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20

Bürgermeister und Ratspräsident Johann Zierenberg saß in seinem Amtszimmer des rechtstädtischen Rathauses am gewohnten Arbeitsplatz und blickte, während er den Seemannsbart strich, mit einem listig verschlagenen Lächeln dem Besucher nach, der ihn durch die gegenüberliegende Tür soeben verlassen hatte. Während er noch so saß und sich das eben gehabte Gespräch durch den Kopf gehen ließ, öffnete sich die Tür von neuem und auf der Schwelle erschien die lange Gestalt des Syndikus Freder.

»Ist es erlaubt, Eure Magnifizenz? Oder stör' ich?«

»Immer herein mit Euch! Man ist es schon gewohnt, daß Ihr immer grade dann da seid, wenn man Euch ganz wo anders vermutet.«

»Und wo zum Exempel habt Ihr vermutet, daß ich grade in diesem Moment sein müßte, Herrlichkeit?«

Zierenberg murmelte etwas vor sich hin, das unverständlich zu bleiben schien. Aber plötzlich schoß es gradehin und pfeilspitz von seinen Lippen:

»Nun denn, mein Bester, wenn Ihr es durchaus wissen wollt, natürlich doch in Eurer altstädtischen Amtsstube vor Euren Akten und Pergamenten. Statt dessen streicht Ihr hier in der Rechtstadt auf unsern Treppen herum und inspiziert meine Antichambers nach fremden Gästen. Nun, was ist dero Hochwohlgeboren Meinung über den Besucher, der eben ging, mein hochgeschätzter Herr präsumtiver Amtsnachfolger?«

Freder wiegte etwas geärgert seinen Kopf in der pompösen Halskrause.

»Es war Adam Kazanowski, Wladislaws Geheimkämmerer und Intimus. Wir sprachen nur ein paar Worte miteinander. Er war glatt und geölt wie immer, ein Friseurkopf im Ladenfenster.«

»Unterschätzt mir diese polnischen Barbiere nicht, mein Freund. Sie sind Meister im Einseifen und sind imstande, einem deutschen Michel mit ihren Honigsalben und Wohlgerüchen Arabiens das bißchen Grips so zu vernebeln, daß es durch den Schornstein verraucht und der brave Michel am Ende gar nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht.«

»Was weder im vorliegenden Falle noch überhaupt bei Eurer Herrlichkeit zu befürchten stünde,« erwiderte Freder mit beziehungsvoller Verneigung gegen den grimmig lächelnden Alten.

»So? Glaubt Ihr? Meint Ihr, mein präsumtiver Herr Sukzessor?« rief der Alte und rückte lebhaft und angriffslustig seinen schweren Amtsstuhl gegen den vor ihm Stehenden. »Dann geb' ich Euch gleich mal eine hübsche Denkübung als häusliches Exerzitium für die nächsten Tage auf.«

»Und die wäre?«

»Wie man es anzustellen hat, um eine Einladung, die einem von hoher Stelle für einen gewissen Dritten übergeben wurde und die von dieser Stelle heilig ernst gemeint ist, illusorisch zu machen, ohne seine Botenpflicht zu verletzen!«

Der lange Syndikus senkte den Kopf und rieb sich nachdenklich die Nase.

»Nichts einfacher als das!« rief er fröhlich. »Man unterschlägt sie kurzerhand. Man gibt sie an diesen gewissen Dritten erst gar nicht weiter.«

»Wäre das etwa keine Verletzung der Botenpflicht?« fragte der Alte und fuhr dann mit dem Kopfschütteln der Mißbilligung fort: »Ist denn der deutsche Michel wirklich so ein unheilbarer Tolpatsch, daß er nicht lügen kann, ohne sich gleich verraten zu müssen? Tausendmal habt ihr junges Volk des Teufels Gebetbuch, eure zwölf oder noch mehr Karten in der Hand gehalten und mit der ehrbarsten Miene von der Welt euren Partnern vorgelogen, was für Trümpfe ihr habt und wie ihr ihnen heimzuleuchten gedenkt ...«

Er hielt einen Augenblick inne, wie um Atem zu schöpfen.

»Eine Kunst, deren höchste Perfektion alle Eingeweihten grade Eurer Herrlichkeit nachrühmen!« fiel Freder ein, den Moment benutzend.

