampf der alten und modernen Weltanschauung läßt man am Hofe eines mittelalterlichen Hohenstaufenkaisers austoben.
Ja, die scheinbar abgethanen Hohenstaufen schienen wieder recht in die Mode kommen zu sollen. Trat doch eben jetzt ein älterer Dichter, den wir schon von der litterarischen Revolution mit emporgehoben sahen, mit einer ganzen Reihe von Hohenstaufen-Dramen hervor: Martin Greif. Den alten Streit zwischen Rotbart und seinem welfischen Vetter, den Lindner früher schon in seinem »Stauf und Welf« bearbeitet hatte, gestaltete er zum Drama »Heinrich der Löwe« (1886). Er sieht hier in dem großen Staufer wieder den allzu italienfreundlichen Mann, dem der Welfe Heinrich als national empfindender Fürst gegenüber steht. Die Versöhnung zwischen beiden bringt dann das Schauspiel »Die Pfalz am Rhein«, das mit einem großen Reichstag unter Heinrich VI. beginnt und mit einer Vermählung des Löwensohnes mit der Kaisertochter endigt. Auch das Schicksal des letzten Hohenstaufen noch behandelte Greif, belebt durch eine frei 139 erfundene Liebesgeschichte in seinem Drama »Konradin« (1888). Diese dramatischen Arbeiten eines älteren Dichters, die absichtlich nur gestreift werden, zeigen deutlich, wie vielfach sich die alte und neue Generation in jenen Jahren noch auf gemeinsamem Stoffgebiete begegneten. – Viel Aufsehen erregte damals auch Hans Pöhnl mit der Aufführung seines »Armen Heinrich« in München, die er mit den Worten einleitete: »Freilich können Männer von heutzutage aufstehen und ein Begehren, welches von großem Selbstgefühl Zeugnis ablegt, in alle vier Winde hinausrufen: Gebt uns den modernen Menschen!!«
»Welchen? Den Großen oder den Kleinen? Etwa den Heldengreis, unsern Fritz, den großen Schweiger, den Kanonier von Missunde, oder ihn, den eisernen Kanzler? O nein, ihr Erscheinen würde auf der modernen Bühne Anstoß erregen. Also den modernen kleinen Menschen wollt ihr? Bekommt ihr denselben nicht satt in euren vier Wänden?«
»Große Männer, große Geister und edle Seelen, konnten sie am Uranfang aller Zeiten anders fühlen, denken und reden, als sie fühlen, denken und reden werden um die Zeit der Götterdämmerung? Dietrich von Bern und der getreue Eckhard der Volkssage, sie dachten nicht geringer als der Vater des Reiches von heutzutage und sein getreuer Reichswardein. Der Mensch bleibt Mensch, ob er Dampfrosse meistert, oder vom Saumtier geschleppt wird, ob ihn Kienfackeln oder Glühlicht beleuchten, nur die Sinnesschärfe des modernen Mannes könnte gelitten haben, da er persönlich vom Kampf mit der ringsumgebenden Natur verschont erscheint. Auch das Schreckgespenst der Romantik, ein längst bekannter Teufel, von Schulmännern an die Wand gemalt, soll uns nicht schrecken; die rechte Volkspoesie ist von Romantik so weit entfernt, als der Schulbegriff sogenannter Klassizität von echter Volkspoesie . . . Wer in Wahrheit schildert, was da war, der schildert, was da ist und sein wird, ohne von der Gegenwart belästigt zu werden . . .«
So gärte es bei alt und jung, mit oder ohne Schwulst verlangte man nach Kraft und Größe auf der Bühne – aber soziale Fragen damit zu vereinigen, wie man es im Roman gethan – das vermochte man noch nicht. Wohl fehlte es nicht an Versuchen dazu. Wir lernten Bleibtreus »Volk und Vaterland« bereits kennen; es ist sicherlich eine seiner uninteressantesten Arbeiten. Auch M. G. Conrad konnte in seinem Schauspiel »Firma Goldberg«, das er mit L. Wilfried zusammen verfaßte, nicht viel von seiner Eigenart bieten.
John Henry Mackay gab ein Trauerspiel »Anna Hermsdorff« heraus, dessen Heldin gewissermaßen an sozialen Verhältnissen zu Grunde geht. Ihr Bräutigam, ein Buchhalter Namens Hermann Winter, hat einen Griff in die Geschäftskasse gethan, um die Kosten für das Begräbnis einer verstorbenen Schwester decken zu können, und die Braut vermag die Schmach des Bräutigams nicht zu überleben und tötet sich selbst. Dieser etwas gequälte Versuch, die Armut zum Motiv einer Tragödie zu machen, scheiterte aber völlig an der geringen dramatischen Kraft des Verfassers und an seiner Unfähigkeit, lebensvolle Menschen zu gestalten.
