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Es waren noch keine vierundzwanzig Stunden verstrichen, eine Nacht und kaum ein Tag, seit Marie Dorothee in jäher Flucht das Haus des Nigrinus verlassen hatte, als Martin Opitz ein hartes Pochen an seiner Stubentür vernahm. Er hatte die wie unwirklich dahinschwindenden Stunden seither in dumpfer Betäubung verbracht, in der Nacht wenig geschlafen, nur wirr und wüst geträumt und den ganzen heutigen Tag eben auf dieses unentrinnbare drohende Klopfen an seiner Tür gewartet. Nun da es in sein Ohr drang und Gewißheit kam, schien es in seinem Innern ruhiger und fester zu werden.
Er ging aufrechten Schrittes zur Tür und öffnete sie. Der Prediger, der sich wieder mit seinem Landsknechtskoller umgürtet hatte, trat ohne weiteres über die Schwelle und bis dicht vor Opitz hin.
»Was wißt Ihr von meinem Eheweib?« fragte er finster und kalt und sah sich nach allen Seiten in der Stube um. »Wo habt Ihr sie? Wo haltet Ihr sie versteckt? Gebt sie auf der Stelle heraus, damit sie vor ihrem dichter stehe!«
Opitz zuckte sich beherrschend die Achseln.
»Und wer wäre denn ihr Richter, Herr Prediger Nigrinus?«
Dieser blickte aus seiner vollen Höhe auf die vor ihm stehende schmale Gestalt hinab.
»Das fragt Ihr noch, Herr Magister Opicius?« grollte seine tiefe Kanzelstimme. »Wer denn anders als ich, ihr Eheherr? Glaubt nicht, amice, daß mit dem Prediger Nigrinus zu spaßen sei. Also heraus damit! Wo ist die Ehebrecherin? Die Meineidige? Wo ist sie? Gebt mir Bescheid!«
»Gebt ihn Euch selbst, den Bescheid, Prediger Nigrinus! Schlagt an Eure Brust und fragt Euch, wo sie sein kann, nachdem Ihr selbst sie ins Elend gestoßen habt, vielleicht in den Tod, durch Eure falsche Beschuldigung, durch Eure selbstgerechten Anklagen, womit Ihr eine wehrlose Frau beschimpft habt! Dafür kann keine Vergebung sein, weder im Himmel noch auf Erden!«
Über des Predigers verzerrte Miene zuckte es wie ein Blitz der Erkenntnis des Vorgegangenen.
»Ah! Sie hat Euch beschwatzt? Ihr wißt, was geschehen ist? Sonach wißt Ihr auch, wo sie zu finden ist?«
»Weiß es nicht!« entgegnete der Dichter und wandte sich achselzuckend ab. »Weiß nur, daß sie zu allem entschlossen ist. Zum Allerletzten! Zum Allerschlimmsten! Zu Nacht und Grauen! Und wo nicht anders, auch zum Tod!«
»Wäre nur die gerechte Strafe für die Sünderin! Sie hat nichts andres verdient!« kam es von des Predigers zusammengekniffenen Lippen. Plötzlich sah er sich wieder wie suchend in der schon dunkelnden Stube um. »Wo habt Ihr sie versteckt? Auf der Stelle gebt sie heraus!«
Opitz hatte sich auf seinen Stuhl am Arbeitstisch gesetzt.
»Sucht sie doch selbst, da Ihr Eurer Sache so sicher seid!« sagte er mit einem kurzen bittern Auflachen. »Die ganze Stube, jede Ecke, jeder Winkel, steht Euch offen und frei. Sucht alles ab! Und wenn Ihr bis morgen abend suchtet, Ihr werdet sie nicht entdecken! Euer Weib ist von Euch gegangen! Findet Euch damit ab!«
Nigrinus hatte, ohne auf des andern Worte noch weiter achtzugeben, sich in der Tat darangemacht, an den Wänden und Bücherregalen entlang auf eine irre Weise Nachschau zu halten, und sank jetzt wie vernichtet auf einen Schemel.
Opitz war dem verkrampften Tun und Gehaben des Predigers von seinem Stuhl aus kopfschüttelnd, fast mit Neugierde gefolgt. Jetzt brach er in ein hohnvolles Lachen aus.
