Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Zweites Kapitel.

Die Lyrik wird politisch und philosophisch.

Grade in demselben Jahre 1889, in dem der Geist Friedrich Nietzsches in Wahnsinn zusammenbrach, fingen seine Gedanken an volkstümlich zu werden. Jetzt begannen die Zeitschriften nähere Auskunft über die Absichten des lebendig Toten zu geben, und jene Flut von Schriften für und wider ihn brauste herauf. Die junge Welt, die bis dahin unter dem Zeichen des sozialen Mitempfindens gestanden hatte, begann jetzt die neuen Schlagworte des neuen Mannes zu erlernen. Man fing an von dem »Recht der Starken« gegenüber den Schwachen zu schwärmen, den »Willen zur Macht« als die Richtschnur des Lebens zu nehmen, und Rücksichtslosigkeit und Egoismus als die Wege zum Ideal des »Uebermenschentums« anzusehen. Hatte die junge Litteratur bis dahin den Menschen nur als ein Mitglied der großen Masse ansehen wollen, so wollte sie ihn nun möglichst ganz auf sich allein gestellt sehen im Gegensatz zum »Herdentrieb«. Den Sozialismus begann der Individualismus abzulösen. – Er begann. – Eine Zeit lang aber liefen beide Strömungen noch durch- und nebeneinander.

Und so fanden denn einige, von Nietzsche ausgehend, rückwärts den Weg zu Max Stirner. Eigentlich hatte er Kaspar Schmidt geheißen (geb. 25. Okt. 1806 in Bayreuth), der grübelnde Sonderling, der am 26. Juni 1856 blutarm 190 und wenig bekannt in Berlin gestorben war. Aber nun erwachte sein fast vergessenes Hauptwerk wieder: »Der Einzige und sein Eigentum«. – Es war im Jahre 1845 in Leipzig erschienen und erst 1882, also nach siebenunddreißig Jahren, hatte es seine zweite Auflage erlebt. Jetzt wurde die Nachfrage danach groß; es war in der billigen »Reclam'schen Universal-Bibliothek« für wenige Groschen zu kaufen, und nun las die von Nietzsche vorbereitete Jugend hieraus, wie Staat, Religion und Sitte eine ungerechte Vergewaltigung seien an dem einzig Berechtigten, an dem Egoismus. Für die nervöse Ueberhast, mit der in jener Zeit auf ihrer Suche nach einem neuen Kunstideal die jungen Poeten von einem Gegensatz zum andern sprangen, dafür sei als ein Beispiel die damalige Entwickelung von Mackay angeführt. Er, der noch unlängst für sein Gedicht »Arma parata fero« ein Verbot auf Grund des Sozialistengesetzes eingeheimst hatte, schrieb jetzt auf seine neueste Gedichtsammlung »Das starke Jahr« (Zürich 1890) als Motto den Satz von Max Stirner: »Man glaubt nicht mehr sein zu können, als Mensch. Vielmehr kann man nicht weniger sein!« Und gewidmet war das Buch »dem gehaßten Gefährten des starken Jahres«.

Den eigentlichen Kern der Gedichte bildete diesmal die Umwandlung, die in Mackays Weltanschauung vor sich gegangen war; aber seine dichterische Begabung hatte sich nicht geklärt. Man hat bei seinen philosophischen Gedichten immer noch das Gefühl, als empfinde er alles Mögliche dabei, was er durchaus nicht zum Ausdruck bringen kann. Die dichterische Form des Verses scheint ihn zu stören und liegt oft wie eine schwere Masse drückend auf dem weichen und unklaren Empfindungsgehalt. Man hat den Eindruck, als ringe er mit allem: mit seinen Gedanken, mit seinen inneren Erlebnissen, mit der Sprache – und als komme er auch da nicht zum wirklichen Sieg, wo er diesen Sieg selbst verkündet. Diesen Eindruck macht auf mich auch die Liederreihe, in denen er seine neueste Entwickelung zu schildern versucht. Am klarsten gelingt ihm verhältnismäßig die Darlegung seiner Gefühle in:

            Letzte Erkenntnis.
Einst wähnte ich sie zu verachten –
ich verachte sie nicht mehr.
Ich kann nur noch betrachten;
Ich schaue um mich her.