»Na also, junger Mann!« rief Zierenberg. »Ist es denn ein soviel größeres Kunststück, einen polnischen Diplomatikus zu nasführen als Eure eignen Spießgesellen?«

»Mir will es vorkommen, Eure Magnifizenz,« erwiderte vorsichtig tastend der Syndikus, »als ob Ihr die diplomatische Versatilität und Verstellungskunst Eures ergebensten Dieners und deutschen Michels, welchem Ihr soeben Euer Monitum erteilt habt, ein bißchen gar zu sehr unterschätztet? Mit einem klaren deutschen Wort gesagt, getraue ich mich, wenn es sein muß, zehn Kazanowskis mit diplomatischer Kunstfertigkeit einzuwickeln. Nur gebt mir die Möglichkeit dazu. Äußert Euch, Magnifizenz, was Ihr vorhabt, daß geschehen soll!«

Zierenberg lehnte sich in seinem Armstuhl bequem zurück und faßte den Syndikus scharf ins Auge.

»Ihr wißt, amice, die polnische Majestät vollführt übermorgen ihren Einzug in unsere Mauern, wenn nicht der anhaltende Schneesturm noch einen Strich durch die Rechnung macht.«

»Alles, was für den Empfang geplant war, steht bereit,« warf Freder ein. »Auch die bewaffneten Fähnlein auf dem Langen Markt werden nicht fehlen.«

Der Bürgermeister nickte.

»Gut! Gut! Wir zweifeln nicht daran. Aber jetzt denke ich an etwas anderes. Der Kazanowski, den Ihr eben gehen saht, ließ uns wissen, es sei der polnischen Majestät viel daran gelegen, daß ihr frischgebackener Hofhistoriograph und Hofsekretär, der uns allen hier wohlbekannte Magister Opitz von Boberfeld, zu den Festlichkeiten, die wir dem König zu geben gewillt sind, nach Möglichkeit hinzugezogen werde, da der König den besagten Magister einer persönlichen Begrüßung zu würdigen sich allergnädigst entschlossen habe.«

»Ah! Guck' mal einer an!« rief Freder nicht wenig verwundert aus.

Der Alte nickte bestätigend.

»Ja, einen mächtigen Stein im Brett scheint dieser Boberfeld bei den polnischen Herrschaften zu haben. Es gefiel mir von allem Anfang an nicht, als ich damals die Bestallung des Magisters zum Hofhistoriographen der polnischen Majestät zu Gesicht bekam.«

»Aber wie wollt Ihr, Herrlichkeit, daß es mit der fraglichen Einladung des Boberfeld zu den Festlichkeiten gehalten werden solle?«

»Gar nicht, mein Bester! Gar nicht soll es damit gehalten werden!«

»Also doch so, wie ich es vorhin anzudeuten versuchte? Die Einladung kurzerhand unterschlagen?«

»Beileibe nicht, carissime!« rief Zierenberg. »Es wäre höchst ungeziemend, wenn die polnischen Herren einem präsidierenden Bürgermeister unserer guten Stadt nachzusagen wüßten, er habe eine ihm anvertraute Einladung des Königs nicht an ihre korrekte Adresse weitergegeben. Der Magister muß seine Einladung rite übermacht bekommen. Aber die Lust, ihr Folge zu geben, muß ihm von dem Überbringer so versauert werden, daß er gern und freiwillig darauf verzichtet. Wie Ihr das anstellen wollt, das ist Eure Sache. Es sei ganz Eurer Klugheit und diplomatischen Versatilität, wie Ihr es nanntet, überlassen.«

Freder wandte sich zum Gehen.

Es treffe sich, meinte er, sehr apropos, daß der Magister, dem Hörensagen nach, seit einiger Zeit das Haus zu hüten, also wohl mit irgendeinem leiblichen Übel behaftet zu sein scheine, weshalb es nicht gar zu schwer fallen werde, ihn von der persönlichen Begegnung und Fühlungnahme mit den polnischen Gästen fernzuhalten. Jedenfalls werde er das Seinige dazu tun. Um dem Kazanowski keine Zeit zu neuerlichen Schritten zu lassen, scheine es ihm geraten, den besagten Magister gleich stante pede aufzusuchen, worauf er dann der Magnifizenz erwünschten Bericht zu erstatten hoffe. Damit empfahl er sich und begab sich, als ein Mann von raschem Entschluß, auf dem nächsten Wege zu Opitzens nur eine Straßenecke weiter gelegener Behausung.

Der Magister war nicht wenig erstaunt, den ihm bisher nur oberflächlich bekannten Syndikus Fred er in seine überheizte Stube treten zu sehen.

Nach der herkömmlichen zeremoniellen Begrüßung lud der Dichter den Syndikus zum Sitzen ein und sah ihn fragend an.

Es sei ihm, begann dieser, sehr zu seinem Leidwesen das Gerücht zu Ohren gekommen, daß der Herr Magister und Herzogl. Rat von einem nicht ganz der Ernstlichkeit ermangelnden Leibesübel, wohl von einem gastrischen oder gar einem Nervenfieber, heimgesucht sei, wie man dies schon aus der überaus kränklichen und bleichen Gesichtsfarbe des verehrungswürdigen Patienten abnehmen könne.