»Fühlt Ihr nicht selbst, Prediger Nigrinus, wie Ihr Euch mit Eurem vergeblichen Herumstöbern rings in der Stube nur vor mir heruntersetzt? Euch in meinen Augen nur lächerlich macht? Wollt Ihr nicht am Ende noch unter das Bett kriechen, ob Ihr sie nicht etwa dort entdecket? Es ist Euer unwürdig! Kommt zur Besinnung!«
»Ich kann nicht ohne sie sein!« stöhnte der Prediger mehrmals vor sich hin und hielt den Kopf in die Hände gepreßt. »Herrgott Jehovah! Warum strafst du mich armen Sünder so schwer?« ächzte er. Es klang dem andern fast wie ein Schluchzen. Der bis ins innerste Mark getroffene Mann begann sein Mitleid zu erwecken. Er stand auf und näherte sich dem ganz Zusammengebrochenen.
»Kommt Ihr endlich zur Erkenntnis, Prediger Nigrinus? Gelangt Ihr zur Einsicht, wer der wirkliche und wahrhaftige Sünder vor dem Auge des ewigen und gerechten Richters da droben ist, Ihr oder Euer zur Verzweiflung getriebenes Weib? Prüft Euch! Fragt Euch! Es kann nur eine Antwort geben. Ihr selbst seid es, Prediger Nigrinus! Ihr habt Euch die Macht angemaßt über Eurer leiblichen Schwester Kind! Entsinnt Ihr Euch noch, wie Ihr an jenem ersten Abend, da Ihr mich in Euer Haus aufnahmt, mir die Mär aufgebunden habt, sie sei Eurer verewigten Ersten Schwesterkind, sonach Ihr mich wolltet glauben machen, Marie Dorothee sei nicht Euer Fleisch und Blut? Oh! Ich hab' es wohl im Gedächtnis behalten! Damals schlug Euren noch das Gewissen, daß Ihr Euch vor mir und vor Euch selbst Eures Plans schämtet, sie an Euch zu reißen! ... Ja! An Euch gerissen habt Ihr sie, gleichwie man sich eine Pflaume vom Baum pflückt! Habt sie gezwungen, die Eure zu werden, um Eure Lust an ihr zu stillen! Und nun, da das Maß voll ist, da es über ihre Kraft geht und sie ins Dunkel, ins Elend flüchtet vor Euch, nun wollt Ihr Euch zum Richter aufwerfen über sie? Aber bedenket, es gibt noch einen höheren Richter, als Ihr es seid. Der da droben thront und dessen Gericht Ihr nicht entkommt!«
Opitz hatte, wiewohl aufs tiefste bewegt, seine Worte mit ruhigem, sicherem Bedacht gesprochen und stand am Tisch dem auf seinem Schemel Zusammengesunkenen gegenüber. Plötzlich schien es diesem einen Stoß zu geben. Er sprang wie vom Bösen besessen auf und schrie:
»Recht so! Recht so! Häuft nur alle Schuld der Welt auf mich! Ich bin der Sünder! Ich! Ich! Ich gesteh' es in christlicher Demut ein! Der alte sündige Adam, die Fleischeslust war allzu stark in mir. Hätt' ich sie nicht vor des Herrn Altar zu meinem rechtmäßigen Weibe gemacht: Satanas, der Verführer, der da suchet, wen er verschlingen könne, er hätte mich getrieben, mich ihr mit Gewalt zu nähern! Die Pflaume, wie Ihr sie mit einem nur allzu treffenden Bilde nanntet, hing mir in den Mund und war reif zum Verspeisen. Deshalb mußte sie mein werden! Und nahm sie zum ehelichen Weibe! Um mich selbst für meine böse Lust zu strafen, um mit dem alten sündigen Adam in mir in die Schranken zu treten, deshalb nahm ich sie!«
»Um Euch selbst für Eure Sündhaftigkeit zu strafen, deshalb zwangt Ihr sie in Euer eheliches Bett?« rief Opitz und lachte bitter auf. »Ihr narrt Euch selbst, Prediger Nigrinus, sofern es Euch ernst damit ist. Aber glaubet nicht, daß Ihr damit auch den Ewigen da droben narren könnt!«
»Um mich selbst für meine Sünden zu strafen, nahm ich sie zum Weibe!« donnerte der Prediger und ging mit irren Schritten durch die Stube. »Und auch um sie zu strafen, die von Sünden befleckt war über und über! Deshalb nahm ich sie, ob Ihr es Narrheit nennt oder nicht, und deshalb muß ich sie mir wieder holen, damit der Spruch des Herrn an ihr und an mir vollzogen werde und unser beider Buße sich vollende.«
»Und mit solchem Lug und Trug gedenkt Ihr Euch freizukaufen vor der ewigen Gerechtigkeit? Und schickt kalten Blutes Euer Weib ins Verderben?« entgegnete der Dichter, den es kalt überlief.
