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In der Morgenfrühe des 31. August 16.. verließen zwei Reiter von vornehmem, jedoch ungleichartigem Ansehen das geöffnete Tor ihrer Nachtherberge zu Marienburg und sprengten durch die nebelfeuchten Gassen der alten Ordensstadt, am Burggraben vorbei, nach dem abschüssigen Ufer des Nogatstromes und zur Anlegestelle der Fähre, die sich jedoch gerade auf der gegenüberliegenden Stromseite befand. Es hieß also sich in Geduld fassen. Beide Reiter sprangen von ihren Gäulen, übergaben sie der Obhut eines eilfertig sich nähernden Wärters und gingen am Strande des breiten, schnell dahinsprudelnden Wassers gemächlich einige Schritte nebeneinander her.

»Das wäre dann also die in allen deutschen Landen hochberühmte Ordensburg der weiland Brüder vom Deutschen Hause?« sagte der ältere der beiden, der Herzogl. Rat Opitz von Boberfeld, der mit seinem brünetten, lang auf den modischen Spitzenkragen herunterfallenden Haupthaar, dem schwarzen Knebelbart und der schlanken, kaum mittelgroßen grazilen Gestalt auffallend gegen seinen hünenhaft soldatischen Begleiter abstach, und ließ seinen forschenden Blick zu dem über ihm wuchtenden roten Gemäuer des Hochschlosses emporsteigen. »Soweit mich auch mein eingeborenes Fatum durch Europiens Lande hin und her verschlagen hat, niemals hätte ich geglaubt, daß es mich auch einmal bis hierher, fast bis in die ultima Thule, an die Bernsteinküste und in das Land der Pruzzen tragen würde.«

»Ihr werdet ein reiches und gesegnetes Land finden, Herr Herzogl. Rat von Boberfeld,« entgegnete der also Angeredete, Hauptmann Gerhard von Proen. »Es weiß seine Söhne zu nähren und läßt tüchtige und tapfere Frauen für sie wachsen. Um der kommenden Geschlechter willen.«

»Wofür in Eurer ragenden Gestalt, Herr Hauptmann, ein leibhaftiges Exemplum vor mir steht,« bemerkte Opitz mit höflicher Verneigung und anerkennendem Seitenblick.

Hauptmann von Proen machte eine abwehrende Bewegung. »Zuviel des Lobes, Herr von Boberfeld: Leider nur Mittelmaß! Mein Vater, Gott hab' ihn selig, maß sechs Fuß vier Zoll, um eine Kopfeslänge mehr als ich.«

»Wahre Enaksöhne!« warf Opitz hin.

»Wie es dem Mutterschoß unseres Boden« gemäß ist, Herr Herzogl. Rat,« erwiderte Proen.

Opitz hatte ein melancholisches Lächeln.

»Man könnte Euch um Eure glühende Heimatliebe beneiden, Herr Hauptmann von Proen. Nicht etwa, daß es uns gebürtigen Schlesiern daran fehlte. Ihr wißt, ich komme von Silesias heitern Auen.«

»Nicht nur ich – vielmehr die Welt weiß es, Herr von Boberfeld!« fiel Proen ein und erhob salutierend die Hand.

»Ihr schmeichelt mir, Herr Hauptmann!« wehrte Opitz ab. »Wenn Ihr vor ›Welt‹ das Wörtchen ›deutsch‹ einschieben und sagen würdet, die deutsche Welt weiß es, wo Martin Opitz von Boberfeld einst ans Licht stieg, so könnte es vielleicht stimmen. Aber laßt mich meinen Faden wieder aufnehmen. Ich sagte, ich beneide Euch um Eure Anhänglichkeit an Euren heimatlichen Boden. Nun denn! In mir seht Ihr, wiewohl einen geborenen Schlesier, dennoch einen gänzlich Heimatlosen vor Euch!«

Er wandte sich mit einer abschüttelnden Gebärde ein wenig zur Seite, wie um eine aufsteigende Bewegung zu verbergen, und fuhr dann sich räuspernd mit fester Stimme fort.

»Seit zwanzig Jahren – bildlich gesprochen, seit ich die toga virilis trage – scheint es mir in den Sternen bestimmt zu sein, daß ich unstet, gleich einem neuen Ahasver, durch alle Lande Europas irren muß und nirgendwo festen Fuß zu fassen vermag, sei es nun im dänischen Jütland, am Strande des Skagerrak, sei es am südlichen Fuß der Transsylvanischen Alpen, beim Siebenbürger Fürsten Bethlen Gabor, sei es auch in der Metropole Lutetia oder in den Generalstaaten oder anderswo.«

Er hielt inne, schien zu überlegen und sprach dann in seinem etwas singenden Tonfall weiter, der Proen schon am ersten Tage dieser gemeinsamen dreitägigen Reise von Thorn nach Marienburg aufgefallen war.

»Seht, Herr Hauptmann! Um das schlimme Wort von der ermangelnden Heimatliebe zu rechtfertigen: vor ein paar Jahren schien es, als sollte das Glück, das jeder einfache Bauers- und Bürgersmann sein eigen nennen kann, das Glück einer festgegründeten Heimat, auch mir noch zuteil werden.«

»Ihr spracht schon gestern davon, Herr von Boberfeld,« warf Proen ein.

»So? Sprach ich davon? Nun gut! So wißt Ihr's denn. Ihr habt ja die beiden hohen Herren, die mir seinerzeit auf schlesischem Boden eine Freistatt gaben, am königlichen Hoflager zu Thorn kennengelernt, die Herzöge von Brieg und von Liegnitz. Sie nahmen sich in großherziger Liberalität des Mannes der Feder an, als er wieder einmal, bar jeder Subsistenzmittel, am Ende seines Lateins war und vor dem höhnisch grinsenden Nichts stand.«

»Und sind jetzt selbst ins Exil verschlagen, Eure beiden Herzöge, bei ihrem polnischen Vetter,« bemerkte Proen.

