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Opitz stattete noch am Abend seiner Ankunft in Danzig dem Prediger der Reformierten- und Baptistengemeinde, Herrn Nigrinus, in der Brotbänkengasse, unweit der Marienkirche, seinen Besuch ab. Dieser aus einem plebejischen deutschen »Schwarz«, wie alle seine Vorväter geheißen hatten, in einen gelahrten »Nigrinus« latinisierte Gottesmann konnte insofern als alter Bekannter Opitzens gelten, als beide Männer schon seit Jahren, ohne daß sie sich jemals persönlich gesehen hatten, ein umständlicher lateinischer Briefwechsel über wichtige theologische und humanistische Themata vereint hatte. So kam es, daß Opitz, als er mit dem bronzenen Klopfer an der schweren Eichentür der Behausung des Nigrinus um Einlaß gepocht hatte, von dem ebenso gelehrten wie streitbaren Hausherrn sofort mit offenen Armen empfangen und in dessen Allerheiligstes geleitet wurde, wo er gerade über der Abfassung einer Predigt für den kommenden soundsovielten Sonntag nach Trinitatis gesessen hatte. Ehe Opitz es sich versah, stand auf dem massiven Eichentisch zwischen ihnen beiden eine untersetzte vierkantige Flasche, aus der Herr Nigrinus eine vertrauenerweckende goldgelbe Flüssigkeit in die Kelchgläser träufelte.
»Gott zum Gruß Euch zuvor, Herr Magister Opicius,« sagte der baptistische Gottesmann, eine große breitschultrige Erscheinung, der man ihren geistlichen Beruf höchstens an der ausgearbeiteten Stirn ablas, und erhob sein wohlgefülltes Glas halb zum Himmel hinauf, halb zu seinem vor ihm sitzenden Gast. Dieser tat ihm mit dem von der Sitte der Zeit gebotenen umständlichen Ritus Bescheid und erfuhr, während er Tropfen für Tropfen über seine Zunge rollen ließ, welch Geisteskind dieses gebrannte Naß sei. Niederländische Baptisten, nach ihrem Stifter Mennoniten genannt, seien ihres Glaubens wegen aus den Generalstaaten vertrieben worden und hätten, als sie hier am Baltischen Meer ein Asyl gefunden, mit ihren heimischen Sitten und Gewohnheiten auch dieses wohlschmeckende und bekömmliche Destillat hierher verpflanzt, wo es sofort und nun schon im zweiten Menschenalter sich eine große Schar von Anhängern und resoluten Bekennern erworben habe.
Auch er sei mit Freuden bereit, sich in den Kreis dieser Gläubigen einzureihen, erwiderte Opitz und reichte auf einen Wink des Gastfreundes diesem sein Gläschen für eine neue Füllung hin. Nachdem auf solche Weise die schon bestehende geistige Brücke zwischen den beiden Männern auch leiblich unterbaut und bekräftigt worden war, konnte der Zug der gegenseitigen Eröffnungen und Gedanken ungehemmt vom einen zum andern vor sich gehen.
Nigrinus berichtete von den mancherlei geistlichen Fehden und Kontroversen über die Auslegung von Gottes Wort, die er, der Calvinist, hier in Danzig auszufechten habe, und zwar, wie leider gesagt werden müsse, weniger mit den Vertretern der alten papistischen Irrlehre oder mit den Jesuitern, deren es nicht wenige am Platze gebe, als vielmehr und ganz besonders mit den Amtsbrüdern von der doch eigentlich freundnachbarlichen evangelisch-lutherischen Konfession, die mit ihrer Renitenz selbst einen Engel zur Raserei bringen könnte. Er bekenne allerdings, fügte er mit einem offenherzigen Lachen hinzu, daß er auf dieses Wort »Engel« keinen begründeten Anspruch erhebe und zeitlebens auf einen groben Klotz auch einen groben Keil gesetzt habe, als wehrhafter Diener am Worte Gottes, der schon zu Beginn dieses nun bald zwanzigjährigen Ringens zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis Leib und Leben für die gerechte Sache der protestantischen Union unter dem unglücklichen Winterkönig am Weißen Berge eingesetzt habe.