Nigrinus schien sich gefaßt zu haben. Er hielt in seinen Schritten inne und blickte mit verschränkten Armen auf den kopfschüttelnden Dichter nieder.
»Ihr widerlegt mich nicht, Magister Opicius! Ich weiß, mein Herr und Heiland lebt und blickt wie durch spiegelklares Glas in meine Brust. Er wird mich erhöhen zu sich, dieweil ich mich erniedrigt habe vor Euch wie noch vor keinem andern Sterblichen in dieser Welt.« Er ging weit ausgreifenden Schrittes und erhobenen Hauptes zur Tür, öffnete sie und wandte sich noch einmal zurück:
»Gehabt Euch wohl, Magister Opicius! Ich gehe jetzt sie zu suchen, die davongelaufen ist aus Eid und Pflicht. Die Meineidige! Die Sünderin! Und irgendwo, das glaubet mir, irgendwo im Schmutz der Gasse werd' ich sie finden!«
Er war weg. Man hörte seinen schweren Schritt auf der nach oben führenden Treppe. Erst jetzt fiel Opitz wieder ein, was er dem Prediger gleich zu Anfang hatte sagen wollen, daß er es für seine Pflicht halte, auch seinerseits das Feld hier im Hause zu räumen und irgendwo in der Stadt sich ein anderes Logis zu suchen. Aber als er seine Tür gleich darauf öffnete und zur Treppe hinaufrief, ob der Prediger ihn noch höre, kam keine Antwort mehr. Nigrinus hatte sich in seiner vereinsamten Wohnung eingeschlossen. Als einzige Gefährten blieben ihm, wie es Opitz vorkommen wollte, nur tödlicher selbstvernichterischer Haß und dessen schleimiges Stiefgeschwister, eiskalte Gleimerei. Welche der beiden dämonischen Mächte, die jetzt da droben zu Gast waren, wohl die stärkere sein mochte? fragte sich der Dichter, als er in seine Stube zurückkehrte und wieder mit seinen ihn bestürmenden Gedanken allein war.
Früher als er geahnt hatte, sollte ihm Antwort werden. Vom Turm der Marienkirche hallten soeben die Schläge der siebenten Abendstunde und gleichzeitig mit ihnen begann das Glockenspiel auf dem Kathausturm seine stündliche Weise, als in der Wohnungstür des Nigrinus der Schlüssel umgedreht wurde und der Prediger die Treppe hinabzusteigen begann. Opitz, dem von des Tages Aufregungen und Durcheinander übermüdet der Kopf auf die Brust gesunken war, sprang aus flüchtigem Vergessen auf und hastete zu seiner Tür, um des Predigers womöglich noch habhaft zu werden und ihm auf Biegen oder Brechen die Frage seines Bleibens im Hause zu stellen. Die Antwort, die er von dem die Treppe Hinabsteigenden auf seine Frage erhielt, war überraschend genug für ihn. Was er sich denn beikommen lasse? entgegnete Nigrinus dem Dichter. Es sei doch nichts zwischen ihnen vorgefallen, weshalb er sein Haus zu verlassen gedächte. Eine kleine Auseinandersetzung von Mann zu Mann, zwischen christlichem Mitbruder und christlichem Mitbruder, weiter nichts! Er für sein Teil verzeihe dem andern jedes harte und bittere Wort, das von dessen Lippen gekommen, und bitte seinen geschätzten langjährigen Gast und Freund, auch ihm in christlicher Nachsicht zu verzeihen, wo er ihm etwa, sehr wider sein besseres Ich, mit einem heftigen oder unchristlichen Wort zu nahe getreten. Wenn jeder von ihnen beiden solcherweise des Heilands und Erlösers Beispiel folge, werde die kleine Irrung gleich einem Wölkchen am Himmelsgewölbe in nichts zerfließen. Einzig und allein so sei es für christliche Mitbrüder und Mitstreiter der gleichen Heilslehre geziemend und ihrer würdig. Wer sich selbst erniedrige, der solle erhöhet werden und die Krone des Lebens solle ihm dargereicht werden. So besage es die Schrift und darnach gedenke er sich auch fürderhin zu halten.