Der Poet, der nicht gern von Krankheiten, zumal wenn es solche am eigenen Leibe waren, sprechen hörte, nickte bei den von Mitleid überquellenden Worten seines Besuchers bestätigend und gottergeben.

So sei es denn wohl, fuhr der, andere fort, schon eine res judicata, wie der terminus technicus der Jurisprudenz laute, die ihn hergeführt habe und die er dem Herrn Magister unterbreiten solle.

Um was es sich denn handle? fragte der Dichter etwas gelangweilt.

Ei, um nichts Besonderes handle es sich, erwiderte der Syndikus, scheinbar mit Mühe nach dem treffenden Wort suchend. Ja, um etwas ganz Unsubstanziertes, wie man ja wohl eine Andeutung oder dergleichen von einer gewissen polnischen Stelle definieren könne, die sich wieder auf einen von ganz oben her gekommenen Wink berufen habe. Mit einem Wort um etwas ganz Unmaßgebliches, sei es nun von größerer oder geringerer Wichtigkeit, handle es sich.

Und was denn nun dasjenige sei, auf welches es dabei ankomme? fragte ironisch lächelnd der sich durch den Wortnebel hindurchlavierende Poet. Es müsse doch in all dem Unsubstanzierten, worauf sich der Herr Syndikus beziehe, irgendein wenn auch noch so winziges Quentchen Substanz enthalten sein, um deretwegen sich der Herr Syndikus der Mühe des Besuches in der winterlichen schneeverwehten Gasse unterzogen habe?

Bei diesem so ganz winzigen Quentchen Substanz, wie der Herr Magister es richtig formuliert habe, erwiderte Freder, gehe es leider um eine sehr heikle Frage, die ihre zwei Seiten habe und sich daher nicht so ohne weiteres beantworten lasse. Man könne sie von der Seite der Herren Polen betrachten, denen es natürlich unbenommen sei, einen in ihren Diensten Stehenden, etwa einen Herrn Hofsekretarius oder Herrn Hofhistoriographen, bei einem vorkommenden Königsbesuch und den hierwegen veranstalteten Festlichkeiten durch die Ehre einer Einladung auszuzeichnen. Der Casus zeige aber, von Danzig aus gesehen, auch ein anderes und weniger wohlgefälliges Gesicht: nämlich dann, wenn der in polnischen Diensten Stehende etwa gleichzeitig sich eines auf Dauer berechneten Jahressalärs vom Rat der guten Stadt Danzig erfreue, und dies noch dazu sine cura et officio, ohne alle andern Auflagen als die, der Wohlfahrt und dem Ansehen der Stadt in allen Widerwärtigkeiten der Zeit seine so äußerst schätzbare Feder zu leihen. Da dokumentiere es sich denn wieder, daß niemand, und sei er auch der Berühmtesten einer, zween Herren dienen oder auf beiden Schultern zugleich tragen könne, und es müsse ein entscheidender Schritt getan werden, ob man hier oder dort stehen wolle, entweder bei der polnischen Majestät oder bei der alten deutschen Stadt Danzig und damit bei den Seinigen, zu denen man doch nach Art, Gesittung und Sprache hinzugezählt sein wolle.

Per Poet, von seiner eben überstandenen Influenza ohnehin schon angegriffen und erschöpft genug, hatte während dieser oratorischen Expektoration seines Besuchers, deren Sinn selbst seiner sonst raschen Auffassungsgabe erst allmählich aufging, nach und nach sein ganzes Lebensgebäude um sich wanken gefühlt und saß zurückgelehnt, fast als sei es gebrochen, dem Syndikus gegenüber. Dieser schien es zu bemerken und nahm mit besorgtem Ton, der Opitz reichlich gewollt klang, von neuem das Wort.

»Mir scheint, es hat Euch angegriffen, Herr Magister. Ihr seht blaß aus! Man hätte Euch in Eurem gegenwärtigen morbiden Zustand nicht so überfallen sollen. Man hätte Euch vorbereiten müssen. Ich fürchtete gleich zu Anfang, es könnte Eure Kräfte übersteigen, was ich Euch zu sagen oder richtiger, womit ich Euch lästig zu fallen hatte, und supponierte daher von vornherein, daß Ihr schon Eurer wiederkehrenden Gesundheit zuliebe, um dieses kostbarsten Gutes willen, das man besitzt, der Einladung der polnischen Majestät zu den bevorstehenden Festlichkeiten, die durch uns an Eure verehrte Person heranzutragen war, natürlich in aller schuldigen Devotion Eure Absage erteilen würdet. Daß ich mich hierin nicht getäuscht habe, beweist mir Eure schweigende Zustimmung nicht nur. Beweist mir überdies auch noch die Wahrnehmung Eurer körperlichen Hinfälligkeit und offensichtlichen Unfähigkeit zu jederlei höfischen Strapazen, wovon wir dem Geheimkämmerer der polnischen Majestät geziemend Kenntnis geben werden.«