»Wohl in Erinnerung dessen tragt Ihr noch das Soldatenwams, wenn Ihr Eure Gedanken zu einer Eurer Predigten sammelt?« fragte Opitz mit leichtem Lächeln, indem er auf das braune Lederkoller deutete, mit dem der Prediger sich umgürtet hatte.
»Ich hoffe, Ihr findet es nicht unangemessen oder gar anstößig für einen Diener Gottes, Herr Magister Opicius?« erwiderte Nigrinus. »Seid Ihr je auf der Walstatt für Euren Glauben eingestanden?«
»Viele Male auf der Walstatt der Geister, Herr Prediger Nigrinus!« gab Opitz zur Antwort. »Den Austrag mit Leib und Leben habe ich den hierfür Berufenen überlassen.«
»Wer wäre denn nicht hierfür berufen in dieser wilden Zeit!« meinte der Prediger. »Aber lassen wir das! Erzählt mir von Eurem Leben und mit welchen Plänen Ihr Euch hier in Danzig tragt: Zuvörderst, wo wollt Ihr Quartier nehmen? Ich biete Euch ein solches bei mir an. Es ist Abend und Ihr müßt Euch entscheiden, wo Ihr Euer Haupt zur Ruhe niederlegen wollt.«
Opitz kam der Vorschlag, den er im stillen von Anfang an erwartet haben mochte, sehr gelegen. Er nahm ihn daher nach einigem hinhaltenden Zögern, das er dem guten Ton und der Zeitmode schuldig zu sein glaubte, dankend an, indem er in die dargebotene Rechte des Gastfreundes mit seinem bezwingendsten Lächeln einschlug und die Bitte daran knüpfte, auch der Hausehre des Predigers seine Devotion bezeigen zu dürfen.
Er sei seit dem Dreikönigstag verwitwet, erwiderte dieser, und könne vor Ablauf des Trauerjahres kaum daran denken, der Heimgegangenen, die seine zweite Eheliebste gewesen sei, eine Nachfolgerin zu geben. So sei denn sein Haus eine Stätte der Verödung, und es geschehe ihm nur ein Gefallen damit, wenn Herr Opicius sie nicht nur vorübergehend für ein paar Tage, sondern für den Fall seines längeren Verweilens in Danzig auch auf längere Dauer mit ihm teilen wolle. Gegenwärtiges Haus hier, in dem sie säßen, gehöre ihm erb- und eigentümlich zu. Es sei geräumig genug, ihnen beiden, dem Witwer und dem Junggesellen, Unterkunft zu bieten, dergestalt, daß das erste Stockwerk, mit seinem Saal auf die Brotbänkengasse hinaus, dem Herrn Magister zufalle, während er, der Prediger, die Räume des zweiten Stockwerks in Benutzung nehme. So werde keiner dem andern auf unerwünschte Weise über den Weg laufen, und es bleibe neben den Studien, denen jeder von ihnen obzuliegen wünsche, noch Gelegenheit genug für ein vernünftiges und unterhaltendes Wort zu zweien.
Opitz hatte während der umständlichen Darlegung des Predigers still für sich über die wunderliche Folgerichtigkeit und Beharrlichkeit nachgesonnen, womit die Schicksalsgöttin Fortuna ihn auf den Weg nach Danzig geleitet und ihn nun hier als an seinem vorbestimmten Ziel festhalten zu wollen schien. Hatte er denn den übrigens nicht sehr wichtigen oder eiligen Auftrag König Wladislaws für den Danziger Rat nicht rein in der Meinung eines nur vorübergehenden Besuches der berühmten Reichs- und Hansestadt übernommen, und wäre es nicht dabei verblieben, wenn nicht jener in seine Vaterstadt verliebte Proen sich ihm in Thorn als Reisegefährte angeschlossen und ihm während dreier Tage von Danzig vorgeschwärmt hätte? Und nun kam dieser Nigrinus mit seinem verlockenden Anerbieten, das den von Jugend an Unbehausten jeder künftigen Sorge um ein geeignetes Obdach während dieser noch unabsehbaren Kriegszeit überhob. Galt es da nicht, der offensichtlichen Weisung Fortunas zu gehorsamen und ihre ihm winkende Locke mit allen zehn Fingern zu ergreifen?