»Die Kriegsfurie verschont niemand und nichts, sei er auch noch so hoch- und edelgeboren,« erwiderte Opitz, »und kein Thron steht fest genug in diesem von Gott Mavors selbst regierten Zeitalter. Hätte man nicht, als auf der Lützener Walstatt der große Schwedenkönig Gustavus Adolphus von der Kugel der Pappenheimer dahingerafft wurde und gar als im vorigen Jahr zu Eger der kriegsgewaltige Friedländer den Partisanen der kaiserlichen Verschwörer erlag, hätte man da nicht erwarten sollen, es werde nun endlich des Blutvergießens und der Selbstzerfleischung in deutschen Landen ein Ende sein?«

»Nur ein kurzes Aufatmen war's,« rief Proen. »Wie um sich zu sammeln und Luft zu schnappen!«

»Und die Kriegsfurie streckte von neuem ihre mörderischen Krallen aus! Noch gab es ja mein schönes Schlesierland, das so lange verschont geblieben war! Herein brach die Vernichtung über die blühenden Fluren! Über die friedsamen Städte und Dörfer der Odergaue! Und vorbei war es auch mit Schutz und Schirm meiner hochmögenden Gönner, des Brieger und des Liegnitzer Herzogs, für den heimatlosen Verfasser der ›Deutschen Poeterey‹.«

Proen legte begütigend seine Rechte auf den Arm des Dichters.

»So Gott will, wird Euch nun hier im Preußenlande ein neues Glück erblühen, dem Ihr in ganz Europa vergebens nachgejagt habt. Meine Heimat und die so vieler wackerer Männer, über deren Zahl in Danzig Ihr staunen werdet, wird auch die Eure werden und Euch für immer in unseren Mauern festhalten.«

»Ja, und wem anders verdanke ich diese unerwartete Wendung, als wiederum dem vortrefflichen Johann Christian, meinem Liegnitzer Herzog? Hätte er mich nicht auf seiner eiligen Flucht nach Thorn zum polnischen Hoflager in seinem Gefolge mitgenommen und seinem erlauchten Schwiegersohn, dem Herrn Reichsgrafen von Dönhof, in empfehlende Erinnerung gebracht, niemals hätte der mich in seinen Kreis gezogen und niemals wäre dann das Auge der polnischen Majestät, König Wladislaws IV., auf mich gefallen, als dessen Sendbote ich diese Reise nach Danzig unternehme.«

Der Danziger Hauptmann, als ein gottesfürchtiger Mann, der er war, nickte beifällig.

»So mögt Ihr denn, Herr Herzogl. Rat, in alledem deutlich den Finger des Allmächtigen wahrnehmen, der Euch nach allem Ungemach den Weg zu Eurem Heil weisen will.«

Martin Opitz, der nach allen Erfahrungen seines Lebens ein unbedingter Fatalist war und in Fragen der Religion nicht auf sehr sicheren Füßen stand, erwiderte, um seinem glaubensfesten Gefährten nicht gerade vor den Kopf zu stoßen, mit einer mehr ins allgemeine gehenden Bemerkung, es unterliege wohl keinem Zweifel, daß immer wieder gewisse Persönlichkeiten vom Schicksal besonderen Leiden und Widerwärtigkeiten unterworfen würden, damit dann am Ende des Kampfes die Krone des Sieges um so heller auf ihrem Haupt erstrahle. Ein besonders einleuchtendes Exemplum hierfür biete die Mythologie der Griechen mit den zwölf Arbeiten des Herakles.

Das Klirren und Rasseln einer Ankerkette aus nächster Nähe unterbrach das Gespräch der beiden Männer. Die Fähre war auf dem diesseitigen Nogatufer gelandet und wurde an den eichenen Pfosten befestigt. Der Pferdewärter, seinem Äußeren nach wohl ein Pole, geleitete die beiden bereits unruhig gewordenen Gäule auf die Fähre hinüber und stand in Erwartung seines Trinkgeldes mit abgezogener Pelzkappe auf den Holzplanken. Da in dieser frühen Morgenstunde außer den beiden Fremden noch niemand nach dem gegenüberliegenden Dorf übersetzen wollte, so war es des Aufenthaltes nicht lange, und schon nach ein paar Minuten befanden sich Opitz und Proen inmitten der reißenden Strömung. Erst hier entfaltete sich das Bild der weit stromauf und stromab hingestreckten Burganlage des Ordenshaupthauses in ihrer vollen Wucht und Größe. Noch braute der Morgennebel des beginnenden Herbstes um Zinnen, Giebel und Dachfirste des gewaltigen Baues, nur hier und da ein Stückchen helles Ziegelrot lüftend und wieder verschleiernd.

Opitz stand an das Geländer der Fähre gelehnt, in den gewaltigen Anblick des Ordensschlosses versunken. Sein durch die Rundungen der zeitgenössischen Spätrenaissance und des anhebenden Barocks erzogenes Auge folgte der aufwärts gerichteten spitzbogigen Zielstrebigkeit und Eckigkeit des gotischen Gesamtbaues nur mit innerem Widerstreben, wenn auch die majestätische Sprache dieser ragenden Mauern und Zinnen, die von der noch ungebrochenen Kraft eines vergangenen Zeitalters kündete, nicht ohne Eindruck auf die hochgebildeten Nachfahren blieb. Nur der vorspringende Trakt des Hochmeisterpalastes, dem sie sich gerade gegenübersahen, fand mit seiner fremdartig maurischen Fassade den uneingeschränkten Beifall des Renaissance-Humanisten, ganz im Einklang mit dem Urteil des Danziger Patriziers Proen. Beide Männer waren sich darüber einig, daß es sich hier um ein merkwürdiges Einschiebsel handle, das von irgendeinem aus Welschland gekommenen Baumeister herrühren müsse. Seien denn die deutschen Ritterbrüder nicht selbst, rief Proen, wie aus der Überlieferung und den Chronikbüchern männiglich bekannt, ihrem ganzen Ursprung und ihrer Totalität nach aus Welschland, wohl gar aus dem Heiligen Lande, herübergekommen? Sei es also zu verwundern, daß sich hier in ihrem Schloßbau noch dieses sarazenische Memento erhalten habe? Eine Erklärung, der auch der unterrichtete Opitz seine Anerkennung nicht versagen konnte, indem er ein Kompliment für Proen daran knüpfte, das dieser jedoch in aller Bescheidenheit für seine Person ablehnte und nur für den allgemeinen Danziger Bildungsstand gelten ließ.