»Ihr bleibet, Herr Magister Opicius,« so schloß er, »auch nach diesem als geschätzter Gastfreund unter meinem Dach. Wollt Ihr mir das in die Hand versprechen? Oder sollen wir unsern Feinden und Widersachern noch extra Wasser auf ihre Mühlen leiten, damit sie straßauf, straßab ins Horn stoßen können: Wißt ihr's schon? Der Nigrinus ...! Erst ist ihm sein Weib fortgelaufen! Und jetzt auch der große Opitz! ... Schlaget ein!« Er hielt ihm seine Hand hin.
Der Dichter, dem ein Stein vom Herzen fiel, tat, wie ihm geheißen. Von dieser Seite habe er es noch gar nicht angesehen. Der Prediger habe nicht ganz unrecht mit den bösen Mäulern. Wenn dies also des andern aufrichtiger und gültiger Entschluß, so sei auch er es zufrieden und schlage gern in die dargebotene Hand der Versöhnung ein. Sie standen sich beide noch einen Moment schweigend gegenüber und hefteten ihre Blicke ineinander, als könne keiner von ihnen so recht an des andern Friedfertigkeit und Nachgiebigkeit glauben. Als erster wandte sich der Prediger ab, um seinen Weg die Treppe hinunter fortzusetzen.
»Bleibt es dabei, daß Ihr Euer Weib suchen geht, Prediger Nigrinus?« rief Opitz ihm nach.
»Ihr sagt es!« rief Nigrinus kurz und hart zurück.
»Gebe Gott, daß Ihr sie noch am Leben findet und sie vor dem Schlimmsten bewahrt!« erwiderte der Dichter, sich über das Treppengeländer hinunterbeugend.
Es kann keine Antwort mehr herauf. Der Schritt des Fortgehenden verhallte unten vor der Haustür.
»Wie er den Verzeihenden spielte ...!« dachte Opitz. »Heuchelei und Augenverdrehung sind doch noch stärker bei ihm als Haß und Rachedurst. Arme, arme Marie Dorothee!«
*
Tage waren vergangen. Opitz sah und hörte nichts mehr von seinem Hauswirt und Gastgeber. Der Dichter versuchte seiner inneren Unruhe und so mancher ihn bedrängenden Gewissenszweifel Herr zu werden, indem er seine durch die Erschütterungen der letzten Zeit fühlbar unterbrochenen Übersetzungen und eigenen dichterischen Erzeugnisse wieder aufnahm. Aber auch sie, diese altbewährten Trostbringer in Widerwärtigkeiten, versagten diesmal ihre Hilfe. Stets von neuem tauchte vor ihm das Bild der immer noch – warum es sich verschweigen? – tief im Herzen gehegten und geliebten Frau auf, wie sie bleich und gehetzt durch des Predigers Schuld sich aus seiner Stube und aus dem Hause geflüchtet hatte in eine finstere und weglose Zukunft. Hätte er sie nicht, ungeachtet alles ihres Widerstandes und allen von ihr vorgebrachten Vernunftgründen zum Trotz, von diesem äußersten und irreparabeln Schritt, sei es auch mit Zwang, zurückhalten, sie erst zu klarer Besinnung und Vernunft sollen kommen lassen? Nun war es zu spät! Hatte er sich nicht zum Mitschuldigen des Nigrinus damit gemacht? Ja, trug er nicht auch schon darum ein gerüttelt Maß von Mitschuld, wenn jetzt das Verderben über sie kam, weil er von allem Anfang an mit dem Gefühl des unerfahrenen Mädchens sein Spiel getrieben, den aufglimmenden Funken ihrer Liebe willentlich und wissentlich genährt und schließlich zur Leidenschaft entfacht hatte? Aber konnte man es einem Manne von gesunden Sinnen und Trieben wie ihm, der zudem auch durch keine andere Fessel gebunden war, verdenken, wenn er eine ihm aus freien Stücken gebotene Gunst der Venus ebenso willig hinnahm und erwiderte?