Opitz, der seine Fassung langsam wiederkehren fühlte, hatte den letzten Sätzen seines Besuchers nur mit einem stummen Kopfnicken zugehört. Ehe er noch ein passendes Wort der Entgegnung finden konnte, hatte sich jener erhoben und mit einer tiefen Verbeugung seinen Abschied eingeleitet. Es würde unverantwortlich sein, floß es von den Lippen des Syndikus, dem Herrn Magister, der höchster Schonung bedürfe, noch die Mühe und Anstrengung einer längeren Erwiderung zuzumuten. Darum sei es ihm Gebot, sich jetzt zurückzuziehen, nicht ohne jedoch dem Herrn Magister nochmals äußerste Schonung seiner selbst dringend ans Herz zu legen.

»Schonung! Äußerste Schonung!« hörte Opitz ihn noch im Hinausgehen wiederholen. »Und strengste Enthaltung von jeglicher Art Strapazen des Leibes und der Seele, wenigstens bis zum nächsten Mondwechsel!« Damit schloß sich die Tür hinter ihm.

So benommen der Dichter sich von all dem auch fühlte, er konnte nicht anders, er mußte eine helle Lache aufschlagen, die seltsam grell und fremd in der sonst totenstillen Stube widerhallte und ihn erst hierdurch wieder zum vollen Bewußtsein seiner selbst erweckte.

Was war das gewesen? Was hatte dieser von Salbung und Bedauern überfließende Mann eigentlich gewollt? Sollte es eine Warnung sein? Eine Drohung? Vielleicht auch nur ein freundschaftlicher Rat? Oder von jedem etwas? Was für ein politischer Schachzug steckte dahinter? Von diesem Freder hieß es ja, daß er die rechte Hand des Bürgermeisters sei. Aber wenn er in dessen Auftrag gekommen war, so mußte es dem alten Isegrimm ernst genug damit sein. Er hätte sonst nicht eine Standesperson wie den Freder damit betraut.

Kein Zweifel, daß es mit dem nahe bevorstehenden Einzug König Wladislaws zusammenhing. Der König, so mußte man es wohl verstehen, wünschte seine Anwesenheit bei diesem feierlichen Staatsbesuch, wobei sich dann ja auch Gelegenheit zu ein paar Worten beiseite mit ihm selbst oder einem seiner nächsten Vertrauten geboten hätte. Des Königs Wunsch, beinahe schon ein Befehl, war, wie nicht anders zu erwarten, dem Bürgermeister zu Ohren gekommen und hatte, auch dies konnte nach Lage der Dinge nicht anders sein, dessen immer bereiten Argwohn gegen etwaige Warschauer Anschläge und Intrigen ins Feld gerufen. Als sein Dolmetscher und Vollstrecker war dann der Syndikus, bei ihm im Krankenzimmer erschienen.

Was war sonach zu tun? Dem Wink der polnischen Majestät willfahren und bei ihrem Empfang im Rathaus oder im Artushof Assistenz leisten, entgegen der deutlich genug erteilten Warnung Freders, und damit seine ganze schwer genug errungene Position in dieser reichen und wohllebigen Stadt aufs Spiel setzen? Oder andrerseits, entgegen den ebenso unverblümten polnischen Aspirationen, die ihn für sich, für ihr Streben nach den Seezöllen und dem dominium maris baltici einspannen wollten, auf eine geschickte Weise den Kopf aus der schon wartenden Schlinge ziehen und sich von jeder persönlichen Berührung mit den polnischen Gästen fernhalten? Aber wie das, ohne bei der Majestät anzustoßen und seinen Widersachern bei Hofe selbst in die Hand zu arbeiten? Eine Zwickmühle, aus der es kaum ein Entkommen gab. Es konnte ihn seine schöne Sinekure, sein Amt und Gehalt als Hofhistoriograph kosten. So sehr er sich aber seinen ohnehin schmerzenden Kopf zerbrach, nirgends ein Ausweg.