Während sie noch so hin und her diskutierten, stieß die Fähre drüben am linken Nogatufer an Land, daß es knirschte. Proen ergriff die Zügel seines braunen Wallachs, Opitz den seiner Fuchsstute, und beide schwangen sich in den Sattel. Ein lehmiger Klüternweg, von struppigen Weidenstümpfen gesäumt, führte durch ein tiefgelegenes, von breiten schilfigen Wassergräben durchschnittenes Niederungsland, zwischen Stoppelfeldern und morastigen Wiesen in weitem Bogen gegen den Horizont, wo eine ferne Kirchturmnadel das erste größere Dorf auf dem Weg nach Danzig vermuten ließ. Beide Reiter mußten auf dem groben Triftwege ihre Gäule fest im Zügel halten, um nicht ins Stolpern zu kommen. So gab es sich, daß sie eine Zeitlang; schweigend nebeneinander herritten, nur des nächsten Schrittes achtend, ein jeder mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Es war erst wenig mehr als eine Woche her, seit Opitz und Proen, der Mann der Feder und der Mann des Degens, sich am Hoflager des polnischen Königs Wladislaw IV. zu Thorn zum erstenmal begegnet waren und bald Gefallen aneinander gefunden hatten. Wichtige Anliegen hatten die beiden Männer an den polnischen Hof geführt. War es diese Gemeinsamkeit der Interessen, die sie in der fremdstämmigen Umgebung verbunden hatte? Oder hatte vielleicht gerade die Gegensätzlichkeit ihrer Persönlichkeiten ebensosehr wie ihrer bisherigen Lebenskreise sie einander nahegebracht?

Opitz mußte, nachdem eigene Ruhelosigkeit und die Stürme des kriegerischen Zeitalters sein Lebensschifflein immer wieder hatten stranden lassen, auf das ernstlichste einen stillen und ungefährdeten Hafen, abseits der über Deutschland daherrollenden Kriegswogen, zu erreichen trachten. Er näherte sich den Vierzig, zählte also für das eigene und für das herrschende Zeitgefühl nicht zu den Jüngsten mehr. In schwermütigen Augenblicken, die diesen Sanguiniker öfter, als ihm lieb war, anwandelten, glaubte er manchmal, daß es ihm in den Sternen bestimmt sei, als ein Unvollendeter in der Brandung versinken und niemals des rettenden Ports habhaft werden zu sollen, von dem aus er mit der aequitas animi des Horaz, mit jenem vielberufenen Gleichmut der Seele auf die hinter ihm liegenden Kämpfe und Nöte seines Lebens würde zurückblicken können. So hatte es ihn, als sein generöser Beschützer Johann Christian, der Liegnitzer Herzog, sich vor dem hereinbrechenden Ungewitter zu seinem polnischen Vetter flüchten mußte, mit aller Macht hinterher und in die weitab vom Kriegsschauplatz liegende Weichselfeste getrieben. Mochte die Glücksgöttin ihm hier unter Sarmatiens weitem Ostlandhimmel noch einmal das Los werfen!

Gerhard von Proen, der Sprößling einer vor hundert Jahren von Kaiser Karl V. geadelten und bald nachher aus Antwerpen nach Danzig eingewanderten flämischen Patrizierfamilie, war nach Thorn gekommen, um bei König Wladislaw, in dessen Gunst er seit gemeinsam verlebten Jugendjahren stand, wegen Besitzstreitigkeiten mit der polnischen Schlachta vorstellig zu werden. Es handelte sich um die nicht allzu fern von Danzig gelegene Starostei Sobbowitz, die Proen vor einigen Jahren als erbliches Lehen von der polnischen Krone erworben hatte. Er war darin dem Beispiel anderer Danziger Geschlechter gefolgt, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, ihre im Holz- und Getreidehandel mit England und den Niederlanden gewonnenen Reichtümer möglichst sicher in benachbarten Landgütern anzulegen. Da nun der ansässige Landadel, der polnische wie der deutschblütige, diesem ihn beengenden Ausdehnungsdrang des Patriziats der größeren preußischen Städte sich abhold zeigte und ihm durch vorbeugende Schritte beim polnischen Reichstag und bei der polnischen Krone zu begegnen suchte, so war auch Gerhard von Proen als einem Danziger Stadtbürger das Recht bestritten worden, königliche Lehnsgüter, wie eben Sobbowitz eines war, zu pachten und zu besitzen. Ein solches Recht stehe nur den preußischen Städten selbst, nicht aber ihren Bürgern zu. Der hieraus erwachsene Prozeß vor polnischen Gerichten, in dem der Rat der Stadt Danzig entschieden Partei für Proen ergriffen hatte, war schließlich bis vor den polnischen Reichstag und den König gelangt. Proen hatte, nach mehrtägigem Aufenthalt am königlichen Hoflager, Thorn mit der Überzeugung verlassen, daß der Streitfall dank der persönlichen Einwirkung von König Wladislaw zu seinen Gunsten entschieden werden würde. Er hatte sich auf Ostern des vergangenen Jahres 1634 mit der kaum siebzehnjährigen Anna von Schwarzwald, einer Tochter aus dem hochangesehenen Danziger Patrizierhause, verlobt. Schloß Sobbowitz mit dem angrenzenden See und ausgedehnten wildreichen Forsten hatte er sich als Morgengabe für sein noch wenig heiratslustiges Bräutchen ausersehen. Stand nicht zu hoffen, daß die Lockung des ansehnlichen Herrschaftssitzes stark genug sein werde, um den annoch allzu spröden Sinn der schönen Anna, wie sie allgemein in der Stadt und bei Verwandten und Bekannten hieß, zu erweichen und sie einem baldigen Ehebunde mit ihrem um achtzehn Jahre älteren Verlobten geneigt zu machen? Frohgemuten Sinnes hatte Gerhard von Proen, seines Zeichens Danziger Feldhauptmann in den nun bald dreißig Jahre währenden Kriegshändeln zwischen der schwedischen und der polnischen Krone, sich in Gesellschaft seines in Thorn zu ihm gestoßenen neuen Reisegefährten, des weithin in deutschen Landen berühmten Dichters Opitz, auf den Heimweg nach Danzig gemacht.