Ich betrachte das Sein wie ein Leben,
von dem kein Teil ich bin –
ich bin mein – ich kann mich geben
nicht mehr den andern hin.

Denn ich bin wiedergekommen
zu mir – was brauche ich mehr?
Mein ward wieder, was mir genommen;
was geflohn, kam wieder her.

Und gab mir wieder die Hände –
ich bin unendlich reich!
Von hier bis zum Erden-Ende
ist mir kein anderer gleich.

Das flößt den Mut, den neuen
der klaren Seele ein;
Es will sich wieder freuen,
wieder stark die einsame sein! . . .

Sie rasen, die lärmenden Thoren,
und rennen die Grenzen an –
ich verschließe meine Ohren,
was geht mich ihr Schreien an?

Sie trennen Gerechte und Sünder
und halten wechselnd Gericht,
doch sie sind ewige Kinder,
und sie verstehen sich nicht. 191

Ich aber verstehe alle
und nenne keinen schlecht;
Ob er siege oder falle,
er ist in seinem Recht.

Ob er falle oder siege,
es kann nicht anders sein
Ich steige, und ich ersiege –
gewiß! – Doch ich bin mein! . . .

Auch weiterhin begeisterte sich Mackay für diese seine neueste Weltanschauung. Er sammelte Material für eine Biographie Max Stirners und schrieb einen Roman: Die Anarchisten.

Mackay lebte jetzt in der Schweiz in nahen Beziehungen zu Henckell, der sich immer mehr zum Poeten des Sozialismus ausgebildet hatte und seinen zahlreichen Lyrikbänden eine Sammlung von Kampfliedern unter dem Titel »Trutznachtigall« anreihte. Immer politischer wurde die Lyrik. In Zürich lebte damals auch Maurice Reinhold von Stern (geb. zu Reval am 3. April 1859), der Sohn des esthländischen Dichters Karl Walfried von Stern. Wegen einer Insubordination hatte er, der Zögling des Dorpater deutschen Gymnasiums, seine ursprüngliche militärische Laufbahn aufgeben müssen, und dann hatte ihn der Wandertrieb nach Amerika geführt. Dort hatte er sich tief in die sozialistische Bewegung hineingestürzt und selbst die »New Yerseyer Arbeiter-Ztg.« gegründet. Krank war er 1885 nach Europa zurückgekehrt und hatte in Paris und London, in Basel und endlich in Zürich seinen Wohnsitz genommen. Dort hatte der 26jährige junge Mann sich noch auf der Universität immatrikulieren lassen und sein Studium bis 1888 fortgesetzt. Dann war er eine Zeitlang Redakteur des »Züricher Volksblatts« geworden. Mit »Proletarierliedern« hatte er sich eingeführt (1885), denen »Die Stimmen im Sturm« (1888) und die »Neuen Lieder« (1889) gefolgt waren. Seine politischen Ideale entsprachen ungefähr dem Programm, das Hauptmanns Loth im ersten Akt des »Sonnenaufgangs«-Dramas entwirft: Kampf gegen das Kapital und gegen den Alkohol – ein Lebensprogramm der Enthaltsamkeit und des Sozialismus.

