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31

Zeitiger und mit reicherer Fülle als sonst beschenkte der Frühling die Stadt am Meer in diesem Jahre des Unheils, wie es noch lange nachher den Zeitgenossen in Erinnerung bleiben sollte. Schon Ende März schlugen Büsche und Sträucher aus, die Festungswälle und Bastionen, die die wehrhafte vieltürmige Stadt wie mit einem undurchdringlichen Panzer umschlossen, begrünten sich beinahe über Nacht, und am Sonntag Palmarum, der in die ersten Apriltage fiel, konnte man in den Gärten und Waldhängen vor der Stadt die ersten Veilchen pflücken. Man schrieb noch April, als die Obstbäume sich bereits in ihr lenzliches Weiß- und Rosa-Blütenkleid zu hüllen begannen, was seit langem nicht erlebt worden war; so daß angesichts dieser schier unwahrscheinlichen Gnade des Himmels zuerst im einfachen Volk, bald aber auch in den superklugen Patrizierhäusern bängliche und ahnungsvolle Stimmen laut wurden, dieser Überschwang von Frühling und Sonne in einer sonst so rauhen und nordischen Zone könne nichts Gutes bedeuten, Nachtfröste könnten im Mai, ja selbst noch im Juni diesem ganzen Zauber der Natur ein jähes und vorzeitiges Ende machen und wer weiß, was der Himmel sonst noch an finsterem Unheil als Zuchtrute für die sündige Menschheit in Bereitschaft halte.

Als dann um die Mitte Mai die Gestrengen Herren tatsächlich mit Frost und Schneegestöber über das Land ritten, ein weißes Laken sich über die blühenden Gefilde breitete und vom Reif einer einzigen Nacht alle Blütenkelche sich schwarz färbten, wie wenn sie der Zauberstab eines von der fernsten Thule herbeigeeilten bösen Hexenmeisters mit einem Schlage in Unkraut verwandelt hätte, da gab es nur eine Stimme, das erwartete und befürchtete Strafgericht des Himmels sei da und man habe es längst geahnt und vorausgesehen. Ja, nicht genug damit, es könne auch noch weit schlimmer kommen und noch manche andere Schrecknisse könne der trächtige Schoß der Zukunft gebären. Prophetisches Gemunkel ging von Mund zu Munde, ebenso auf den Bruderschaftsbänken im Artushof wie auf dem volkstümlichen Fischmarkt, in den feierlichen Patrizierstuben der Langgasse nicht minder als im Gewimmel der Langenbrücke, dem Standplatz der Seefahrer und der Sackträger. Eine dunkle Wolke des Unheils schien über der Stadt zu hängen und erfüllte alle Gemüter mit bangen Ahnungen.

Selbst im Kerschensteinschen Hause, das sonst wie kaum ein anderes der Stadt unter dem Einfluß der klaren, kühlen Gelassenheit seiner Herrin und der trocknen calvinistischen Vernünftelei ihres Ehegemahls, des Ratsherrn, jeder Übertriebenheit nach der einen oder andern Seite und zuvörderst dem noch allenthalben wuchernden Aberglauben abhold war, fand jene über der Stadt lastende Stimmung offene Türen und bemächtigte sich auf dem Wege über das Gesinde bald auch der Herrin des Hauses.

Als Martin Opitz an einem der schwülen Maiennachmittage, die ganz unvermittelt auf die drei grimmigen Eisheiligen gefolgt waren, wieder einmal einen seiner seltener gewordenen Besuche im Ratsherrnhause machte, fand er die Dame Constanzia in schwere Gedanken versunken am Klavichord, von dessen Tasten ihre Hände bei seinem Kommen heruntergeglitten waren. Auf seine besorgte Frage, was denn über sie, die sonst so Heitere und Aufrechte, Niederbeugendes gekommen und ob etwa sein ungelegener Besuch schuld daran sei, erwiderte sie, das letztere verneinend, auch ihm sei gewiß jene Kehrseite der Lebensbetrachtung nicht fremd geblieben, die schon die Alten gekannt und mit »taedium vitae« bezeichnet hätten. Im Seneka habe sie bei ihren lateinischen Studien einst dieses schwermütige Wort gefunden, und es sei ihr eben wegen seines herzbewegenden Klanges seitdem in Erinnerung geblieben, ohne daß sie es jedoch jemals so recht habe nachfühlen und zu seinem eigentlichen Sinne habe vordringen können. Erst in den letzten Tagen, zumal am heutigen Nachmittag, sei ihr dieser Sinn ganz plötzlich aufgegangen, als eine tiefe Traurigkeit, der sie zuerst nicht habe auf den Grund kommen können, von ihrer Seele Besitz ergriffen habe. Erklärung suchend habe sie dann das Wort des Dichterphilosophen zu Rate gezogen. Taedium vitae. Überdruß am Leben würde die wörtliche Übersetzung lauten. Aber nein, das könne es nicht sein. Denn einen Lebensüberdruß könne sie auch beim schärfsten Hinsehen in ihrer gegenwärtigen Seelenverfassung nicht entdecken. Also müsse man eine bessere Übersetzung, ein treffenderes Wort zu finden suchen.