»Ihr überwältigt mich mit Eurem edelmütigen Ansinnen, Prediger Nigrinus!« rief er aufspringend aus und breitete in überströmender Wallung seine Arme gegen ihn aus, was der andere lächelnd erwiderte. »Wenn Ihr ihn haben wollt, den umgetriebenen Wandersmann, so nehmt ihn hin! Er ist der Eure!«
So war denn der häusliche Bund zwischen dem Dichter mit der nicht gerade allzuheiligen Vergangenheit und dem streitbaren Gottesmann, der seine geistlichen Gegner am liebsten mit der Partisane statt mit der Heiligen Schrift bekämpfte, ein für allemal besiegelt, und das Gespräch wandte sich der neuen Umgebung und ihren besonderen Umständen zu, in die der Ankömmling sich versetzt sah. Opitz erfuhr, daß sein Reisegefährte Gerhard von Proen einer der ersten, wenn auch seinerzeit erst zugewanderten Patrizierfamilien der Stadt angehöre und Tenutarius oder Erbpächter der ansehnlichen und wohlfundierten Starostei Sobbowitz auf der Danziger Höhe sei, um die er mit dem polnischen Landadel einen schon Jahre währenden Prozeß führe. Sein vor mehr als Jahresfrist eingegangenes Verlöbnis mit der blutjungen Anna Schwarzwald, einer Nichte des Altbürgermeisters Johann Zierenberg, sei geradezu das Stadtgespräch, da notorisch bekannt sei, daß die »schöne Anna« nichts von ihrem Verlobten wissen wolle und mit allerlei nebulosen Scheingründen sich dem Vollzug des Trauungsaktes zu entwinden trachte. Ganz Danzig mache sich bereits über den unglücklichen Bräutigam lustig. Nigrinus verhehlte nicht, daß er sich in dieser Affäre ganz auf die Seite des Bräutigams stelle und er, wenn es ihn beträfe, besagter Evastochter schon längst den Abschied und einen Fußtritt verabreicht hätte. Es könne einem wahrlich um den ehrenwerten Mann und trefflichen Soldaten leid tun, der ein besseres Schicksal verdient habe.
Vielleicht habe insgeheim das Herz der Dame für einen anderen entschieden, meinte Opitz, so daß nicht bloße weibliche Launenhaftigkeit oder tadelnswerte Hoffart dabei im Spiel sei, wie es nach des Predigers Darstellung den Anschein habe?
Nigrinus bestritt dies, heftig den Kopf schüttelnd, mit Entschiedenheit, da in einer Stadt wie Danzig, wo alle alten Weiber – und es seien ihrer gerade genug hier – mit Argusaugen über jeden Blick und jeden Schritt des lieben Nächsten accuratissime Buch führten, es keine Geheimnisse solcherart geben könne. Er, Nigrinus, warne seinen Gastfreund allen Ernstes vor diesem Heer von strümpfestrickenden Klatschbasen, das alle Fenster und alle Beischläge von der Langgasse bis zum Holzmarkt besetzt halte und schon manchen guten Ruf vernichtet, manches Lebensglück zerstört habe. Nicht wenige in dieser guten Stadt Danzig wüßten ein Liedchen davon zu singen.