Endlich gab auch Julius Hart ein soziales Schauspiel heraus unter dem herausfordernden Titel »Der Sumpf« (Münster 1886). Unter dem Sumpf 140 versteht der Verfasser natürlich die Großstadt Berlin. Der junge Maler Franz Rückert ist dort moralisch zu Grunde gegangen. Der alte Rückert, der in einer kleinen Stadt lebt, hat den Ehrgeiz, mit seinen Söhnen hoch hinaus zu wollen. Der ältere ist ihm schon in einem Duell gefallen, und seinen jüngsten erwartet er nun aus Berlin zurück. In dem kleinen Heimatstädtchen findet Franz auch eine Jugendfreundin wieder, die nicht unbegüterte Agnes – und er verlobt sich mit ihr. Doch hat er die Rechnung ohne den »Sumpf« gemacht. Und dieser naht sich nun verderbendrohend in der Gestalt der Timea Zurbaran. Unmöglich wie dieser Name ist auch der Charakter dieser Abenteuerin mit phrasenhaften Romanredensarten. Mit solcher »Flammensprache« reißt sie den Schwankenden wieder zu sich. Er verläßt Braut und Vater, um mit Timea nach Berlin zu gehen. Aber dort wird sie seiner bald überdrüssig und treibt ihn zu rasender Eifersucht. Der Tod seines Vaters ruft ihn nochmals in seine Heimat zurück. Mit Thränen der Reue findet er seine Braut, die noch immer an ihm hängt. Racheschnaubend eilt er wieder nach Berlin, nur noch von dem Gedanken beseelt, daß Timea sterben muß. Wie sie sich dem Gift entzieht, erschießt er sie. – So ist das Stück nach dem alten Schema aufgebaut. Das längst matt gesungene Lied von der unschuldsreinen Braut und der dämonischen Verführerin ist mit einigen Flittern aus der Rüstkammer sozialer Schlagworte behängt. Die Sprache ist schwülstig, und die Charaktere sind Theaterfiguren nach herkömmlicher Schablone. Den Eindruck des Wirklichen hat man niemals.
Doch fehlte es auch nicht an Versuchen, die modernen Strömungen in geschichtlichem Gewande geradezu abzuschildern. So kam Konrad Alberti auf den eigenartigen Gedanken, das Leben des Wiedertäufers Thomas Münzer in seinem Schauspiel »Brot!« mit dem Schicksal des Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle zu verquicken und diese Doppelgestalt in die Bauernkriege zu versetzen, die er aber eigentlich den modernen Sozialistenrevolten nachbildete. – Wie Lassalle die Tochter des Ministers v. Dönniges, so liebt Münzer hier das Töchterlein eines Ritters, dessen Burg die Bauern erstürmt haben. Aber, während Lassalle im Zweikampf mit Rokovizza fiel, um eine Beleidigung zu rächen, die ihm der Vater seiner Geliebten zugefügt hatte, sprengt hier Münzer verräterisch aus der Entscheidungsschlacht davon und wird dafür von einem der Bauern getötet. Ohne auf tiefere Charakteristik oder dichterische Feinheit Anspruch machen zu können, ist das Schauspiel von derb zugreifender Bühnenwirkung – aber eine Bühne nahm sich seiner doch nicht an.
Den kühnsten Einfall hatte Wolfgang Kirchbach. Er spiegelte das große Menschheitleid symbolisch in dem Schicksal der »Letzten Menschen« (Dresden 1889). Er nimmt in seinem Drama mit dichterischer Freiheit an, daß unmittelbar vor der schrecklichen Vereisung, die von den Naturforschern der Erde prophezeit wird, noch einmal ein Strahl von Sonne und Liebe den Erdball mit seinen zertrümmerten Städten erwärmt, und, während Faune, Nymphen, Satyrn und Sirenen samt dem großen Pan ihr Unwesen treiben, erscheint noch einmal ein letztes Menschenpaar – Ahas und Eva – und in tief ergreifender Weise machen 141 sie, die sich für die ersten Menschen halten, noch einmal alle Wonne und Qual der Liebe durch. Auch sie sträuben sich gleich dem ersten Paar vergebens gegen die innige Vereinigung von Seele und Leib, aber wie sie endlich die schöne Feier der Hochzeit begehen wollen, erfahren sie das Furchtbare, daß sie die Letzten, die Todgeweihten sind. Aus Haß und Verzweiflung rettet sie endlich die große Entdeckung des Ahas:
»Laß dir die wunderbare Botschaft sagen:
Ein jeder Mensch in hingeschwund'nen Tagen
war seiner Art ein Erstling und ein Letzter,
ein erster Mensch und ein am Schluß gesetzter,
der jugendneu die Erdendinge schaute
und ewigalt zum Tode hier ergraute.
Er starb, das Leben löschte mit ihm aus,
und einsam blieb zurück das Erdenhaus.
Kein Anfang, ach, kein Ende! Ewig stille
wirkt in sich selbst ein ew'ger Gotteswille.
Und an dieser Erkenntnis stirbt jubelnd das Menschenpaar, die Geisterwelt und die Erde.
Aber diesem Drama, das viel Ausstattung erfordert, verschlossen sich ebenso wie den einfachsten Lebensbildern der Modernen hartnäckig und hartherzig die Bühnen.
Dieses Absperrungsverfahren hatte zur notwendigen Folge, daß mehr und mehr der Gedanke in den Köpfen der Dramatiker auftauchte, sich selbst ihre eigenen Bühnen zu schaffen. So hatte Hans Herrig schon 1886 mit seiner Flugschrift »Luxustheater und Volksbühne« eine mächtige Anregung gegeben zu Aufführungen, bei denen schlichte Bürgersleute selbst sogenannte Festspiele zur Darstellung brachten. Das im November 1889 zu Worms von March erbaute und mit Herrigs »Drei Jahrhunderte am Rhein« eröffnete erste Volksfestspielhaus war ein weithin sichtbarer Protest gegen die philisterhaft erstarrten Kunsttheater. Mochten die gelehrten Kritiker gegen eine solche »Herabwürdigung« der Kunst schreiben, soviel sie Lust hatten: die Bewegung griff um sich und wuchs von Jahr zu Jahr.
Der Gedanke also, das Liebhabertheater litterarischen Zwecken dienstbar zu machen, war hier schon mit Glück verwertet. Auch in Berliner junglitterarischen Kreisen war schon in loser Verbindung mit dem Verein »Durch« ein solcher Versuch gemacht worden, doch ohne Erfolg. Nun aber sollte sich ein ähnlicher Plan verwirklichen.