Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Fünftes Kapitel.

Die Sehnsucht nach dem Erhabenen beginnt wieder die Bühnendichter zu beherrschen.

Die Verse waren nun einmal wieder modern geworden. Auch Hauptmann bediente sich ihrer zum zweiten Male in seinem Märchendrama »Die versunkene Glocke« (1896). Ein Glockengießermeister ist der Held in Hauptmanns berühmtestem Bühnenwerke. Aber ehe wir ihn selbst sehen, erblicken wir diejenigen Mächte, die mit den Glocken keine Freundschaft geschlossen haben. Die Glocke ist das Symbol des Christentums; heidnischen Ursprungs aber und heidnischen Glaubens sind die Waldgeister hoch in den Bergschluchten des Riesengebirges. Da, wo Rautendelein ihr Elfenreich leitet; da, wo der Nickelmann plump und unwirsch sein »Brekekekex« aus dem Brunnen ertönen läßt; da, wo der 297 Waldschratt, die Menschen irre führend, von Zacken zu Zacken springt: da glaubt man noch an den milden Baldur und an den sonnigen Freir, an den grimmigen Thor und den mächtigen Wodan, aber da haßt man die Christenglocken. In dies Gebirge ist der Meister Heinrich hinaufgestiegen, bekümmert hinter dem Wagen herschreitend, der seine neueste und schönste Glocke entführt. Er war nicht zufrieden mit dem Guß, den das ganze Städtlein lobte. Da kam, ihm unsichtbar, der Waldschratt und ließ, seinem neckischen Berufe getreu, den Wagen in den Abgrund stürzen. Halb freiwillig, halb unfreiwillig folgte der Meister seinem Werke. Auf der Waldwiese, wo Rautendelein des Nickelmanns plumpes Werben abweist, steht die Hütte der alten Hexe Wittichen. Da taumelt der Meister daher, krank und sterbenssehnsüchtig. Die alte Hexe will ihn sterben lassen, das zarte Elflein Rautendelein aber bittet für sein Leben. Weh ihm, daß er die Augen aufschlägt zu ihr! Weh ihm, daß der fromme Pfarrer, der auf seine Aufklärung pochende Schullehrer und der mutige Barbier ihn finden, ihn von der alten Wittichen zurückerhalten und ihn heimtragen in das Haus seines treuen Weibes, das ihn da in banger Sehnsucht erwartet. Wie war sie stolz auf sein neuestes Werk, wie erschrak sie bei der Nachricht von seinem Unfall, wie ist sie nur ganz Liebe bei seinem Anblick! Aber sie hört das schreckliche Wort aus seinem Munde. Sie hört, daß sie mit all ihrer frommen Liebe sein Herz nie ganz ausgefüllt, daß er immer eine Oede in sich empfunden hat, daß er jetzt nur sterben will, um ihr nicht noch mehr weh zu thun. Und wie sie ihn verlassen für einen Augenblick, da erscheint verkleidet Rautendelein, die Elfin von den Bergen, und mischt ihm den Zaubertrank und singt ihm das Zauberlied und hat sein Herz gefangen für immer. Der nächste Akt schon zeigt ihn uns, von hoher Begeisterung das Herz geschwellt, oben in den Bergen, wo er den Pfarrer freundlich empfängt, der kommt, um ihn ernstlich zu vermahnen. Heinrich verteidigt sich gegen den Vorwurf, daß er ein Gottesleugner geworden sei; im Gegenteil glaubt er Gott jetzt noch tiefer und wahrer zu erkennen, und da nach seiner Meinung die Glocken des Thales oben in den Bergen nicht tönen wollen, so will er eine neue, große, wunderbare Glocke schmieden, die der ganzen Menschheit läuten soll. Der Pfarrer aber erkennt in den Worten des Meisters seine Abtrünnigkeit vom alten Christenglauben und erklärt ihm, er werde die alte, in dem See versunkene Glocke noch einmal tönen hören. So ungläubig der Meister dazu den Kopf schütteln mag, die Prophezeiung erfüllt sich schleunigst. Wir sehen ihn im vierten Akt eifrig an seiner neuen Glocke arbeiten, aber es scheint nicht mehr so recht vom Fleck zu gehen. Als ein Uebermensch will er die Zwerge zwingen, die schon lässig werden; als ein Uebermensch wirft er den Ansturm der Bürger zurück, die, aus dem Thale heraufsteigend, mit Gewalt ihn von seinem Rautendelein losreißen wollen; aber daß er doch nur ein kleiner, sterblicher Mensch ist, erfährt er bald darauf. Er sieht im Geiste seine kleinen Knaben – sie sind beide tot – die Zacken des Berges hinanklimmen, sie tragen in der Hand ein Krüglein, darin sie die Thränen ihrer Mutter gesammelt haben. Auch sie ist tot. Wo ist sie? In demselben Bergsee, worin die tote Glocke schlummert. Sie hat sich, verlassen und verzweifelt, 298 dahinein gestürzt. Schrecklich soll es dem Meister zur Gewißheit werden, denn plötzlich beginnt die Glocke unten im See wieder zu tönen. Die tote Frau hat sie mit der starren Leichenhand zum Klingen gebracht. Es graust dem Meister. Er flieht davon, von Furien gehetzt, und findet endlich vor der Hütte der alten Wittichen seine letzte Ruhe. In dem Brunnen tief drinnen wohnt nämlich jetzt Rautendelein bei dem Nickelmann, der nun Macht über sie gewonnen hat. Sie steigt noch einmal herauf, kann ihm aber nur noch den Todesbecher reichen mit dem Trunk, den die alte Wittichen ihm geschenkt hat. Dann steigt sie hinab in die ewige Gefangenschaft des Brunnens; er aber stirbt, die ungestillte Sehnsucht nach der Sonne im Herzen.