Nigrinus, von hitziger Gemütsart wie er war, hatte sich in Zorn geredet. Ein jahrelang im stillen genährter Groll schien sich dem Fremden gegenüber ungehemmt Luft machen zu wollen. Und es war nicht wenig, was er auf dem Herzen hatte. Zuvörderst die das Stadtregiment führende und in allen geistigen, ja selbst in den geistlichen Dingen tonangebende Oberschicht der patrizischen Geschlechter hatte es ihm angetan. Da waren die Zierenbergs, die Schwarzwalds, die Hafferats, die Kerschensteins und wie sie alle hießen. Seit hundert Jahren und noch länger hatten sie die Hände am Steuerruder der Stadt und natürlich auch am Stadtsäckel und ließen niemand heran, der nicht zu ihrer Coterie gehörte. Für einen Sohn einfacher Leute sei es ganz unmöglich, sich zu den Ämtern und Würden der Stadt einen Weg durch alle diese Schlagbäume zu bahnen, die sich höchstens öffneten, wenn einmal ein Glückspilz, ein besonderes Sonntagskind sich in das Herz so einer dukatenschweren Erbin hineinstehle und damit auch an die Krippe gerate. Der Hochmutsteufel sitze dieser ganzen Sippschaft im Genick, vornehmlich aber dem weiblichen Teil, den Frauenzimmern mit ihrem gezierten und hoffärtigen Wesen, so daß einem ehrlichen Christenmenschen das Blut zu Kopf steige, wenn man sie geschminkt und gepudert vierspännig einherfahren oder wohl gar zum Abendmahl stolzieren sehe.
Im gegenwärtigen Zeitpunkt werde von diesen Kindern Belials ein großes Wesen mit einer gerade im Lande weilenden Ambassade des französischen Kardinals Richelieu gemacht, mit deren Mitgliedern man, es sei nicht zu viel gesagt, eine Art von Abgötterei, einen veritabler Götzendienst treibe, daß es zum Gotterbarmen sei. Zwar sei in den letzten Wochen weniger von diesen Herren Franzmännern, von diesen geschniegelten und parfümierten Mosjöhs, zu hören gewesen, da sie sich nach Stuhmsdorf bei Marienburg aufgemacht hätten, zur Teilnahme an den schwedisch-polnischen Friedensverhandlungen, als welches dem Vernehmen nach der eigentliche Auftrag dieser franzmännischen Kommission sei. Zeit genug hätten sie sich allerdings damit gelassen, denn im Mai seien sie auf der Reise von Stockholm vor der Weichselmünde eingetroffen, und erst jüngst, da die Tage schon abzunehmen begännen, hätten sie den Danziger Staub von ihren Füßen geschüttelt, nicht ohne eine baldige Rückkehr zu verheißen. In diesen Sommermonaten aber seien sie von Haus zu Haus, von Garten zu Garten geschleppt und überall wie die Fürsten empfangen und mit den üppigsten Gastereien bewirtet worden. Die Frauenzimmer aber, eine Constanzia Zierenberg, eigentlich verehelichte Kerschenstein geheißen, und deren Clique hätten alle ihre Alfanzereien aufgeboten, den Herren Franzmännern zu gefallen, und die Spatzen zwitscherten allerlei von den Dächern, was dem Herrn Ratsherrn Kerschenstein, dem Ehegemahl der schönen Constanzia, der »Baltischen Sirene«, wie ihr Spitzname laute, nicht gerade lieblich in den Ohren tönen werde.
»Ihr seht, herzlieber Gastfreund,« so schloß der Prediger seine Standrede ab, »Ihr seht, mit unserer guten Stadt Danzig ist es nicht gerade zum allerbesten bestellt, wenigstens nicht, was das innere Wesen anbetrifft. Nach außen hin läßt sich freilich alles noch recht wohlgefällig und lieblich an. Man muß an einen vielhundertjährigen Waldbaum denken. Sein Wipfel strebt zu den Wolken empor, seine Zweige breiten sich weithin und spenden dem Wanderer köstlichen Schatten, aber innen am Mark, da zehren die Ameisen und derlei Gewürm, es ist schon alles zu Brei zermahlen und kein Halt mehr in dem ganzen Baum und schon der nächste Sturm kann ihn mit der Wurzel zu Fall bringen.«
Opitz hatte aufmerksam zugehört und mancherlei Nutzanwendung für sein zukünftiges Verhalten aus der Philippika seines Gastgebers gezogen. Er wußte nun, wie der Wind hier am Baltischen Meer wehte, und war entschlossen, die Segel seines Schiffes danach einzustellen, mochte es dem andern nun behagen oder nicht.