Nein! Gegen alle solchen Gewissensskrupel und -zweifel, die weiter nichts waren als Fallen und Einflüsterungen des bösen Feindes, fühlte er seine Seele gewappnet und stark genug. Hatte er Marie Dorothee nicht auf das ernstlichste von dem unseligen Bund mit dem Oheim und Prediger abzubringen gesucht? Hatte er nicht sich selbst, sein eigenes Leben, mit in die Waagschale geworfen und dem Mädchen seine Hand geboten, um es aus den Fängen des andern zu retten? Beim ewigen Gott! Ihn konnte keine Schuld treffen, wenn jetzt das Verderben seinen Weg nahm!
Aber wenn er im Zuge seiner Gewissenszweifel und Selbstanklagen soweit war und schon das Feld gegen sie zu behaupten glaubte, so erhob sich da eine Stimme in ihm (oder war es über ihm?), die ihm zurief, das seien alles nur Sophismen, nicht um ein Haar besser als jene, mit denen der Prediger neulich alle Selbstvorwürfe wegzudisputieren gesucht, und einer belüge sich ebensosehr selbst wie der andere. Gleiche Brüder, gleiche Kappen, wie sich schon darin offenbare, daß er, Opitz, noch bis zu dieser Stunde von der ihm aus klar erkennbaren Gründen auch weiterhin gewährten Gastfreundschaft des Nigrinus Gebrauch mache und nicht längst sein Quartier mit einem andern vertauscht habe. So oft er auch diese selbstquälerische Anklage jenes »Andern« in ihm, jenes fatalen Doppelgängers, jenes lästigen zweiten Opitz, der sich als Richter über ihn aufspielte, entkräftet zu haben glaubte, sie stieg immer von neuem schlangenzüngig vor ihm auf und fiel ihn mit dem Gift ihres Bisses an. Wo war sein vielberufenes leichtes Blut, das ihm bis dato noch über alle Skrupel und Nöte ähnlicher oder gleicher Art hinweggeholfen hatte? Er kannte sich selbst nicht mehr. War es das Alter, die vor ein paar Jahren überschrittene Schwelle der vierzig, was ihn so verwandelt hatte?
Gab es denn keine Menschenseele, der er sich anvertrauen, zu der er sich mit seiner Bedrängnis flüchten konnte? Und wieder fiel ihm die Frau ein, die ihm, seit er in dieser Stadt eine neue und, wie ihm scheinen wollte, bleibende Heimat gefunden, in allen solchen Stunden der innern Nöte Zuflucht und Stütze geworden war: Constanzia Zierenberg. Es war zwischen ihnen in diesen Jahren ständige Übung geworden, daß er allwöchentlich am Freitag nachmittags zur Vesperzeit auch unangemeldet auf ein Plauderstündchen zu Besuch zu ihr kommen durfte und mit einer Tasse Schokolade oder einem Clas hispanischen Weins bewirtet wurde. Die düsteren Erlebnisse und Begebenheiten dieser letzten Wochen hatten ihn eine Zeitlang von der Schwelle der aufrichtig verehrten Freundin und Gönnerin ferngehalten. Es war an der Zeit, das Versäumte nachzuholen und sie um ihren Rat, falls es sich tun ließ, um Ihre Hilfe anzugehen. Man stand am Anfang der Woche, ohnehin mußten also noch einige Tage vergehen.
An einem dieser dazwischenliegenden Tage klopfte wieder einmal Andreas Hünefeld bei ihm an, der seit Peter Krügers letztem Erdengang sich nicht mehr hatte sehen lassen. Opitz wollte es vorkommen, als ob der andere irgend etwas auf dem Herzen habe, nun aber damit wie mit einer Übeln Post hinter dem Berge halte, so daß kein rechtes Gespräch sich anspinnen wollte.