Die Sehnsucht nach der Sonne! »Mutter, gieb mir die Sonne!« so flehte der unglückliche Oswald in Ibsens »Gespenstern«. Nach der Sonne steht auch der Sinn Heinrich des Glockengießers. Wir wissen so wenig von seiner Vorgeschichte wie in der Regel bei Hauptmanns Helden. Was hat zwischen ihm und seiner Gattin gestanden? Er war eben ein »unverstandener Mann«, wie so viele Hauptmann'sche Lieblinge. Seine Frau liebt ihn aber nicht bloß wie Käthe den Johannes in »Einsame Menschen«; sie liebt größer. Sie versteht sein Künstlerstreben, sie liebt seinen Beruf, sie vergöttert seine Kunst, sie lebt in seinem Ruhm. Und noch weniger ist Rautendelein eine andere Anna Mahr. Vielmehr ist die Elfin ein Naturkind, das nichts vom Glockengießen versteht, und sie ist es nicht, die ihm den großen Gedanken von der neuen, schöneren und heiligeren Glocke in das Herz giebt. Es kommt ihm dieser Gedanke von selbst, wie er in der Freiheit der Berge sich mit sich allein findet, wie er sich Herr fühlt über alles Irdische. Die Nixlein leben sich aus, so erfahren wir, und sie lieben sich auch aus. Das ist Meister Heinrichs Sehnen. Ihm ist es daheim zu eng. Er will die neue Religion gründen, die Religion der Weltbeglückung!

Was aber dies Problem vom dritten Akte an so unklar erscheinen läßt, ist der Umstand, daß Hauptmann so ängstlich am Bilde der Glocke festhält. Ibsen macht es in ähnlichem Falle anders. Wie sein Doktor Stockmann den Badeort nicht reinigen kann von Bazillen, geht er vom besonderen Fall zur Allgemeinheit über. Er stellt sich in den Versammlungssaal und redet von dem Schmutz und den Bazillen der Gesellschaft, die schädlicher seien, als die des Badeortes. Warum läßt Heinrich oben nicht das Glockengießen, warum verkündet er nicht in einer feurigen Bergpredigt der lauschenden Menge, die ihn vertreiben will, sein neues Evangelium? Weil dieser Meister Heinrich nicht die Schöpfung des Gedankendichters Ibsen, sondern des Gefühlspoeten Hauptmann ist. Er ist, wie immer bei Hauptmann, der Typus des unklaren Schwächlings. Wie ein auf einer Frevelthat ertappter Knabe muß er erzittern beim Klang der Glocke tief im See. Sein Truggebäude von erträumter Größe bricht ihm zusammen mit dem Ende des Liebesrausches. Er verliert die Macht über Elfen und Menschengeister, und nur der Tod ist seine traurige Erlösung.