So erwachte mitten im Naturalismus ein gesteigertes Interesse für die Lyrik. Da aber die junge Generation damals von der fixen Idee beherrscht wurde, daß jede Dichtungsart in dieser Zeit ganz neu werden müsse, so leitete z. B. Julius Hart seine neue Gedichtsammlung »Homo sum« (1890) mit einer langen Abhandlung über die »Lyrik der Zukunft« ein, die in den Worten gipfelte:

». . . Das Wesen ihrer Objektivität steht im Gegensatz zu dem Subjektivismus der hinter uns liegenden Poesie. Die Lyrik wird deshalb auch aus der fremden Seele heraus denken, fühlen und reden lernen und nicht immer das Ich zu Worte kommen lassen. Sie wird das Landschaftliche in ganz anderer Deutlichkeit uns malen, das Einzelbild statt eines typischen hinstellen, die Empfindungen schärfer begründen, ihre Ursachen darlegen und die Gefühle selber feiner zerlegen. In dieser Kunst hat Goethe zum Teil Großes geleistet, als ein dichterisches Genie, das über die Kunst seiner Zeit hinauswächst, aber wenig offenbart sich die Kraft in der übrigen deutschen Poesie, die wesentlich nur stimmungsvoll das reine Empfinden wiedergiebt. Vorwiegend ist aber auch die Goethe'sche Sprache Gefühlssprache und ihr Wesen musikalischer Natur; demgegenüber wird die Lyrik des Realismus reichere Elemente der Phantasieanschauung verarbeiten und einen mehr malerischen und plastischen Charakter annehmen, das Bildliche, das bei Goethe zurücktritt, mächtiger in den Vordergrund stellen. Innere Formwandlungen vollziehen sich, die dem Kenner nicht verborgen bleiben können.« –

192 In diesen Sätzen gipfelte Julius Harts neue Theorie. Irriger hat wohl nie ein Prophet seine eigene Zeit aufgefaßt. Im Gegensatz zu jener prophezeiten Objektivität bereitete sich in der Lyrik gerade damals ein bisher unerhörter Subjektivismus vor, der binnen kurzem den ganzen Naturalismus in der Litteratur über den Hausen werfen sollte. Aber – so wenig jemand an Julius Harts Gedichten irgend etwas grundsätzlich Neues füglich finden konnte, so gern muß man ihnen das höhere Lob zugestehen, daß sie in der gewohnten Art recht gut waren. Eine Probe!

                                      Am Grabe einer Schauspielerin.
Und es stöhnt der Wind, und der Regen fliegt und fegt an den Kreuzen und Steinen,
und aus der Erde, durchs nasse Gras, durch die Nesseln zittert ein Weinen.

Und durch die Nesseln, durchs nasse Gras, durch die Erde seh' ich es schimmern,
ein Leichenhemd, einen Rosenstrauß, eines Ringes goldiges Flimmern.

An den Busen gedrückt eine schmale Hand, zwei Augen im Schlafe geschlossen
und die Schultern, so zart wie der Blüten Schnee, von blonden Locken umflossen . . .

O du Tag, o du leuchtende Sommernacht, da ich goldene Stunden verträumte,
und, küssend deinen blutroten Mund, meine Jugendjahre versäumte. –

Nur noch einmal hör' ich so fern, so weit, wo der Himmel voll Wolken und Regen,
ein wonnig Lachen dort hoch im Gewölk, so trotzig und lustig verwegen.

In der bleichen Luft, in dem fahlen Licht hintreiben wirbelnde Blätter,
und die weißen Rosen wehen zerfetzt im trüben Regenwetter . . .

Im Gegensatz zur Theorie von Julius Hart ging die neue Lyrik darauf aus, die neuen Zustände wieder in neue Stimmungen aufzulösen. Eine gewisse »Fauststimmung« – ein damals bei den jüngsten Lyrikern beliebtes Wort – wurde dadurch erzeugt, daß der Gegensatz zwischen der neuen Welt und dem alten Empfinden in dem Gefühlsleben sich nicht ausgleichen lassen wollte.