Aber war da nicht schon die Erleuchtung, der Blitz? Eben dieser beinahe zerspringen wollende Kopf, seine nun schon seit Neujahr anhaltende Unpäßlichkeit, die ihn immer wieder ans Zimmer gefesselt hatte? Der Syndikus selber hatte ihn ja auf dieses Hinterpförtchen verwiesen, das ihm aus allen den Widrigkeiten und Skrupeln heraushelfen konnte. Wer sollte es ihm verdenken können, wenn er sich in seinem dauernd maladen Zustand auch fernerhin streng zu Hause und von aller öffentlichen Repräsentation und Festivität entfernt hielt? Er würde der polnischen Majestät eine im besten lateinischen Kurialstil aufgesetzte Huldigungsepistel allerdevotest zu Füßen legen und sich so auf die einfachste und überzeugendste Weise nach beiden Seiten hin, gegen die Danziger wie gegen die Warschauer, salvieren.

Je länger er über die Möglichkeit eines solchen rettenden Ausweges nachdachte, desto einleuchtender erschien sie ihm, und er begriff nicht, wie er auch nur einen Augenblick darüber hatte im Zweifel sein können, nachdem doch dieser Freder selbst ihn geradezu mit der Nase darauf gestoßen hatte. Aber wie auch immer, er fühlte sich plötzlich frei und leicht, als sei ihm mit diesem einen Stein auch gleich so manche andere Beschwernis vom Herzen gefallen, und es fehlte nicht viel, daß er in einem und demselben Atemzug auch seine ganze Influenza nebst gastrischem und Nervenfieber über Bord geworfen und sich vor sich selbst als pudelwohl und kerngesund erklärt hätte, wenn nicht jener immerwache »andere Opitz« in ihm gewesen wäre, der ihn zur Vorsicht auch sich selbst gegenüber mahnte.

In diesen winterlichen Tagen geistigen und körperlichen Mißvergnügens war es ein Lichtblick für den einsam brütenden Poeten, als er eines Morgens ein Körbchen mit noch weihnachtlichem Gebäck, darunter auch dem seit alters her berühmten Marzipan, und andern Süßigkeiten, Feigen, Knackmandeln, Traubenrosinen von seiner Gönnerin Constanzia Kerschenstein-Zierenberg erhielt, die auch ein kurzes Briefchen für ihn beigelegt hatte. Sie habe erst jetzt von der Unpäßlichkeit des Herrn Magisters Kunde erhalten und hoffe, daß die beifolgenden kleinen Näschereien und Leckereien nicht nur ihm selbst wieder auf die Beine helfen, sondern auch seinem poetischen Genius wieder neue Schwingen verleihen würden. Denn es sei ja seit Olims Zeiten eine allbekannte Erfahrung, daß nichts so sehr den Geist und die Phantasie der Herren Poeten beflügle wie Zuckerwerk, Kuchen und sonstige derlei Näschereien; auch den andern Sorgenbrecher nicht zu vergessen, des Dionysos oder Bacchus funkelnden Saft der Rebe in der ebenfalls miteingepackten strohumflochtenen Flasche, die zwar nicht den von dem unsterblichen Horatius Flaccus bevorzugten Falerner enthalte, dafür aber einen nicht minder feurigen und delikaten, eben über See angelandeten Xerezwein von Hispaniens sonnentrunkenen Küsten. »Wohl bekomm's Euch!« so schloß das Briefchen der bis weit über Danzigs Bannmeile so genannten »Baltischen Sirene«.

Zu Opitzens nicht geringer Überraschung klopfte in diesen Tagen auch wieder einmal sein Gastgeber und Hauswirt Nigrinus an seine Tür. Man habe sich leider lange nicht mehr gesprochen, äußerte der neuvermählte Prediger. Die Umstände brächten es manchmal so mit sich, daß Mißverständnisse, gleich den Nebeln auf den herbstlichen Wiesen, zwischen sonst ganz vernünftigen und klarblickenden Menschen aufstiegen und sie nicht mehr zueinander finden ließen, bis dann ein plötzlicher Sonnenstrahl das unheilvolle Gespinst zerreiße und dem einen oder andern oder auch beiden den richtigen Weg weise, wofür es nie zu spät sei. So sei es in den letzten Monaten auch ihm, Nigrinus, selbst ergangen, was in Anbetracht so mancher öffentlichen Anfeindungen, Widrigkeiten und eigner Gewissenszweifel, die ihn noch neben allem andern befallen hätten, nicht als verwunderlich zu erachten sei. Habe doch auch den großen Martinum, als er auf der Wartburg über seiner Verdeutschung der Heiligen Schrift saß, eines Nachts der Leibhaftige in gar greulicher Gestalt heimgesucht und ihn das angefangene große Werk seiner reformatorischen Berufung in höllischem Licht erblicken lassen. Da habe dann dieser wahrhaft vom Heiligen Geist erleuchtete Martinus, der nicht umsonst eines biderben Bergmanns Sohn gewesen sei, kurzerhand und resolut sein Tintenfaß gegen den höllischen Versucher geschleudert, worauf dieser mit Hinterlassung eines infernalischen Schwefelgestanks zum Schornstein hinausgefahren sei. Ihm, Nigrinus, sei ja nun leider kein Tintenfaß zur Hand gewesen, da er sich gerade auf seinem ehelichen Lager befunden habe, als ihm die plötzliche Erleuchtung gekommen sei, wie wenn ein Vorhang vor ihm zerrisse und die Nebel des Zweifels über seiner verdüsterten Seele dem hellen klaren Sonnenlicht wichen. Und wie er sich daraufhin von seinem Lager erhoben, sei eine innere Stimme vernehmlich geworden, die habe ihn gemahnt, es unserm Heiland und Erlöser nachzutun und dem langjährigen Mitstreiter im Geiste, von dem ihn nur ein Mißverständnis, quasi eine Einflüsterung des höllischen Widersachers, auf einige Zeit entfernt habe, in christlicher Sanftmut die Hand der Freundschaft neuerdings entgegenzustrecken, was hiermit geschehe.