Ob sie es denn gefunden habe? fragte der Dichter mit lebhafter Teilnahme. Denn merkwürdigerweise seien auch ihm in eben diesen Tagen ähnliche Fragen und Zweifel aufgestiegen, wenn ihm auch nicht grade jene Wendung des Seneka dabei eingefallen sei, die er übrigens nicht mit Lebensüberdruß, sondern eher mit Übersättigung am Leben, noch besser vielleicht mit Schmerz des Lebens oder Schmerz der Welt übersetzen würde.

So könne man auch gleich am besten und einfachsten Weltschmerz sagen, meinte Constanzia, nachdenklich vor sich hinsinnend.

Wie sie doch immer den I-Punkt richtig zu setzen wisse! rief der Dichter bewundernd. Denn eben in diesem Wort liege genau das beschlossen, was der römische Philosoph mit dem seinen habe umschreiben wollen, nämlich ein gewisses unbestimmtes Gefühl von Schmerz oder Wehmut, das uns bei näherer Betrachtung des Lebensverlaufes, seiner unaufhaltsamen Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, wohl auch seiner Nichtigkeit und Unvollkommenheit, um nicht zu sagen Überflüssigkeit manchmal bis ins Mark hinein erschauern mache.

Vielleicht sei der eigentliche Übeltäter, fuhr Opitz unwillkürlich lächelnd fort, der vielgerühmte Wonnemond, dem ja auch sonst nicht mit Unrecht mancherlei Verwirrung der Gemüter und der Herzen nachgesagt würde. Man könne ihm daher wohl auch diese ebenberedete Seelenverfassung, dieses »taedium vitae«, diesen Weltschmerz, wie ihn Frau Constanzia benannt habe, mit auf die Rechnung setzen, ohne ihm unrecht zu tun.

Constanzia hatte nachdenklich zugehört. Jetzt schüttelte sie den Kopf.

»Mich dünkt,« sagte sie, »Ihr nehmt es gar zu sehr auf die leichte Schulter, Herr von Boberfeld, wie es nun einmal in Eurer weltläufigen Art liegt, und Ihr lenkt mir vom eigentlichen Sinn des Themas, von seiner tiefern Bedeutung ab. Seht, ich bin eine glückliche Mutter von ein paar wohlgeratenen Kindern. Ich bin auch, wenn min so sagen soll, eine glückliche Ehefrau, denn ich habe einen gradsinnigen, mir in Liebe zugetanen Mann, dem niemand Übles nachsagen kann. Ich habe einen schönen Hausstand. Alle Schränke und Truhen sind voll vom Notwendigen und darüber hinaus vom Überfluß, wie es nun mal zu einem Patrizierhaus gehört und anwachsend von Geschlecht zu Geschlecht sich gemehrt hat und nach menschlichem Ermessen sich weiter mehren wird.«

»Ihr sprecht nur von den Gütern der Welt, edle Frau, die Euer eigen sind,« warf der Dichter ein. »Und von den Gütern des Geistes schweigt Ihr, die Euch weit über alle Frauen dieser Stadt erheben und wohl über die meisten Frauen dieses Zeitalters? Aber sagt, worauf wollt Ihr hinaus?«

»Daß alles dies,« fiel Constanzia ein, »was Ihr an mir besonders zu rühmen wißt, und was ich an Gütern der Welt reichlich genug durch die Gnade des Himmels zugemessen bekommen habe, daß alles dies zusammengehäuft mich nicht glücklich gemacht hat und daß mich die Nichtigkeit alles dessen, was mich vielleicht vor vielen auszeichnet, in solchen Stunden, wo mich das taedium vitae überkommt, mit einem Schmerz bis in den tiefsten Grund meiner Seele hinein durchdringt. Wie erklärt Ihr Euch das, Herr poëta laureatus und Meister der Seelenkunde? Und wißt Ihr mir ein Rezept dagegen? Es überwältigt mich manchmal! Gleich einer schweren Krankheit! Wie eben jetzt!«

Sie brach plötzlich ab und sank in sich zusammen, den Kopf in die Hände pressend, während ein tiefer Seufzer sich ihrer Brust entrang.