. . . Doch dann bin ich längst in das Grab gebettet!
die neue Zeit weht über meine Gruft,
wenn sie der Menschheit Ideale rettet
und nach dem ew'gen Frieden bangend ruft;
dann wird vielleicht auf meinem Grabe blühen
ein Kranz von Rosen purpurn, dunkelrot,
denn niemals kann in dunkler Nacht verglühen,
was in mir rang nach lichtem Morgenrot. –

Diese Verse rühren von August von Sommerfeld her (geb. 8. Sept. 1868 in Potsdam, gest. 1899), der solchen Stimmungen in einer Anzahl von Schriften Ausdruck verliehen, so »Die entgötterte Welt« (1890), »Das neue Heil« (1891).

Die oben angeführten Verse setzte ein gleichfalls philosophisch beanlagter junger Dichter auf den Titel seiner Liedersammlung »Funken« (1890). Es war nicht sein Erstlingswerk. Ludwig Jacobowski (geb. zu Strelno am 21. Jan. 1868) hatte vielmehr schon in einer Reihe poetischer und ästhetischer Schriften jenes Ringen des Gefühls mit der neuen Welt zum Ausdruck gebracht. Gleich im ersten Liede dieser neuen Sammlung vergleicht er die moderne Eisenbahn mit dem uralten Ringen nach dem Ideal. 193

                    Im Coupé.
Gespenstisch atmen durchs fahle Grau
die Wälder lautloses Schweigen;
nur hin und wieder sich Flocken Blau
am trostlosen Himmel zeigen.

Auf dämm'rigen Fluren verschlafen haust
die Nacht und träumt vom Erwachen;
die Maschine saust und das Rad erbraust
durch Felder und sumpfige Lachen.

So Menschenherz du entgegenbraust
voll Unrast dem Ideale,
bis niederschleudernd des Schicksals Faust
dich kreuzigt am Marterpfahle.

Dann schaust du sterbend, wie weltenweit
du fern von dem leuchtenden Ziele,
und atmest müde im Todesleid
der Ewigkeit Morgenkühle. –

Nahe Freundschaft verband damals Jacobowski und Richard Zoozman (geb. in Berlin am 13. März 1863). Dieser sprudelte schon seit vielen Jahren unaufhörlich lyrische Gedichte in die Welt hinaus. Mit neunzehn Jahren schon hatte er einen »Minneborn« herausgegeben. Zwei Jahre später folgten »Lieder, Romanzen und Balladen«. Wieder nach zwei Jahren gab es »Neue Dichtungen« Dann folgten »Aus Herz und Welt« (1888) und »In Klios und Eratos Banden« (1889) und »Episoden« (1891). Zoozmann schwelgt in Lyrik. Alles wird ihm zum Vers, und jedem Metrum ist er gerecht. Aber dafür dichtet er auch wahllos und kommt selten zur Vertiefung und zum Ausreifen. Da sieht er »vier Cylinderhüte fahren« in Berlin in einer Droschke und gleich ist das Gedicht fertig. Der eine Cylinderhut deckt das Haupt eines Geldmannes.

Mit der Miene eines Triumphators
neben ihm sitzt Herr von Soundso,
dem Besuche des Totalisators
dankt ers Geld – sonst ist er dumm wie Stroh.

Geradeüber diesen beiden Edeln
sitzt der Dritte, arm und unbekannt;
doch ein Bückerich, gewandt im Wedeln,
lebt er von der andern milder Hand.

Und der vierte im Cylinderhute
ist der Kutscher im betreßten Rock.
Höher als die andern thront der Gute
oben hoch auf seinem Kutscherbock.

Dieser ist's, den ich am höchsten achte!
ehrlich doch verdient mit Fleiß und Schweiß
er sein Geld sich! – Wie man's auch betrachte,
das da hinter ihm ist nur Geschmeiß.

Vier Cylinderhüte sah ich fahren – –

Zoozmann und Jacobowski begründeten damals eine neue Zeitschrift unter dem Titel »Der Zeitgenosse, Berliner Monatshefte für Leben, Kritik und Dichtung der Gegenwart«. Diese Zeitschrift sollte mitten in dem Streit der Parteien eine Oase bilden und an Stelle des gegenseitigen Bekämpfens der Richtungen das einheitliche Streben nach echter Kunst stellen. Doch solche Friedensklänge waren noch verfrüht in jener Zeit hochgehender ästhetischer und politischer Gegensätze.