Was aber in diesem erfolgreichsten aller Schauspiele der letzten Jahre ganz vortrefflich gelungen ist, und was auch für das großstädtische Publikum ein 299 wahres Labsal bildet, das ist die Märchenstimmung des rauschenden Bergwaldes, das ist die warme und reiche Belebung der Natur. Die Bühne, die so lange, besonders auch durch Hauptmanns Anregung, zu einer Marterkammer geworden war, atmet hier den satten würzigen Waldduft, und eigenartig reizvoll sind die Gestalten, die sich hier tummeln.

Daher war der Erfolg des Stückes auch ein so ungeheurer. Außer den unzähligen Aufführungen in aller Welt erlebte allein die Buchausgabe in drei Jahren über vierzig Auflagen.

Man übersah eben die Verworrenheit des Grundgedankens, um sich an der Romantik des Märchens zu erfreuen, und man berauschte sich an klingenden Worten wie:

»Wer mir mein Werk bezahlt? O Pfarrer, Pfarrer!
Wollt Ihr das Glück beglückt, den Lohn belohnt? –
Nennt immerhin mein Werk, wie ich es nannte;
Ein Glockenspiel! Dann aber ist es eines,
wie keines Münsters Glockenstube je
es noch umschloß, von einer Kraft des Schalles,
an Urgewalt dem Frühlingsdonner gleich,
der brünstig brüllend ob den Triften schüttert;
und so; mit wetternder Posaunen Laut
mach' es verstummen aller Kirchen Glocken
und künde, sich in Jauchzen überschlagend,
die Neugeburt des Lichtes in die Welt.

Urmutter Sonne!! Dein und meine Kinder,
durch deiner Brüste Milch emporgesäugt –
und so auch dieses, brauner Krum' entlockt
durch nährendheißen Regens ew'gen Strom;
sie sollen künftig all ihr Jubeljauchzen
gen deine reiche Bahn zum Himmel werfen.
Und endlich, gleich der graugedehnten Erde,
die jetzund grün und weich sich dir entrollt,
hast du auch mich zur Opferlust entzündet.
Ich opfre dir mit allem, was ich bin! –
O Tag des Lichtes, wo zum erstenmal
aus meines Blumentempels Marmorhallen
der Weckedonner ruft – wo aus der Wolke,
die winterlang uns drückend überlastet,
ein Schauer von Juwelen niederrauscht,
wonach Millionen starrer Hände greifen,
die, gleich durchbrannt von Steineszauberkraft,
den Reichtum heim in ihre Hütten tragen;
dort aber fassen sie die seidnen Banner,
die ihrer harren – ach, wie lange schon?! –
und, Sonnenpilger, pilgern sie zum Fest.

O Pfarrer, dieses Fest! – Ihr kennt das Gleichnis
von dem verlornen Sohn –; die Mutter Sonne
ist's, die es den verirrten Kindern schenkt.
Von seidnen Fahnen flüsternd überbauscht,
so ziehn die Scharen meinem Tempel zu. 300
Und nun ertönt mein Wunderglockenspiel
in süßen, brünstig süßen Lockelauten,
daß jede Brust verschluchzt vor weher Lust;
es singt ein Lied, verloren und vergessen,
ein Heimatlied, ein Kinderliebeslied,
aus Märchenbrunnentiefen aufgeschöpft,
gekannt von jedem, dennoch unerhört.
Und wie es anhebt, heimlich, zehrendbang,
bald Nachtigallenschmerz, bald Taubenlachen –
da bricht das Eis in jeder Menschenbrust,
und Haß und Groll und Wut und Qual und Pein
zerschmilzt in heißen, heißen, heißen Thränen.

So aber treten alle wir aus Kreuz
und, noch in Thränen, jubeln wir hinan,
wo endlich, durch der Sonne Kraft erlöst,
der tote Heiland seine Glieder regt
und strahlend, lachend, ew'ger Jugend voll,
ein Jüngling, in den Maien niedersteigt.« –

Eine Fülle schöner Worte und selbstbewußter Verheißungen! – Aber – was denn nun eigentlich das für ein Zauber ist, worin denn nun eigentlich das erlösende Neue besteht, das erfahren wir nicht. – Statt einer Idee nur Worte! –

Man kann wohl sagen, daß selten ein begabter Poet so häufig mit einem nachfolgenden Werke alle Grundsätze des kurz vorangegangenen umgeworfen hat, wie Hauptmann. Kaum hatte er mit seiner Aeußerung über die Zukunft der Litteratur den Himmel aus der Poesie verbannt, so schrieb er selbst ein Himmelfahrtsschauspiel, und, nachdem er Jahre lang gegen Pathos und Rhetorik auf der Bühne gekämpft hatte, siegte der dritte Akt seiner versunkenen Glocke grade durch donnerndes Pathos und rauschenden Wortschwall. Bei alledem war aber auch hier wieder keine zielbewußte Fortentwickelung, denn schon sein nächstes Schauspiel brachte wieder krassen Naturalismus. Er ist eben bis jetzt der ewig hin und her Schwankende geblieben. – Doch vor der Hand begeisterte sich alle Welt für »Die versunkene Glocke«.