Die beiden Männer, der große, breitschultrige Seelenhirte, angetan mit dem ledernen Koller, dem nur das Schwert an der Seite zum Landsknecht fehlte, und die schlanke, kaum mittelgroße, eher zierlich zu nennende Gestalt des Mannes der Feder, standen sich in der geöffneten Tür gegenüber, maßen sich einen Moment lang mit prüfenden Blicken und reichten sich dann lächelnd die Hände. Der Freundschaftsbund der beiden schien wieder der alte zu sein.

Es sei doch im Grunde nichts zwischen ihnen vorgefallen, bemerkte Opitz, der als erster nach diesem Akt des Händeschüttelns wieder das Wort nahm. Man sei sich nur leider gegenseitig aus dem Wege gegangen und so immer tiefer in eine törichte Entfremdung geraten.

Eigentlich sei es ja, wie er nicht verschweigen wolle, gestand Nigrinus, das kluge und vernünftige Wort seiner neuangetrauten Hausehre, womit sie die von dem höllischen Urian über seine Seele gebreitete Verfinsterung gelichtet und ihm den alten Freund und Bekenner des gleichen Glaubens wieder im vertrauten früheren Lichte habe erscheinen lassen. Es sei nicht gut, daß der Mensch allein sei, wie schon die Heilige Schrift besage. Erst zu zween, wo eines das andere hilfreich zu stützen vermöge, sei man gegen die Kniffe und Listen des höllischen Versuchers einigermaßen gefeit.

Wenn er offen sein wolle, entgegnete hierauf Opitz mit unausdeutbarem Lächeln, so habe er von des Predigers junger Eheliebsten mit ihrem so besonnenen und klugen Wesen, dem jede Überhitzung und Übertriebenheit fernliege, auch nichts anderes erwartet, als daß sie ihren Eheherrn, der ja weit und breit als ein wehrhafter und streitbarer Geist bekannt sei, mit sanfter weiblicher Hand wieder auf den Pfad der Eintracht und christlichen Friedfertigkeit geleiten werde. So habe sich denn, dem Himmel sei Dank, alles wieder zum besten gewandt.

»Es freut mich, amice Opicius, daß Ihr es gerade von dieser Seite seht,« erwiderte der Prediger. »Ihr seid auf der richtigen Spur damit. Und nun laßt uns gemeinsam eine Flasche köstlichen Rebensaftes von den gesegneten Ufern des Rheines leeren, die ich vom Hochzeitsschmaus gerettet habe. Nehmt an, daß sie für Euch aufgehoben war, der Ihr ja Eures Übelbefindens halber nicht an unserm Ehrentage teilhaben konntet, und erlaubt, daß ich die für alle Fälle bereitgestellte Flasche von draußen hereinhole.«

»Ihr erweist mir eine große und besondere Ehre damit, Freund Nigrinus, die ich wohl zu schätzen weiß.«

Nach einem Augenblick stand der Prediger wieder in Opitzens Stube. In der Hand hielt er die verspinnwebte Flasche.

»Lest das Schild mit Herkunft und Jahreszahl,« sagte er. »Zwar recht verdreckt. Aber so muß es ja sein. Meine bessere Ehehälfte wollte sie mit einem Wischtuch reinigen. Ich mußte es ihr verweisen. Sie zog zwar ein Gesicht, fügte sich aber drein, wie es ihr zukam.«

»Markobrunner Schönweg von Anno zwölf,« stellte Opitz, der – noch immer lächelnd – die Inschrift studierte, mit anerkennendem Kopfnicken fest. »Ein veritabler Zwölfer also, sechs Jahre vor unserm großen Krieg, der nun schon bald ins zwanzigste Jahr gehen will. Ein vorzüglicher Tropfen somit!«

»Würdig eines so geschätzten und weitberühmten Ehrengastes, wie Ihr es seid, Herr Magister Opicius,« fiel Nigrinus sich verneigend ein. »Ihr sollt wissen, welch eine Ehre und welch ein Stolz es für mich ist, Euch auch weiterhin unter meinem bescheidenen Dach beherbergen zu dürfen.«

Opitz machte eine abwehrende Bewegung.