194 Aber der sozialistische und anarchistische Zug war es nicht, der die neuesten Dichter in Konflikt mit dem Strafrichter brachte. Vielmehr veranlaßten dies immer wieder die Verstöße gegen die Sittlichkeit. Der erste große Aufsehen erregende Prozeß dieser Art fand am 27. Juni 1890 in Leipzig statt, wo Alberti und Walloth, sowie ihr Verleger Friedrich sich wegen »Verbreitung unzüchtiger Schriften« zu verantworten hatten. Eigentlich war auch Hermann Conradi vor den Strafrichter geladen worden, aber der Tod hatte ihn vorher abgerufen. Er war am 8. März 1890 an einer Lungenkrankheit gestorben. Damit hatte die junge Generation den ersten Toten in den Reihen ihrer Kämpfer zu verzeichnen, und man versuchte nun sein Bild derartig zu verklären, wie einst der junge Hardenberg von den Romantikern verherrlicht worden war. Wenn nur der Unterschied nicht so groß gewesen wäre zwischen dem genialen Novalis mit seiner gedankenschwangeren, verheißungsvollen, formgewaltig dahinflutenden Mystik und dem unfertigen, überhasteten Conradi mit seinem mutlosen Versinken in alltäglicher Sinnlichkeit! Die in diesem Jahre gegründete Zeitschrift »Moderne Dichtung« (Brünn 1890) widmete ihm eine Gedächtnisnummer. Seinen Tod hatte diese Zeitschrift in der Nummer zuvor angezeigt mit den hochtönenden Worten:

»Einer unserer thattüchtigsten Mitstreiter, einer der genialsten und eigenartigsten Dichter und Denker unserer Zeit, Hermann Conradi, ist am 8. d. M. in der Abenddämmerung nach kurzem, schwerem Leiden verschieden. Noch vor kaum vierzehn Tagen hatte er uns mehrere größere Beiträge für das vorliegende Heft mit Bestimmtheit zugesichert, und wir hatten ihm auf eine bezügliche Anfrage hin den heutigen Tag als letzten Termin für die Einsendung 195 derselben festgesetzt. Statt der erwarteten Manuskripte ward uns soeben die furchtbare Kunde von seinem jähen Ende! Noch stehen wir allzu unmittelbar unter dem niederschmetternden Eindruck dieser Nachricht, noch läßt uns der Schmerz, der unser Herz durchkrampft, die Größe des Verlustes, den wir erleiden, nicht voll und ganz ermessen. In tiefstem, in Worte nicht faßlichem Weh rufen wir dem unglücklichen Kameraden unsern letzten Scheidegruß zu, – wir werden ihm allezeit und immerdar ein treues, liebevolles Andenken bewahren!« –

Hans von Basedow – ein fruchtbarer, aber wenig erfolgreicher junger Dramatiker – (geb. in Dessau 30. Juli 1864) schrieb in derselben Zeitschrift:

»Hermann Conradi war ein Dichter, der in die Tiefe der Menschenseele hinabtauchte, der die verborgensten Gefühle ans Licht förderte. Er sah da noch, wo andere nicht mehr sahen, fühlte die leisesten Schwingungen, für die die Nerven anderer völlig unempfindlich, – ja er war sozusagen ein einziger, schwingender Nerv. Seine Empfindungsschwelle lag tiefer, als die anderer.«

Die folgende Nummer sollte nun einen ausführlichen Artikel aus der Feder von E. Korn bringen, aber dieser entschuldigte sich, daß er die große Aufgabe so schnell nicht bewältigen könne:

»Nicht irgend ein Künstler, irgend ein Litterat ist da gestorben – hier starb vielmehr der Künstler-Prophet, der philosophische Pädagog der zukünftigen Generation. Hätte Conradi nur noch ein paar Jahre leben und jene Werke, deren Plan bereits vollständig konzipiert in seinem Gehirn bereit lag und zu welchen seine vorhandenen Schriften die bloße Ouverture bildeten, schaffen dürfen – er hätte sich als Repräsentant einer gewaltigen neuen Kultur manifestiert, einer Kultur, die sich in unsern Tagen abseits vom Wege aufgebaut hat und von der die guten Leute um uns herum keine Ahnung haben. Halten Sie dies nicht für das subjektiv gefärbte, übertreibende Urteil eines trauernden Freundes. Ich werde Gelegenheit haben, Wort für Wort diese Apotheose durch Dokumente zu belegen und beweisen.« –

Leider hat er das nicht gethan, und so wird es bis heute niemand glauben. Auch zwei Bildnisse Conradis brachte die Nummer, eins, das den Lebenden, und eins, das den Toten auf dem Sterbebette darstellte. Und dazu gehörten zwei Trauergedichte, ein längeres von Martin Weiß aus Würzburg und ein kürzeres von Karl Henckell. Aber besser als all dieser unwahre Schwulst, mit dem die vermeintlichen Wahrheitspropheten das Grab ihres ersten Toten entweihten, war ein Grablied, mit dem Conradi selbst einst sein eigenes Dichten besungen hatte:

Kaum bebt's jäh aus in schriller Dissonanz . . .
die Blätter sind verdorrt, versprüht ihr Glanz, –
es streicht der Abendwind durch die Cypressen . . .
nur Wen'ge weinen . . . sie verstummen bald.
Was ich geträumt, – sie geben ihm Gestalt –
ich aber werde bald vergessen . . . .
                                        (Lieder eines Sünders.)

Sein letztes Gedicht kam in Berlin zum öffentlichen Vortrage am ersten Abend – wiederum eines neuen »freien« Vereins. Schon die »Freie Volksbühne« hatte begonnen, außer Aufführungen auf der Bühne auch belehrende litterarische Vorträge und Rezitationsabende für große Arbeiterversammlungen zu veranstalten. Warum sollte dies bloß vor Arbeitern möglich sein? – Und so begründete sich denn eine »Freie litterarische Gesellschaft«. Sie verfolgte den Zweck, eine Ergänzung des Vereins »Freie Bühne« zu bilden und moderne Lyrik und 196 Novellistik zu Gehör zu bringen. Dienen sollten dazu öffentliche Vorleseabende, Anlegung einer Bibliothek und zwanglose Veröffentlichung von dichterischen und ästhetischen Werken. Der erste Vorleseabend fand am Freitag den 14. Nov. 1890 in einem Saal des Hotel Imperial in Berlin statt und hatte großen Erfolg. Fräulein Nuscha Butze und die Schauspieler Emanuel Reicher und Arthur Kraußneck trugen Dichtungen von Conradi, Holz, Fontane, Sudermann, Liliencron, Julius Hart und von mir vor, und eine feine Novelle aus »Wand an Wand« von Eduard Engel. Eingeleitet wurde der Abend durch einen kurzen Vortrag von Ernst von Wolzogen. Zum Vorsitzenden des Vereins war Heinrich Hart, zum Ehrenvorsitzenden Fontane gewählt worden. Der starke Erfolg des ersten Abends erregte große Aufmerksamkeit, so daß die Vereinigung jahrelang fortbestehen konnte. – So hatte Berlin denn eine »Freie Bühne«, eine »Freie Volksbühne« und eine »Freie litterarische Gesellschaft« und obendrein noch eine »Deutsche Bühne« – alles im gesegneten Jahre 1890! Das war fast zu viel selbst für eine Weltstadt! Kein Wunder daher, daß auch die anderen größeren Städte des Deutschen Reiches von der Bewegung ergriffen wurden und solche Vereinigungen innerhalb ihrer Mauern entstehen ließen.

 


 


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