Auch das leicht im Hintergrunde anklingende religiöse Motiv verhehlte seine Wirkung nicht, denn auch hier war eine Sehnsucht der Zeit verborgen. Noch am Ende desselben Winters, dessen Mitte »Die versunkene Glocke« gebracht hatte, traten fast gleichzeitig zwei Dramatiker mit Schauspielen aus der Religionsgeschichte hervor: Adolf Wilbrandt mit seinem »Hairan« im »Berliner Theater« und ich mit meinem »König Saul« im »Theater des Westens«. Wilbrandt hatte den kühnen Versuch gewagt, das Leben Jesu selbst dramatisch zu gestalten, jedoch von einem andern Standpunkte aus, als vor Jahren Gumppenberg. Um zunächst niemanden in seinen religiösen Empfindungen zu verletzen, sprach er den geheiligten Namen selbst nicht aus, sondern verbarg ihn hinter dem Namen Hairan. Aber schon die äußere Darstellung durch den trefflichen Otto Sommerstorff zeigte deutlich die allbekannte geweihte Gestalt. Dennoch war nur die Jesus-Idee 301 derselben zu Grunde gelegt; auch spielt sich das Leben Hairans nicht in Palästina ab, sondern in der klassischen Welt. Ein antiker religiöser Aufzug mit seinem hohlen Gepränge steht gleich anfangs im wirkungsvollen Gegensatz zu den inneren Seelenqualen des mit sich ringenden Hairan. Dagegen ist die Geschichte seiner Liebe und deren Ueberwindung zu breit ausgesponnen, obwohl die allzulangen Monologe des Helden oft von großer poetischer Schönheit sind. Der größte Unterschied zwischen Gumppenbergs und Wilbrandts Auffassung liegt aber in der Ausdeutung der Wunder. Auch Wilbrandt will diese nicht als unmittelbare göttliche Einwirkung ansehen, aber er hütet sich auch, die entwürdigende Schuld des Betruges auf seinen Helden zu schleudern. Hairan selbst glaubt nicht an seine eigene Wunderkraft. Einem Gelähmten ruft er zu, er sei nur Seelenarzt; »doch Arzt für kranke Glieder bin ich nicht!« Dennoch springt der Gelähmte geheilt auf seine Füße, und Hairan ruft ihm zu: »Nicht ich, dein Glaub' hat dir geholfen!« Daß der feste Glaube an seinen Arzt oft zu heilen vermag – daß der feste Glaube jeden Gläubigen auf seine Art selig macht und, im übertragenen Sinne, Berge versetzen kann, wenn er eben zum festen inneren Willen wird – das ist der Gedanke, der dieser Szene zu Grunde liegt. Und daß Hairan diesen festen Glauben zu verbreiten vermag durch seine Reinheit und innere Größe – das ist der Grundzug seines Charakters. So stirbt er im letzten Akte des wenig dramatischen, aber sehr gedankenreichen Dramas als ein äußerlich unterliegender, innerer Sieger.

Ganz anders lag das Thema meines »König Saul«. Diese Gestalt, die von frühster Jugend an sich meiner Phantasie unauslöschbar eingeprägt hatte, wurde mir zum Vertreter des ringenden, freien Menschengeistes, der gleichfalls den schweren Kampf gegen die Gedankenunterdrückung so lange kämpfen mußte, bis er, endlich befreit, durch den krassen Materialismus zur Nietzsche'schen Uebermenschenphilosophie kam und heutzutage schon wieder den Rückzug zur Mystik antritt. Das wenigstens ist für mich der Grundgedanke, aus dem ich den Charakter meines König Saul zu gestalten versucht habe, der im Anfange als nationaler Held vom Kriege heimkehrend, den Samuel, der ihn einst gewählt, nun neidisch auf seine Erfolge findet. Wie sein Kampf gegen den Hohenpriester ihn schließlich zum Kampfe gegen Gott und Schicksal und zum erträumten Uebermenschen werden läßt, bis er seiner Ohnmacht inne wird und, von der Sehnsucht nach seinen erloschenen Idealen getrieben, vor der Hexe von Endor niederkniet, – das ist der Seelenkampf, den ich schildern wollte. Ob es gelungen ist, darüber mögen andere urteilen; seine Absichten aber zu äußern, das ist das Recht des Schaffenden.