Wenn die dorthin führenden aufgeweichten Niederungswege nach den Regengüssen der letzten Woche nicht gar zu beschwerlich und morastig geworden seien, äußerte der Hauptmann, das beiderseitige lange Schweigen unterbrechend, und wenn zudem auch die Überquerung der breiten Stromweichsel unweit des Danziger Hauptes mittels der dort betriebenen Fähre nicht allzuviel Zeit in Anspruch nehme, so könnten sie noch vor Abend über den Langen Markt, den berühmten Schmuckplatz der Stadt, reiten, allwo man vor etwa zehn Jahren, Anno 24, dem dreizackschwingenden Gott Neptun als der leibhaftigen Inkarnation der seegewaltigen Stadt ein ehernes Monument inmitten eines admirablen Brunnens errichtet habe. Allerdings werde man, um das Ziel zu erreichen, die Gäule, die schon beinahe am Einschlafen seien, etwas in Schwung bringen müssen und dürfe sich auch unterwegs keinem längeren Rast in einem der Dorfkrüge hingeben, die ohnehin schmutzig und wenig einladend seien.

Opitz konnte diesem abfälligen Urteil seines landeskundigen Gefährten nur beipflichten. Was er auf dem dreitägigen Ritt durch das ehemals deutsche, nun schon seit bald zweihundert Jahren polnische Ordensland Preußen an verkommenen Straßen, schmutzigen verwahrlosten Städtchen, Flecken und Dörfern wahrgenommen hatte, konnte sich mit den schlimmsten Eindrücken aus Bethlen Gabors siebenbürgischem Karpatenlande messen, wo Opitz, nicht unähnlich seinem großen Vorgänger Ovidius einst in Tomi, ein paar bittere und traurige Jahre des Exils verbracht und, um sein Leben zu fristen, den harten siebenbürgischen Bauernköpfen lateinische Brocken eingehämmert hatte.

Polnische Wirtschaft! Wie oft hatte er dieses Wort des Ärgernisses auf der jetzigen Reise aus Proens Munde vernommen! Es schlug kurz und bündig alle Einwände nieder, die man etwa aus gutwilligem Herzen zugunsten des gegenwärtigen Regiments hätte vorbringen mögen. Und doch war unverkennbar ein Unterschied, seit sie Marienburg heute früh verlassen hatten. Große ansehnliche Bauernhöfe, meist Fachwerkbauten niedersächsischen Stils, mit behäbigen Vorlauben, säumten die Dorfstraßen, auf denen die beiden Reiter ihren Weg nach Danzig verfolgten. Ställe und Scheunen bildeten einen stattlichen Geviertraum zur Seite des jeweiligen Hofes und befanden sich, ganz im Gegensatz zu den dörflichen Bildern der zwischen Thorn und Marienburg zurückgelegten Wegstrecke, in einem meist guten und wohlerhaltenen Zustande. Hübsche, durch Staketenzäune gegen die Dorfstraße abgegrenzte Baum- und Obstgärten gehörten zu jedem der größeren Höfe und legten durch obstbeladene Zweige Zeugnis ab von liebevoller Pflege durch fleißige Hände. Kein Zweifel! Es war ein Bild von bäuerlicher Wohlbehäbigkeit, nicht selten von Reichtum, das sich den Blicken darbot. Daß dies allerdings nur die vornehme Schauseite des dörflichen Bildes war und jenseits der Dorfstraße, am Außenrande der Dörfer, schmutzige baufällige Katen, darunter auch jene von Proen so genannten »wenig einladenden Dorfkrüge«, die Kehrseite des Bildes zeigten, entging Opitzens reisegeübten Augen nicht. Er enthielt sich jedoch, in Rücksicht auf den Heimatstolz seines Begleiters, jeder Bemerkung hierüber, und fragte nur, ob dies nun, im Gegensatz zu den bis vor die Tore Marienburgs durchrittenen polnischen Dörfern, solche von deutschen Bauern bewohnte und bewirtschaftete seien.

»Es sind alte deutsche Dörfer,« bejahte der Danziger mit Nachdruck. »Sie stammen noch aus der Zeit des Ordensregiments. Beachtet wohl den Unterschied von dem, was wir in den letzten Tagen zu sehen bekamen. Auf diesen Niederungsboden hat sich noch kein polnischer Schlachziz den Fuß zu setzen getraut.«

»Und warum das nicht?« forschte Opitz.

»Die Niederungsbauern lassen keine Polen heran. Es geschieht schon des Glaubens wegen, daß sich kein Pole hier niederläßt.«

»So sind hier alles Evangelische?«

»Und Mennoniten in nicht geringer Zahl!«

Opitz sah seinen Begleiter verwundert an.

»Mennoniten? Also Wiedertäufer? Ich bin ihnen vor Jahren in den Niederlanden begegnet. Sie schienen mir dort wohlgelitten zu sein.«

»Nicht allenthalben,« erwiderte Proen. »Nicht in den spanischen Niederlanden. Auch mancherorten nicht in den Generalstaaten. Man hat sie in den letzten Zeitläuften ihres Glaubens wegen arg angefochten. Da sind sie hierher ins Preußenland gekommen!«

»Und hat man sie hier toleriert?«

»Ja, man toleriert sie trotz ihrem Nonsens vom Taufsakrament. Wie man ja bei uns in Danzig auch den Baptisten und sogar den Jesuitern freien Weg läßt, nur daß sie ihren Gottesdienst außerhalb der Stadtmauern verrichten müssen.«

Opitz richtete sich im Sattel auf. Es war hier etwas, das an seine in hartem Gewissenskampf errungene Überzeugung ging.