»Bei allen Göttern! Ihr seid krank, edle Frau!« rief Opitz erschrocken, um sogleich, sich zusammennehmend, hinzuzufügen: »Nicht krank im gewöhnlichen Sinne, wie es ein üblicher Chirurgus oder Medikus diagnostizieren würde und vielleicht auch kurieren könnte. Nein, was Euch bedrückt und quält, sitzt tiefer als wohin irgendeine Sonde auch des kundigsten Arztes dringen kann. Es sitzt bei Euch im Gemüt. Ihr leidet am Leben!«

»Nun ja! Das taedium vitae!« erwiderte Constanzia, sich wieder aufrichtend, und erhob, indem sie sich zu einem Lächeln zwang, den Kopf. »Sorgt Euch nicht! Es ist schon wieder vorbei. Mir ist schon wieder leichter. Es war nur eben so eine furchtbare Bangigkeit in mir. Ihr müßt entschuldigen, daß ich Euch etwas vorgeklagt habe. Vielleicht liegt es an der Zeit? An dieser schrecklichen friedlosen Zeit?«

»Die Ihr doch in einem wahrhaften Garten Eden verleben dürft, wenn Ihr Euer Geschick hier auf dieser Friedensinsel mit dem Geschick so vieler anderer Sterblichen draußen im Reich vergleicht,« entgegnete der Dichter und erhob sich mit einer Abschiedsverbeugung. »Verzeiht, wenn ich Euch verlasse. Eine dringende Korrespondenz ruft mich ab.«

Es werde ein Abschied für längere Zeit sein, bemerkte Constanzia, als sie ihm die Hand reichte, wenigstens soweit die Örtlichkeit hierbei in Betracht komme. Denn sie gedenke, schon in den nächsten Tagen die Stadt, deren Enge sie noch nie so bedrückt habe wie eben jetzt, zu verlassen und wolle, etwa bis im Herbst wieder die Blätter fallen, im väterlich Zierenbergischen Garten draußen vor den Toren einen erfrischenden und hoffentlich auch verjüngenden Landaufenthalt nehmen.

Welches letzteren sie bei Gott nicht zu bedürfen scheine, wenn man sie in höchster Lebensschöne so vor sich sitzen sehe gleich einem von der Schöpferhand eines Tizian auf die Leinwand gebannten Meisterbild, rief der Dichter mit ehrlicher Bewunderung.

»Haltet ein! Ich bitt' Euch! Haltet ein!« wehrte sie mit zum Himmel erhobenen Händen ab. »Ihr wißt, wir sind in diesem Hause nicht abergläubisch. Aber wenn ich Euch so reden höre, so überschwenglich, so ist mir immer, als müßte im nächsten Augenblick das Dach über mir zusammenstürzen oder der Blitz dicht neben mir einschlagen, und ich fürchte mich! Ihr wißt, wie die Alten es nannten.«

Opitz lächelte und nickte.

»Den Neid der Götter meint Ihr?«

Sie hatte sich erhoben und stand ihm Auge in Auge gegenüber.

»Ja! Ich fürchte den Neid der Götter. Aber mein Mann, der Ratsherr, dürfte das nicht hören. Er würde mich tüchtig ausschelten.«

Sie schwieg und sah ihn fragend an.

»Fürchtet Ihr den Neid der Götter nicht, Herr von Boberfeld?«

Opitz zuckte die Achseln, zog die Stirn hoch und sagte wegwerfend:

»Was gibt es an einem, der es in deutschen Landen weder zu Geld und Gut noch zu Weib und Kind gebracht hat, sondern höchstens zum poeta laureatus mit einem Distelkranz auf dem Kopf im Kreise närrischer Gesellen, ich frage Euch, was gibt es an einem solchen Kumpan so besonderes, das den Neid der Götter erwecken könnte!«

»Nun, geschätzter Freund?« erwiderte sie, hell auflachend. »Sollte man das, was Ihr da eben von Euch selbst aussagtet, nicht mit Fug und Recht auch taedium vitae oder Weltschmerz nennen können?«


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