Mittlerweile hatte Sudermann auch sein biblisches Drama beendet, und nach der Sommerpause sollte es im »Deutschen Theater« zur Aufführung kommen. Da durchkreuzte wieder einmal die Polizei die Pläne des Dichters. Aber wieder erwies sich das Verbot nur als eine unbeabsichtigte Reklame, denn natürlich mußte es wieder zurückgenommen werden, und um so höher waren die Erwartungen des Publikums gespannt auf diesen »Johannes«.

302 Am wenigsten konnte wohl jemand begreifen, warum dieses Stück verboten werden konnte, denn in diesem drittenErwähnt sei auch noch A. Fritschs »Judas Ischarioth«, Rom 1891, der sich mehr an die biblische Ueberlieferung anschließt und einen Teil einer »Jesus-Passion« bildet. Christusdrama der ganzen Epoche erscheint die Gestalt Jesu am heiligsten und reinsten – hier ist er wirklich der Welterlöser, der Heiliger des Menschengeschlechts, der Verkündiger der reinen Liebe – und obendrein – hier erscheint er gar nicht auf der Bühne. Dieser Umstand hätte alle religiösen Bedenken gegen die Aufführung vernünftigerweise schwinden lassen müssen. Aber freilich – was, vom Standpunkt der Bühnenmöglichkeit aus betrachtet, der größte Vorzug dieses Stückes ist, das ist – vom künstlerischen Standpunkt aus gesehen – sein größter Fehler. Denn das Schauspiel stellt Johannes den Täufer als den strengen Verkündiger des göttlichen Zorns in geraden Gegensatz zu der Lichtgestalt Jesu, des Verkündigers der göttlichen Liebe: und von diesen beiden entgegengesetzten Charakteren sehen wir einen nur lebendig auf der Bühne – von dem andern hören wir nur beständig reden. Das hat diesen erhabensten Stoff, zu dem sich Sudermann je emporgeschwungen hat, um seine dramatische Vollkraft gebracht. –

Das Stück beginnt mit einem Vorspiel in wilder Felsgegend in der Nähe Jerusalems, wo nächtlicherweile Johannes von seinen Gläubigen aufgesucht und mit allerlei Anliegen bestürmt wird, auf die er als strenger Bußprediger antwortet. Deutlich ist ihm aber noch der Augenblick in der Erinnerung, wo er Jesum getauft hat.

Aber er hat keine Ahnung, wo dieser Gottessohn geblieben ist. Dem »Kommenden« will er die Bahn bereiten, indem er Buße predigt. Und da kommt aus dem Schlosse des Vierfürsten Herodes die kleine Mirjam zu ihm und meldet ihm Schreckliches: Herodes hat sich mit Herodias, der Frau seines eigenen Bruders, vermählt und will mit ihr und ihrer Tochter Salome – zusammen den Tempel betreten am ersten Passahtage. Sogleich beschließt Johannes, selbst zum erstenmal nach Jerusalem zu gehen, um das zu hindern oder zu bestrafen. – Der erste Akt spielt dann vor dem Tempel. Da treibt sich allerlei Volks umher, und man sieht die verkommenen Zustände der erstarrten altjüdischen Religion. Da darf man einen Mann nicht stören, wenn er im Gesetze liest – darauf steht der Tod. Da kommen Priester des Weges, die vergebens ihren Segen anbieten, den die aus der Schule der Pharisäer verschmähen. Da geht ein sogenannter Zelot umher, ein schrecklicher Fanatiker. Jeden, dem ein halbwegs freies Wort entschlüpft, erklärt er für einen Gotteslästerer und ersticht ihn hinterrücks mit seinem Dolche. Da bittet einer vergebens darum, die kühlenden Begießungen auf den kranken Fuß seiner Frau am Sabbath fortsetzen zu dürfen. Aber ein Galiläer erklärt, die Pharisäer seien unrein durch sich selbst, denn: »Höher denn Gesetz und Opfer ist die Liebe«. Dies Wort, das den Zorn der Gesetzeskundigen erregt, bohrt sich in die Seele des Johannes. Vergebens sucht er zu erforschen, wer den Galiläer dies gelehrt hat. Denn Johannes hat bisher das Wort »Liebe« gehaßt, weil er es für 303 den Deckmantel alles Verweichlichenden in der Welt hält. Und nun tritt ihm in dem folgenden Akte die Liebe aufsteigend in ihren wechselnden Formen entgegen. Er wird in den Palast des Herodes gerufen, wo das dämonische Sinnenweib Herodias und das gleichfalls sinnlich veranlagte Töchterlein Salome seiner harren. Noch streitet in Salomes Herzen die wirkliche Liebe phantastisch mit dämonischen Trieben. Aber vergebens sucht sie im Herzen des Johannes Feuer zu entfachen. Doch auch der Zorn der Herodias weicht vor der Gewalt seiner Donnerworte, und sie entlassen ihn in Freiheit – beide nicht ohne Bewunderung seiner Größe. Ein Wort der Herodias aber hat den Johannes getroffen. Sie hatte ihm vorgeworfen, er kenne ja gar nicht die Menschen, für die er kämpfe, da er ja als Einsiedler lebe. So bringt er den Abend im Hause seines treuen Jüngers Josaphat zu und lernt dort die warme stille Familienliebe kennen. Aber immer noch ist er nicht mit der Liebe ausgesöhnt. Er äußert:

»Ich hörte hier einen von Sünde reden . . . Wißt ihr, in welches Gewand sich die Sünde vornehmlich kleidet, wenn sie unter die Leute geht? Saget Hoffart – saget Haß, sagt was ihr wollt, und ich werde eurer lachen. Hört und behaltet es; Liebe nennt sie sich am liebsten. Alles, was klein ist und sich duckt, weil es klein ist – was die Brosamlein von seinem Tische wirft, um nicht mit den Broten zu werfen, – was die Gräber zudeckt, damit sie heimlich stinken, – was sich den Daumen der linken Hand abhackt, damit er zum Daumen der Rechten nicht sage; hüte dich; das alles heißen sie Liebe . . . Und Liebe heißen sie, wenn im Frühling die Esel brünstig werden und die Hindinnen schreien, – wenn ein Weib selber am Abend die Steine zusammenträgt, mit denen das Volk sie töten wird am Morgen, um noch darauf zu buhlen; und das Weib spricht; Siehe Liebster, wie ist unser Lager so süß! – das nennen sie Liebe . . .«

Aber das Wort des Galiläers läßt ihm keine Ruhe. Diesen hat zwar inzwischen der schreckliche Zelot ermordet, doch vor den Stufen des Tempels schlafen nächtlicherweile allerlei Fremde. Unter sie mischt sich Johannes. Aber es sind aus Galiläa nur ein paar plumpe Kerle da, die vom Tischlermeister Joseph wohl mit Achtung reden, doch nur mit Hohn von seinem predigenden Sohne. Und wie Johannes von den Lehren dieses Sohnes etwas zu hören wünscht, da äußert der eine: »Ja, was lehrt er? Allerhand Thorheit lehrt er. So: wir sollen unsere Feinde lieben u. s. w.« So unschön hier diese Lehren vorgetragen werden, so tief dringen sie doch ins Herz des Johannes. Und wie er am nächsten Morgen auf den einziehenden Herodes den ersten Stein werfen will, als Zeichen zum Beginn der allgemeinen Steinigung, da läßt er die schon erhobene Hand plötzlich sinken: »Im Namen dessen, der – mich – dich lieben heißt . . .? (der Stein entfällt seiner Hand).« Damit hatte er die Gunst des Volkes verscherzt und den Augenblick der Empörung verpaßt. Aber den Verdacht der Wache hat er doch erregt. Er wird ergriffen und in den Kerker geworfen. Herodes, der grübelnde Schwächling auf dem Throne, besucht ihn dort, und er findet den schlichten Weisen als einen ungefährlichen Mann, dem er volle Bewegungsfreiheit schenkt. Diese benutzt Johannes dazu, um seine Jünger herbeizurufen und sie nach Jesus auszusenden. Gleichzeitig kommt auch Salome zu ihm und bietet ihm nochmals ihre Liebe an. Wie er sie aber wiederum verschmäht, da stürzt sie entrüstet davon und – nun ist sein Schicksal entschieden. – Zu Ehren des römischen Legaten Vitellius veranstaltet 304 Herodes ein glänzendes Fest, und um dem verwöhnten Gast etwas ganz Besonderes bieten zu können, wünscht der Fürst, daß seine Stieftochter Salome vor ihm tanze. Sie willfährt unter der Bedingung, daß sie nach beendetem Tanze eine Gnade erbitten dürfe, und auf den schrecklichen Rat ihrer schrecklichen Mutter Herodias verlangt sie dann von dem bestürzten Herodes das Haupt des Täufers in einer goldenen Schüssel. Vortrefflich durchgeführt ist die Szene, wo der blasierte Vitellius das persönliche Erscheinen des Johannes wünscht, um sich zur Würze seines Mahles an dessen Todesangst zu weiden; wie Salome von ihm nur einen Kniefall und ein Wort der Bitte wünscht, um ihm vergeben zu können; wie Johannes aber nur auf die Botschaft seiner Jünger wartet und mit den überbrachten Grußworten Jesu stolz in den Tod geht, während man durch die weitgeöffneten Fenster des Palastes das Lärmen der Menge hört und die geschwungenen Palmenzweige sieht – beim Einzuge des Messias.