»Wie soll ich Euch danken, Freund Nigrinus?«

»Und jetzo,« fuhr der Prediger fort, »so es Euch nicht unbequem ist, möchte ich mein junges Weib herbeirufen. Es dünkt mich nicht mehr als recht und billig, daß auch sie dieser kleinen hochzeitlichen Nachfeier teilhaftig werde, da sie es doch ist, welche mich auf den guten Gedanken gebracht und auf den Weg christlicher Nachgiebigkeit geleitet hat.«

Ehe der aufs höchste erstaunte Poet sich's versah, stand der Prediger schon in der wieder geöffneten Tür und ließ seine pastoral dröhnende Stimme durch das Haus erschallen:

»Marie Dorothee! Mein Weibchen! Meine Blume von Saaron! Erscheine! ... Erscheine!«

Opitz hörte einen wohlbekannten leichten Schritt auf der Treppe. Er atmete tief auf. Sein Herz schlug heftig. Auf der Schwelle stand im schwarzsamtenen Festgewand Marie Dorothee.

»Tritt näher, Erwählte meines Herzens!« sagte Nigrinus, der sich schon am Arbeitstisch des Dichters niedergelassen hatte. »Seht Ihr wohl, Freund Opicius, wie sie in bräutlicher Scham erglüht?«

Die junge Frau schüttelte unwillig den Kopf und trat in die Stube.

»Ach, was Ihr nicht zusammenredet, mein Herr Gemahl! Es ist vom schnellen Treppensteigen, weiter nichts.«

»Habt Ihr's wohl vernommen, Herr Magister?« fragte lächelnd der Prediger. »Sie kann sich noch immer nicht entschließen, mich mit dem trauten ›Du‹ anzureden, wie es doch nach der Eheschließung vor dem Altar des Allerhöchsten zwischen Mann und Weib geboten, ja als christliche Pflicht erscheint. Nun ja, es ist der begreifliche Respekt des jüngeren Teils vor dem älteren.«

»Oder der Nichte vor dem Ohm!« kam es hell und klar von den Lippen der jungen Frau.

»Nun ja! Nun ja!« erwiderte der Prediger mit verdrießlichem Stirnrunzeln. »Das wird sich alles finden. Das wird sich alles geben. Nichte und Ohm, das ist gewesen!«

Opitz, der sich an seinen Schubladen und Truhen zu tun gemacht hatte, brachte drei Weingläser und stellte sie auf den Tisch.

»Wollt Ihr nicht Platz nehmen, so gut es geht, Frau Prediger?« sagte er mit etwas belegter Stimme zu der jungen Frau »Ihr kennt ja die Enge hier in der Stube und wie es mit dem Sitzen hapert.«

»Wir werden uns schon behelfen, Herr Herzogl. Rat,« erwiderte sie unbefangen. »Ihr müßt Euch nur entschließen, den Haufen Folianten dort in der Ecke zu verstauen. Dann habt Ihr auch für Euch selbst einen Stuhl frei.«

Opitz schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

»Bei allen Göttern! Eine Lösung, die Eurem Scharfsinn alle Ehre macht, Frau Prediger.«

Marie Dorothee lachte hellauf.

Nigrinus runzelte die Brauen.

»Was macht dich lachen, mein Täubchen?«

»Wenn ich das höre: Frau Prediger! Es kommt mir so komisch vor. Als wenn ich's gar nicht selber wäre. Ich finde, es paßt nicht zu mir.«

»Du wirst dich dennoch daran gewöhnen müssen, mein Herzchen,« erwiderte der Prediger, um dessen Mundwinkel sich zwei scharfe Linien abzeichneten. Er stand auf, griff zur Flasche und schenkte die Gläser voll.