»Es sollte jedem Christenmenschen, ja, wenn es nicht zu kühn ist, jedem Wesen generis humani freistehen, auf seine Weise zu seinem Herrgott zu beten.«

Die Sonne dieses letzten Augusttages war zur Mittagshöhe emporgestiegen und brannte heiß auf die unabsehbare Weite des flachen, fast nur mit Weidenbäumen bestandenen Stromlandes hernieder. Auch die wenigen Nebelschwaden, die noch da und dort auf den Wiesen und Stoppelfeldern gelegen hatten, waren von ihr aufgesogen worden und segelten als kleine weiße Wölkchen am Firmament dahin. Ein leichter Wind hatte sich von Norden her, von der nicht mehr allzu fernen See, aufgemacht und kühlte die heißen Stirnen der beiden Reiter. Der Feldhauptmann parierte sein Pferd und lud seinen nachdenklichen Gefährten ein, mit ihm abzusitzen und sich von dem mitgeführten Proviant aus ihren Schnappsäcken ein leidliches Mittagsmahl zu rüsten. Man brauche dann bis zum Abend nicht mehr einzukehren und könne in gutem Trab auf dem jetzt menschlich gewordenen Wege in zwei Stunden die Weichselfähre oberhalb des Danziger Haupts erreichen. Hoffentlich werde ihnen die dort kampierende schwedische Besatzung keinen Strich durch die Rechnung machen.

Was es mit dieser schwedischen Besatzung für eine Bewandtnis habe, fragte Opitz, indem er dem Beispiel seines soldatischen Begleiters folgte, vom Pferd abstieg und sich am Wegrande im Halbschatten eines niedrigen Weidengebüsches niederließ. Proen hatte seinem Schnappsack einen Laib Brot, Wurst und Schinkenspeck entnommen und breitete alles zwischen sich und Opitz auf seinem untergelegten Feldmantel aus. Besagte Okkupation rechtmäßigen Danziger Territorii durch schwedisches Kriegsvolk, sehr wider den Willen und Protest des Danziger Rats, rühre noch, so erklärte er, aus der Verlassenschaft des verewigten Schwedenkönigs Gustavi Adolphi her, dem hierzulande durchaus kein so dankbares Gedächtnis bewahrt werde, wie etwa bei den evangelischen Ständen im Reich, da er Anno 26 diesen ganzen Landstrich mit Krieg überzogen wegen Thronstreitigkeiten noch aus der Großvaterzeit mit den polnischen Wasas und allenthalben wie ein regelrechter Attila gehaust habe. Es sei ja dann allerdings ein mehrjähriger Waffenstillstand zwischen der schwedischen und der polnischen Krone, zwischen den beiden feindlichen Vettern vereinbart worden. Die schwedische Einquartierung aber sei am Danziger Haupt verblieben. Eben jetzt jedoch seien Friedensverhandlungen der feindlichen Parteien im Gange, die, wenn nicht alles trüge, zu einem Einvernehmen zu führen schienen. Dann werde wohl auch für die ungebetenen Gäste am Weichselufer die Stunde der Abreise geschlagen haben.

Opitz hatte Proens Bericht mit lebhaftem Anteil aufgenommen. Es war noch nicht so lange her, daß er im Auftrage seiner beiden Gönner, des Liegnitzer und des Brieger Herzogs, im Pommerschen Hauptquartier der Schwedischen beim Kanzler Oxenstierna geweilt und die nordische Begehrlichkeit nach altem guten deutschen Land kennengelernt hatte. Er hatte seiner ganzen doch gewiß nicht geringen diplomatischen Geschicklichkeit und Redekunst bedurft, um den hartgesottenen Schwedenkanzler mürbe zu machen und ihn zu einer noch vorläufig abwartenden Haltung zu bestimmen. Wie kurz auch dieser Aufschub nur gewesen war, mußte er sich nach den jüngsten Ereignissen selbst sagen. Aber wer vermochte denn in die Speichen des Schicksalsrades einzugreifen, das in diesen Zeitläuften sich wie rasend zu drehen schien.

»Greift zu, Herr Herzogl. Rat!« mahnte Proen. »Und schüttelt die tristen Gedanken ab, die man Euch von der Stirn ablesen kann. Wir Danziger sind von je Freunde eines guten Happens gewesen. Zumal wenn wir noch einen ordentlichen Schluck Aquavit drauf setzen können. Da! Hier!« fuhr er fort und angelte aus der Tiefe seines Felleisens eine bauchige Flasche ans Sonnenlicht. »Alter Wacholder! Noch aus dem vorigen Jahrhundert! Die, die ihn destillierten, deckt längst der Rasen. Trinkt! Trinkt! Das hält Leib und Seele zusammen.«

Der Dichter, der als Kind des Ostens die Labung eines guten Branntweins zu schätzen wußte, kippte den wasserhellen feurigen Tropfen mit einem entschlossenen Zug hinunter und fühlte es wie neues Leben durch die Adern rinnen. Proen tat ihm Bescheid und klopfte sich genießerisch auf die Magengrube. Die beiden am Grabenrand weidenden Gäule schienen auch wieder zu Kräften gekommen zu sein. Sie wieherten unternehmungslustig einer auf der nahen Wiese dahinjagenden Pferdekoppel zu und schienen es ihr nachtun zu wollen, als Proen und Opitz nun wieder aufstiegen und sich in die Steigbügel legten.

Das Fieber der Schnelligkeit erfaßte die beiden Reiter. Vor ihnen lockte der schon herbstliche Silberglanz der Ferne. Altweibersommerfäden streiften ihre Gesichter, hingen sich an Mund und Augenbrauen. Felder, Äcker und Wiesen flogen vorbei. Rechts und links des Weges, näher und ferner, überall graste schwarz- und weißgeschecktes Rindvieh auf den trotz der Jahreszeit noch saftigen Weiden. Gänseherden stoben vor den Hufen der trabenden Pferde auseinander.

»Welch schönes reiches Land!« rief Opitz seinem Begleiter zu. »Es ruft mir meine jungen Jahre in den Niederlanden zurück, denen es in gar vielen Punkten gleicht.«

»Ihr werdet eine neue Jugend bei uns erleben!« gab der Danziger zurück und winkte ihm fröhlich zu.