Leider sind die Akte nicht alle so gut gebaut wie der letzte! Namentlich der erste und dritte leiden sehr an der bewußten oder unbewußten Beeinflussung durch Hauptmanns Stil und haben nichts von der sonstigen kraftvollen Steigerung und straffen Geschlossenheit Sudermann'scher Akte. Aber dieser Formfehler verschwindet gegenüber dem inhaltlichen Mißgriff, daß der strenge Bußprediger Johannes sich in einen Liebespropheten umwandeln läßt: durch nichts als lauter Hörensagen. Wenn die alles überstrahlende Erscheinung Jesu selbst im dritten Akte erschiene und die düstere Seele des Johannes auf die Knie niederzwänge in heiliger Verehrung vor der Gottheit der Liebe – dann wäre das Werk für die gegenwärtige Bühne zwar verloren gewesen – aber was für ein ewiges Kunstwerk hätte daraus entstehen können!

Das nächste Drama Sudermanns war zu allgemeiner Ueberraschung ein Märchen in Versen: »Die drei Reiherfedern«. Die Luft von Sudermanns Heimat durchweht den Schauplatz, denn an der Bernsteinküste des Samlandes beginnt es. Prinz Witte, der von seinen nächsten Verwandten vertriebene junge Herrscher von Gothland hatte dort eine mystische alte Zaubererin getroffen. Seine Sehnsucht nach dem denkbar vollkommensten Weibe hat sie zu stillen versucht durch einen Talisman:

»Es liegt eine Insel im Nordlandsmeer,
wo Tag und Nacht zur Dämm'rung wird;
noch niemand feierte Wiederkehr,
der sich im Sturme dort verirrt.
Das ist dein Weg.

Dort, wo das Heil noch nie gelehrt,
dort wird in einem kristallnen Haus
ein wilder Reiher als Gott verehrt.
Dem Reiher reiße drei Federn aus
und bringe sie her!« –

Und wie er die Federn bringt, belehrt sie ihn über deren Gebrauch mit den Worten:

»Die erste der Federn ist nur ein Schein
aus Lichtern und Nebeln, die rings um dich brau'n,
wirfst du sie opfernd ins Feuer hinein,
so wirst du im Dämmer ihr Bildnis schau'n. – 305

Die zweite der Federn – merk' es dir gut!
Wird dich in Liebe mit ihr vereinen,
verbrennst du sie einsam in schweigender Glut,
muß sie nachtwandelnd vor dir erscheinen! –

Und bis die dritte in Flammen verloht,
reckst du nach ihr die sehnenden Hände;
der dritten Vernichtung bringt ihr den Tod,
drum hüte sie wohl und denk' an das Ende.« –