»Ergo bibamus!« sagte er, sein Glas gegen den Dichter erhebend und dann zu Marie Dorothee gewandt: »Auch du, mein Liebchen, sollst mit mir auf das Wohl meines hochgeschätzten Gastfreundes, welcher ja durch unsern Ehebund nun auch der deine geworden ist, anstoßen. Er lebe hoch! Hoch! Dreimal hoch!«

»Auf Eure Gesundheit, Herr Herzogl. Rat!« sagte Marie Dorothee, indem sie ebenfalls ihr Glas gegen den vor ihr stehenden Dichter neigte. »Und auf alles das,« fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu, »was Ihr im Geiste und im Herzen hegt!«

»Das ist ein kluges Wort von dir, meine Teuerste!« fiel Nigrinus ein, der gut zugehört haben mußte. »Es macht deinem eigenen Geiste alle Ehre. Wie sagtest du doch so treffend? Auf alles das, was Ihr im Geiste und im Herzen hegt!«

Er schwenkte sein Glas von neuem gegen Opitz, trank es auf einen Zug leer und fuhr dann fort, indem er neckisch drohend seinen Finger erhob:

»Ei! Ei! Herr Magister, was muß man hören! Sollte Eure Herzenskammer in der Zwischenzeit, derweil wir uns nicht sprachen, von einer unserer girrenden Danziger Schönen in Besitz genommen worden sein? ... Vielleicht sogar von einer der großen Damen, die in den vornehmen Häusern am Langen Markt oder an der Langgasse ihr Wesen treiben? Wovon zumal unsere gallischen Gäste ein Liedchen zu singen wissen.«

»Gewiß doch! Gewiß doch! Sogar im eigentlichsten Sinn des Wortes, Herr Ohm!« fiel hier Marie Dorothee lebhaft ein.

Nigrinus schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten.

»Ich verbiete es dir, mich noch einmal Oheim oder Ohm zu nennen!«

»Also gut!« erwiderte sie mit lächelndem Munde, während ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Ich will versuchen, meine Zunge besser in acht zu nehmen, mein teuerster Herr Gemahl! Ist es so mehr nach Eurem Gusto?«

»Schnickschnack!« versetzte er unwillig und wandte sich zu dem stumm die Vorgänge beobachtenden Poeten: »Ihr müßt entschuldigen, Freund Opicius! Es ist die angeborne Hitze meines Blutes. Es geht nur zu leicht mit mir durch.«

Der Dichter verbeugte sich wortlos.

»Also was wolltest du vorhin sagen, mein armes, verschüchtertes Hühnchen, als ich dir über den Mund fahren mußte?« fragte Nigrinus, von neuem zu Marie Dorothee gewandt.

»Als Ihr mir über den Mund fahren mußtet, teuerster Herr Gemahl,« erwiderte die junge Frau, abermals lächelnden Mundes, »wollte ich sagen, daß unsere Herren Franzmänner, die wir zu Besuch hier haben, den Damen von unserer Hautevolee nicht nur ein Liedchen zu singen wissen, sondern ihnen sogar Stunden im Liedersingen auf französische Manier, wie es heißt, erteilen. So erzählen es sich die Mägde am Brunnen. Habt Ihr nicht auch schon davon gehört, Herr Herzogl. Rat, da Ihr ja doch in diesen Häusern verkehrt?«

»Ich habe nie sehr viel auf solche Gerüchte gegeben,« erwiderte Opitz kühl. »Aber sofern es der Fall sein sollte, was Ihr den Mägden am Brunnen nachsprecht, Frau Prediger, so hege ich aus persönlicher Einsicht und Kenntnis die feste Überzeugung, daß eine Dame wie Madame Constanzia Zierenberg, von der offenbar die Rede ist, nicht einen Schritt breit vom rechten Wege abweichen wird.«

Marie Dorothee hatte ihren Kopf gesenkt und nippte an ihrem Glase.

»Ihr seid sehr nachsichtig, Herr von Opitz.«

»Wundert Ihr Euch darüber bei jemandem, dessen Aufgabe es doch ist, sich in die Abgründe des Menschenherzens zu versenken, wie man dies den Poeten gemeinhin zuschreibt? Sollten grade sie den ersten Stein werfen?«

»Ihr beschämt mich, Herr Herzogl. Rat,« sagte Marie Dorothee, ihren Kopf noch tiefer über ihr Glas senkend.

»Ich wüßte nicht, was ich weniger wollen möchte,« erwiderte der Dichter, mit einem bedeutsamen Blick zu ihr hinüber.

»Nun, wie immer es sich auch damit verhalte,« bemerkte Nigrinus, der den Blick aufgefangen zu haben schien, »es sei der Mantel christlicher Liebe über das alles gebreitet. Und jetzt, mein liebes Mariechen, wollen wir unsere Gläser leeren, die Flasche ist es schon, und unserm geschätzten Gastfreund und poeta laureatus nicht länger seine kostbare Zeit wegstehlen, die er besser für seine poemata und seine Senekaverdeutschung gebrauchen kann.«

Er reichte seiner jungen Frau den Arm und ging nicht ohne Würde mit ihr zur Stubentür hinaus.


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