Am westlichen Horizont zeigte sich eine langgestreckte dunkle Erhebung, der sie entgegenritten. In diesem meeresnahen, unter dem Wasserspiegel gelegenen Tiefland nahmen sich alle Dinge der Ferne größer und auf eine nicht ganz erklärliche Weise unwirklicher aus als sie waren. Auch Opitz machte die gleiche Wahrnehmung und fragte Proen nach dem Grund der Erscheinung. Dieser gab ihm im Weiterreiten mit knappen Worten die gewünschte Erklärung und wies mit den Worten: »Wir sind am Damm! Dahinter fließt die Weichsel!« auf die rasch näherkommende wallartige Erhebung hin, die beinahe gradlinig von Süden nach Norden entlangstrich. Während sie, nun langsamen Schrittes, auf einem hierfür angelegten Weg zur Höhe des Dammes hinaufritten, berichtete Proen von der Entstehung dieses und des auf der anderen Stromseite errichteten Deiches, der noch aus frühester Ordenszeit von den Altvordern herstamme und dazu diene, diese Stromniederungen – hierzulande Werder genannt – vor den alljährlichen schweren Eisgängen und Hochwassern zu schützen. Ihnen, nämlich besagten Deichen, und denen, die sie schufen, sei es zu verdanken, daß hier gleichsam aus dem Chaos der Urzeit, aus Wasser, Sumpf und Schilf ein fruchtbares Ackerland erwachsen sei, auf dem ein handfestes und arbeitsames Bauernvolk den Pflug führe und die Sense schwinge, so allmählich zu Wohlstand, wenn nicht Reichtum aufsteigend.

Auf der Dammhöhe angelangt, hielten sie ein paar Augenblicke ihre Pferde an und genossen die umfassende Rundsicht, die über das zu ihren Füßen weit hingestreckte Stromdelta sich rings in der Unendlichkeit zu verlieren schien.

»Oh! Wie herrlich!« rief Opitz bewundernd aus und seine schon manchmal wandermüde Seele weitete sich und schöpfte wieder Mut zu neuem Dichten, neuem Erleben. In einiger Entfernung vom Damm und parallel zu ihm silberte das breite Band des Weichselstroms, auf dem Holztriften und Lastkähne mit weißen Segeln sich langsam stromabwärts bewegten.

Proen und Opitz mußten jetzt ein Stück weit auf der Dammhöhe entlangreiten, um den zur Weichselfähre führenden Abweg zu gewinnen. Vor ihnen zeigte sich eine niedrige Baracke, die sich halb hinter den Damm zu ducken schien. Davor riegelte ein wuchtiger Schlagbaum die ganze Breite des Dammes ab. Uniformen wurden sichtbar. Soldaten standen mit geschulterten Partisanen. »Unsere lieben Herren Schweden!« bemerkte Proen und verzog seinen Mund. »Man bereitet sich für unseren Empfang. Wir sind an der Schanze.«

Jenseits der Schranke erklangen unverständliche Kommandoworte. Die Wache trat an. Ein blutjunger Kornett, fast noch wie ein Knabe anzusehen, in der hellblauen Uniform der schwedischen Dragoner, erteilte einige Befehle und wandte sich dann durch den inzwischen emporgezogenen Schlagbaum den beiden Reitern entgegen. Mit festem Marschtritt legte er den kurzen Weg zurück und stand salutierend vor den Fremdlingen, die von ihren Gäulen abgestiegen waren.

»Kornett Graf Magnus de la Gardie vom Regiment Södermanland!« sagte er, mit chevaleresker Verneigung sich vorstellend. »Vos passeports, s'il vous plaît, messieurs!«

Proen und Opitz, ersterer nicht ohne inneres Widerstreben, reichten dem jungen Krieger, der sich kokett in den Hüften wiegte, ihre Papiere und harrten der weiteren Entwicklung der Dinge.

»Ah! Quelle surprise! Monsieur de Opitz!« rief plötzlich der Kornett und musterte mit sichtlichem Respekt den vor ihm stehenden Dichter. »Sie kennen mich nicht mehr. Naturellement! Aber ich erkenne Sie wieder. Ebenso natürlicherweise. Wissen Sie wohl! Noch aus dem Pommerschen her! Wir standen damals in Anklam. Es war noch in meiner Pagenzeit bei unserem großen Kanzler Oxenstierna! Sie kamen als Chargé d'affaires Ihrer Herzöge aus Schlesien. Seine Gnade der Kanzler schätzte Sie hoch. Er sprach mit viel Anerkennung von Ihnen. Es sei fast unmöglich, sich Ihrer Eloquenz und Ihren Argumentationen zu entziehen.«

Opitz lächelte geschmeichelt. Die Komplimente des kaum Sechzehnjährigen, die mit der Gewandtheit des vollendeten Hofmanns gesprochen wurden, taten ihm besonders vor den Ohren seines Begleiters wohl. Mochten der Danziger Rat und die dortigen reichen Pfeffersäcke auf solche Art aus dem Munde eines Fremdländers, nun gar eines schwedischen Junkers, erfahren, wen man in seiner Person vor sich hatte und wie ein Oxenstierna von ihm dachte.

Der Kornett überreichte den beiden Reisenden wieder ihre Pässe. Er hatte neben dem Paß von Opitz kaum einen Blick für den des andern gehabt.

»Die Danziger Herren,« sagte er zu diesem mit einem verbindlich ironischen Lächeln, »sind von unserer Anwesenheit hier am Weichselhaupt nicht besonders entzückt. Oh! Wir wissen es gut! Wir wissen es sehr gut. Aber glauben Sie mir, mein Herr Feldhauptmann, wir Schweden sind es ebensowenig. Wir wünschten vielmehr, uns mit unseren Feinden auf dem Felde der Ehre messen zu können.«

»Dazu wird sich hierorts wohl wenig Gelegenheit mehr bieten,« erwiderte Proen frostig. »Es dürfte Ihnen bereits bekannt sein, daß zu Stuhmsdorf bei Marienburg ernstlich über den Frieden mit dem Polenreich verhandelt wird.«

»Ja, man hört so etwas läuten,« bemerkte de la Gardie. »Sogar in unserer Einöde hier. Sie werden also wohl bald von unserem Anblick befreit sein.«

Proen verbeugte sich kurz und fragte: »Ist der Weg für uns frei?« Der Kornett trat zur Seite.

»Die Herren können passieren,« sagte er mit einer Gebärde der Courtoisie. Proen und Opitz verabschiedeten sich dankend, saßen von neuem auf und passierten die geöffnete Gasse der schwedischen Besatzung, um dann kurz hinter der Dammschanze den zum Außendeich und zum Weichselufer führenden Abweg zu erreichen.