Prinz Witte kommt nun mit diesem Talisman bewaffnet in das Schloß der jungen Königin-Witwe von Samland. Diese hat eben ein Tournier ausschreiben lassen und schwört, daß sie den Sieger heiraten werde. Prinz Witte beteiligt sich daran, und obgleich er nicht der Sieger wird, wählt sie ihn zum Gatten. Aber er fühlt sich an ihrer Seite nicht befriedigt, denn ihn treibt es, das Ideal zu suchen, das ihm die drei Reiherfedern verheißen. Das Verbrennen der ersten Feder hat ihm keine Klarheit verschaffen können. Da verbrennt er nächtlicherweile die zweite Feder. Im selben Augenblicke steht vor ihm im Nachtgewand seine schöne Königin, die sich von ihm gerufen glaubt. Aber er versteht den Sinn des Orakels nicht, hält ihr Erscheinen für ein zufälliges und – nachdem es ihm noch gelungen ist, seinen ältesten Feind und Nebenbuhler zu besiegen und zu töten – zieht er davon in die Fremde. Wie er endlich heimkehrt, sieht er, daß nur seine schöne Königin sein Glück ausmachen kann und, um sich endlich von der ewigen Sehnsucht zu befreien, verbrennt er die dritte Feder. Sofort sinkt seine Gattin sterbend nieder, und zu spät erkennt er, daß sie das für ihn bestimmte Idealweib von jeher gewesen ist. Und nun holt auch ihn die Begräbnisfrau.

Diese Geschichte, die eine entfernte Aehnlichkeit mit Novalis' reizendem, ganz kleinem Märchen von »Hyacinth und Rosenblüt« hat, ist so überwiegend epischer Natur, daß sie – trotz hübscher Charakteristik und manch hübschen Einfalls die dramatische Form nicht verträgt.

Aber der Vers hielt wieder triumphierend seinen Festzug über die deutschen Bühnen, und das geschichtliche Kostüm aller Zeiten tauchte aller Orten wieder empor. Ja sogar das antike Gewand zeigte sich wieder – nach dem alten Hellas begannen die Dichter wieder zu reisen. Den Liebeswirren in der Ehe, die von den französischen Salondramatikern ihres idealen Hauchs entkleidet und von den Naturalisten zur platten Sinnlichkeit aufgelöst waren – ihnen suchte man jetzt eine poetische Weihe zu verleihen durch den Schwung der Verse und durch die Verlegung in eine frühere Zeit. So erlangte in Wien einen großen Erfolg Leo Ebermann mit seiner »Athenerin« (1896). Eine regelrechte Tragödie in fünffüßigen Jamben, die man etwa zur Schule Grillparzers rechnen könnte, erregte das Entzücken der Donaustadt! Auch hier erliegt ein Mann dem Spiel der Liebe, aber sein Kämpfen und Sterben ist nicht ohne Kraft. In der Zeit kurz vor dem peloponnesischen Kriege kommt aus Sparta mit einer Gesandtschaft ein Jüngling aus dem alten dorischen Königshause der Ägiden in das kunstfreudige, schönheitstrunkene, aber verweichlichte Athen. Der bildschöne, kraftvolle Jüngling, der bei 306 den schwarzen Suppen des Lykurgos groß geworden ist und in der stählenden Abhärtung den einzigen Reiz des Lebens erblickt – er weist den ersten Gruß der üppigen Phryne stolz zurück; aber das reizt sie gerade, und so entflammt sie in dem Jüngling eine verzehrende Leidenschaft, die ihn schließlich Pflicht und Vaterland vergessen läßt. Phryne selbst verläßt mit ihm das Haus ihres gegenwärtigen Verehrers und Gebieters Thrasyllos. Aber in der Einsamkeit ihres äußerlich dürftigen Liebeslebens sehnt der Spartaner sich zurück nach seiner waffenfrohen Heimat, die verwöhnte Hetäre aber nach ihren Prachtgewändern und nach goldenem Schmuck. Mit solchem weiß Thrasyllos ihr Herz wieder zu erobern, bis sie die kriegerischen Pläne ihres Liebsten ausplaudert. Um nicht als Verräter hingerichtet zu werden, tötet Agis sich selbst, und Phryne gesteht verzweifelt zum Schluß dem großen Philosophen, der in dieser kleinen Herzensgeschichte den Vermittler gespielt hat:

»O Epikuros, den man weise nennt,
willst du den Wahnsinn meiner Brust mir deuten;
Um bunte Steine hab ich ihn verkauft,
und habe dennoch wahrhaft ihn geliebt!« –

Auch Ludwig Fulda – wie immer allen Sätteln gerecht – griff einmal in die altgriechische Welt und gleichzeitig in die Tiefen einer Künstlerseele, indem er eine Tragödie des künstlerischen Ehrgeizes schrieb: »Herostrat« (1898): die Geschichte des Mannes, der den Tempel der Artemis zu Ephesus anzündete, um dadurch unsterblich zu werden.

 


 


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