»Also was habt Ihr, Meister Hünefeld?« fragte schließlich Opitz in ein bedrückendes Schweigen hinein. »Ich sehe es Euch an der Nasenspitze an: Ihr habt irgend etwas, was Euch auf der Zunge liegt und womit Ihr Euch nicht herauszurücken getraut. Also sprecht! Es wird ja wohl nicht gleich ans Leben gehen, wie man es den Giftpulvern jener Borgias zu Rom im vergangenen Säkulo nachgesagt hat?«
Schlimm genug sei es immerhin, erklärte Hünefeld und wiegte bedenklich den Kopf hin und her und ob es todbringend sei, so hänge das, wie bei allen solchen Giftmischereien, hauptsächlich von der mehr oder minder gesunden Konstitution desjenigen ab, dem die Dosis verabreicht werde.
»Nur her damit!« lächelte Opitz und fühlte, wie sein Herz heftiger zu klopfen begann. »Wollt Ihr mich noch länger auf die Folter spannen?«
»Wohlan denn! Aber laßt den Boten die Botschaft nicht entgelten.« Durch die Stadt, fuhr der Buchdrucker fort, laufe ein von Tag zu Tag sich verstärkendes Gerücht, das zu Anfang nur im engsten Kreise des Rats umgegangen, jetzt aber schon bis auf den Fischmarkt gedrungen sei, wonach die soviel jüngere Ehehälfte des Predigers Nigrinus ihrem Eheherrn davongelaufen sei und, so gehe das Gemunkel weiter, man glaube auch zu wissen, was oder wer der Urheber und Anstifter dieses Skandals sei.
Und wen man denn nun als den fraglichen Inkulpaten nenne? erkundigte sich der Dichter mit zugeschnürter Kehle.
Hünefeld sah ihn lange an und schwieg.
»Euch selbst, hochgeschätzter Freund,« entfuhr es ihm plötzlich, »hält man für den Schuldigen, so sehr auch manches dawider zu sprechen scheint, insbesondere der Umstand, daß Ihr nach wie vor unter dem Dach des betrogenen Ehemanns weilt, als dessen Gastfreund sogar, und Euch der nicht schon längst von sich aus den Laufpaß gegeben hat. Da habt Ihr das üble Geschwätz, das in der Leute Mäulern ist.«
»Und dem Ihr mit dem eben von Euch vorgebrachten Argument leicht den Garaus machen könnt, Freund Hünefeld,« entgegnete Opitz. »Fragt Euch selbst oder fragt diejenigen, die Euch solches auftischen, ob es auszudenken sei, daß ich unter besagten Umständen noch länger unter dem Dach des Predigers bliebe oder daß dieser als der streitbare und mannhafte Geist, für den ihn doch die ganze Stadt nimmt, es zuließe. Und jetzt, so dünkt mich, ließen wir am besten das üble Thema fallen und gingen zu erfreulicheren Dingen über.«
Damit erhob er sich von seinem Sitz, und auch der Buchdrucker stand langsam und nachdenklich auf.
»Ihr nehmt mir eine Bergeslast von der Seele, hochgeschätzter Freund und Meister,« sagte er schließlich, mit einem prüfenden Blick auf des andern Miene. »Ihr wißt nicht, wie mich das ruchlose Geschwätz, dem man auf Schritt und Tritt begegnet, im Innersten um Euretwillen bedrückt und mir die gute Laune verdorben hat. Denn um es Euch offen zu bekennen, es stünde schlimm um Eure Position und Euer ferneres Verbleiben am hiesigen Ort, wofern etwas Wahres an dem Klatsch und Tratsch wäre.«
»Sorgt Euch nicht länger um mich, bester Freund,« wehrte Opitz mit dem Versuch eines schwachen Lächelns ab, »ich bin mir keiner Schuld bewußt an den Mißhelligkeiten zwischen dem Prediger und seinem Weibe, das ja, wie Ihr bedenken möget, seiner Schwester Kind, sonach sein eigenes Fleisch und Blut ist, womit er sich kopuliert hat, daher denn das Zerwürfnis seinen Ausgang genommen haben mag.«
Hünefeld nickte mehrmals zustimmend und verabschiedete sich, offenbar ehrlich erleichtert, mit einem kräftigen Händedruck von dem Dichter, der ihn, noch immer lächelnd, zur Tür geleitete, um dann, als er allein war, die Hände gegen den Kopf zu pressen, in dem es wie in einem Eisenhammer klopfte und dröhnte.