»Da habt Ihr nun mit eigenen Augen unsere schwedische Zwingburg auf Danziger Territorio kennengelernt, Herr Herzogl. Rat!« brummte der Hauptmann. »Es ging ja diesmal gnädig genug ab. Das haben wir nur Euch zu verdanken. Sie hätten uns sonst wer weiß wie schikaniert. Die Fama von Euren Werken und Taten ist sogar bis an das Ohr dieses grasgrünen schwedischen Junkers gedrungen. Habt Ihr seinen Namen vernommen? Er scheint nicht wenig stolz darauf zu sein. Die de la Gardie sind erst seit kurzem in den Grafenstand erhoben. Die Familie ist aus Frankreich nach Schweden eingewandert.«

»So wie die Eure aus Flandern nach Danzig. Sagtet Ihr nicht so?« erwiderte Opitz, während sie nun in kurzem Trab auf dem weichen Grasboden des Außendeichs auf die Weichselfähre zu ritten.

Proen nickte bestätigend.

»Ja, so sagte ich. Habt es Euch gut eingeprägt. Wißt Ihr übrigens, wer die Mutter dieses patenten Bürschchens ist? Sie hieß mit ihrem Mädchennamen Ebba Brahe und ist lange Jahre des Gustavi Adolphi, des verstorbenen Schwedenkönigs, erklärte Herzdame gewesen oder auch seine Mätresse, muß man wohl alamodisch sagen.«

Sie waren an der Böschung des Weichselstromes, der hier eine ansehnliche Breite zeigte. Im Mittagslicht des heiteren Spätsommertages spiegelten sich die Wasser des mächtigen Stromes in himmelblauer Färbung. Einzelne Strudel des Flusses züngelten an dem dichten Weidengestrüpp des Ufers empor. Der Fährmann war gerade im Begriff, vom Strande abzustoßen, hielt aber noch inne, als er der beiden Reiter, die eben auf der letzten Uferschwelle erschienen, ansichtig wurde und ihre Zurufe vernahm.

In kurzem waren sie mit ihren Pferden eingebootet und überquerten, gelenkt von dem soliden Fährseil, die breite Wasserfläche, deren reißende Strömung noch an ihre ferne Herkunft aus dem Hochgebirge und an den unvermittelt jähen Absturz von Felsenzinnen in die sarmatische Tiefebene denken ließ. Unter den hölzernen Planken der Fähre glucksten und gurgelten die zahlreichen Strudel des Stromes, dessen linkes Ufer den beiden Männern näher und näher entgegenwuchs.

Proen erklärte seinem Begleiter, was es mit diesem hinter dem jenseitigen Weichseldamm gelegenen Landstrich für eine Bewandtnis habe. Man gelange jetzt in das eigentliche Herrschaftsgebiet, in das unmittelbare Dominium der Freien Reichsstadt, das gleich dem eben verlassenen rechtsseitigen Werder seit Urbeginn von Deutschen besiedelt sei und wie jenes mit seinen Fachwerk- und Vorlaubenhäusern auch deutsches Wesen eigentümlich widerspiegle. Es müsse dies, gegenüber gegenteiligen Argumenten und Ansprüchen, die polnischerseits aufgetaucht seien, mit allem Nachdruck betont werden, und kein Danziger denke daran, sich dieses untrennbar mit seiner Stadt verwachsene und mit ihr gleichnamige Werderland jemals durch Waffengewalt oder hinten herum mit den bekannten Kniffen juristischer und diplomatischer Federfuchser von den Polen entfremden zu lassen.

Sie hatten inzwischen die Fähre verlassen und ritten bereits über den jenseitigen Weichseldamm in das zu seinen Füßen sich ausbreitende Danziger Werderland hinein. Im Gegensatz zu der auf der anderen Stromseite beobachteten Wiesen- und Viehwirtschaft schien hier der Getreidebau zu überwiegen. Wohin das Auge blickte, zeigten sich zwischen den zahllosen Gräben abgeerntete Feldervierecke, deren dichte Stoppelflächen von der Fruchtbarkeit dieses aus der Schwemmerde des Stroms erwachsenen Bodens Kunde gaben. Die Sonne hatte ihre Mittagshöhe überschritten und sank gegen einen am westlichen Horizont sich bläulich abzeichnenden Höhenzug hinab. Dies sei die sogenannte Höhe, zu deren Füßen Danzig sich ausbreite, sagte Proen, mit dem Finger auf eine Stelle am Horizont deutend, von wo nun bald der Turm der Marienkirche, eines der Wahrzeichen Danzigs, aus dem Dunst der Ferne herübergrüßen werde. Die Straße, auf der sie fürbaß ritten, war flach und eben, von vielen Wagenspuren ausgefahren, zerfurcht, reichlich mit Klütern bedeckt, und lief zwischen buschigen Weidengestalten beiderseits immer geradeaus, scheinbar ins Unendliche, wie es Opitz vorkommen wollte. Dieser dreitägige Ritt von Thorn her hatte ihm doch, so reisegewohnt er war, ein wenig zugesetzt. Er schalt sich im stillen selbst darum. Aber was half's! Das ging nun so seit bald zwanzig Jahren, und er selbst war eben auch nicht mehr zwanzig. Gleichviel! Dort vor ihnen, wo der eintönige Weidenweg auf jenen sich nun deutlicher abhebenden wuchtigen, stumpfen Turm zu münden schien, dort winkte, wenn nicht alles trog, dem Wandermüden eine bleibende Ruhestatt. Umgeben von seinen geliebten Folianten und Büchern, würde er dort in Frieden seinen gelehrten Studien obliegen, und sofern Apoll, dessen Dienst er sein Leben geweiht, ihn nicht ganz aus der Schar seiner Günstlinge verstoße, würde noch mancher wohlgebildete Alexandriner und in der sich nähernden reichen Stadt noch manches gut honorierte Hochzeits- oder Begräbniscarmen aus seinem Federkiel auf das Pergament fließen.

Ein überraschter Ausruf Proens an seiner Seite rief ihn in die Gegenwart zurück. Der Schleier der Zukunft, der sich einen Augenblick vor ihm hatte lüften wollen, sank wieder hinab. Sie hatten, ohne daß es dem in seine Gedanken versponnenen Dichter bewußt geworden war, in scharfem Trabe eine in gleicher Richtung mit ihnen stadtwärts fahrende zweispännige Kutsche überholt, in der zwei vornehm gekleidete Damen, beide von ungewöhnlich reizvoller Erscheinung, eine reifere noch junge Frau und ein noch sehr jugendliches Mädchen, zurückgelehnt saßen und sich dem Genuß des heiteren ländlichen Bildes ringsumher und der lächelnden Spätsommersonne hinzugeben schienen.

Proen hatte seinen Fuchs vor dem halboffenen Gefährt pariert, dessen Lenker auch seinerseits angehalten hatte.

»Ah! Ihr seid's! Dachte ich mir's doch!« rief Proen den im Wagen Sitzenden zu. »Erkannte doch deinen Verdeckwagen, Base Constanzia, schon von weitem. Guten Tag, Annchen!« Er streckte dem jungen schönen Mädchen seine Hand hin, in die dieses ein paar zögernde Fingerspitzen legte.

Verstimmt über den kühlen Gruß seiner Braut – war sie es denn nicht? – nach seiner längeren Abwesenheit, runzelte Proen die Stirn, zog es aber vor, zu schweigen, da er Annchens Launen und ihrem spröden Eigensinn nur zu gut kannte. Constanzia, die ältere der beiden Patrizierinnen, eine etwa fünfundzwanzigjährige Brünette mit schön geschnittenen Zügen und einem schmachtenden Ausdruck der seelenvollen braunen Augen, den Unmut des Enttäuschten mit untrüglichem Instinkt wahrnehmend, suchte in ihrer gewandten Art über das eingetretene Schweigen hinwegzugleiten, indem sie mit einer leichten, gleichsam scherzhaften Handbewegung dem neben dem Wagen wartenden fremden Reitersmann sich selbst als Constanzia Zierenberg, Ehegesponsin des Ratsherrn Kerschenstein, und das wie ein Eisblock verharrende achtzehnjährige Mädchen als ihre Base Anna Schwarzwald vorstellte, die verlobte Braut dieses ihres hier gegenwärtigen Vetters Gerhard von Proen, der offenbar in der Freude unerwarteten Wiedersehens es unterlasse, ihrer beider nur zu begreifliche weibliche Neugierde zu befriedigen und ihnen seinen fremden Herrn Begleiter nach Namen und Stand zu präsentieren.

Der Dichter, als habe er hierauf nur wie auf sein Stichwort gewartet, verneigte sich in seinem Sattel weltmännisch vor den beiden schönen Insassinnen des Verdeckwagens und nannte, alle weiteren Titulaturen beiseite lassend, nur einfach und schlicht seinen Namen, dessen Erwähnung nicht nur der schönen reifen Constanzia einen Ausruf der Überraschung und Freude, sondern auch dem widerspenstigen Annchen an ihrer Seite ein herablassendes Lächeln wissenden Interesses entlockte.

Da der herzogliche Rat sich den beiden Frauenzimmern bereits in persona bekanntgemacht habe, so sei er, Proen, sotaner Formalität wohl enthoben, bemerkte dieser, der nun allmählich seine Worte, wenn auch nicht seine Laune wiederzufinden schien, und setzte seinen Gaul mit einem Schenkeldruck wieder in Gang. So blieb denn auch Opitz, der den beiden so verschiedenartigen Schönen gern noch länger Gesellschaft geleistet hätte, nichts anderes übrig, als sich in courtoiser Manier, wie sie ihm von den schlesischen Herzogshöfen her geläufig war, von der reizvollen Reisebekanntschaft zu verabschieden und seinem Begleiter auf dem Ritt in die rasch sich nähernde Stadt zu folgen.

Er fühlte sein Herz von der unerwarteten Begegnung, die wie eine Erscheinung gekommen und verschwunden war, eigentümlich bewegt, vermochte aber, als er nach seiner überlegten Art den Eindruck zu zergliedern anfing, mit allem Bemühen keine Klarheit darüber zu gewinnen, welche der beiden Schönen es seinem empfänglichen Geiste am meisten angetan haben mochte. Da war die unvergleichliche Grazie dieser wenn auch schon älteren, doch noch immer hinreißend Schönen, die sich selbst als Ehegemahl eines vermutlich schon bejahrten Ratsherrn vorgestellt, gleichzeitig aber auch auf ihrem Mädchennamen beharrte, also wohl Grund hatte, als Angehörige eines vornehmen Hauses stolz auf ihn zu sein. Welch eine Anmut in ihren Bewegungen! Welch ein verheißender Blick der schmachtenden Augen! Welch ein Wohllaut dieser dunkel klingenden Stimme! Konnte ein Zweifel sein, daß in diesem Leib einer Venus sich der Geist der Minerva mit der Hoheit einer Vestalin vereinte?

Aber wenn er dann, soweit es der schnelle Trab auf dem stuckrigen Wege erlaubte, sein geistiges Auge zu dem schönen spröden Mädchenbilde mit dem ebenmäßigen schlanken Wuchs, dem kastanienbraunen Haar und den feuchtschimmernden graugrünen Nixenaugen zurückwandte, verblaßte da nicht das Bild der anderen, der Reiferen, wie es regelmäßig auch im Götterhimmel der Alten geschah, wenn Diana, die jugendliche, die schlanke, die spröde, mit den hochgeschürzten Brauen und Lippen, in den Kreis der anderen Göttinnen trat und ein spöttisches Wort, ja nur einen spöttischen Blick in die Runde schickte, die unfehlbar zu treffen wußten, gleich dem Pfeil von der Sehne ihres gefürchteten Bogens? War es nicht soeben auch ihm, Martin Opitz von Boberfeld, dem Verfasser der »Teutschen Poeterey« und so manches Freß-, Sauf- und Venusliedes aus toll verbrauster Jugendzeit, auf ähnliche Weise ergangen? Er fühlte Dianens Pfeil, der ihn aus den Augen des stolzen Mädchens getroffen hatte, ganz nahe an seinem Herzen.

Vor ihm im rötlichen Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich, einer Fata Morgana gleich, die vieltürmige Stadt. Mochte es ein glückverheißendes Omen sein, daß nahe vor ihren Toren die Blicke zweier Göttinnen dieses Landes wohlgefällig, wenn nicht bewundernd auf ihm geruht hatten.


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