Er erhob sich und reichte Nigrinus die Hand.
»Es ist spät am Abend und Zeit, sich zur Ruhe zu begeben. Der Tag war reich an Mühen. Die vielen Stunden im Sattel! Mich dünkt, ich hörte vorhin ein Glockenspiel.«
»So ist es. Vom Rathaus,« warf Nigrinus ein. »Die zehnte Stunde.«
»So will ich Euch nicht länger aufhalten. Wollt mir mein Quartier anweisen, Herr Prediger Nigrinus.«
Dieser war ebenfalls aufgestanden und ging zum Klingelzug an der Eingangstür. Ein helles Klingelzeichen ertönte im Treppenhaus. Nicht lange, so erschien auf der Türschwelle ein blondes Mädchen von hohem Wuchs und fragte nach dem Begehr des Herrn Predigers.
»Jungfer Marie Dorothee Habermüller, die Nichte meiner seligen Frau, die an ihrer Statt mein Hauswesen versieht!« stellte Nigrinus vor.
Opitz verneigte sich. Er traute seinen Augen nicht. War das, was er da im ungewissen Licht der flackernden Kerzen sah, eine Erscheinung aus der anderen Welt? Oder stand hier ein Wesen von Fleisch und Blut, mit den Zügen einer längst Verstorbenen und Begrabenen? Vor zwanzig Jahren, es fehlte nicht viel daran, hatte er in Heidelberg, der Stadt seiner blühendsten Jugend, seiner leidenschaftlichsten Tage und Nachte, ein Mädchen gekannt (Flavia hatte er es in seinen carmina geheißen), das diesem hier auf der Türschwelle seiner wartenden wie aus dem Gesicht geschnitten gleichsah. Würde nicht, wenn er jetzt auf sie zuträte und ihr die Hand reichte, Grabeskälte ihn bis ins Mark durchschauern? War sie gekommen, ihn anzuklagen, ihn vor den Richterstuhl des Allerhöchsten zu rufen? Er richtete sich auf. Was war das für eine Ausgeburt seiner überhitzten Einbildungskraft! Hatte sein Leben ihn nicht gelehrt, vor den Schreckbildern seiner eigenen Seele auf der Hut zu sein? Er trat vor das Mädchen hin und streckte ihm seine Hand entgegen, indem er zugleich seinen Namen nannte.
Jungfer Marie Dorothee blickte ihn erstaunt an.
»Seid Ihr Herr Martin Opitz, der das Buch ›von der deutschen Poeterey‹ geschrieben hat?« fragte sie und wandte sich an Nigrinus, der am Tisch stehengeblieben war. »Ihr habt es in Eurem Regal ja immer zur Hand, Herr Oheim.«
»Da staunt Ihr, Herr Magister Opicius!« bemerkte Nigrinus, der am Tisch stehengeblieben war. »Ja, unsere Belesenheit hier in Danzig! Sogar unsere Frauenzimmer haben ihr vollgerüttelt Maß und Anteil daran.«
Von Opitz war der Bann gewichen. Er hielt eine nicht allzu kleine, kräftige, gesunde Hand in der seinen. Leben, Blut, Wärme strömte daraus in ihn hinüber. Was sollte das Trugbild von Grab und Verwesung! Noch blühten am Wegrand die Rosen. Wer die Dornen nicht scheute, mochte sich niederbeugen und sie pflücken.
Während er dem ihm voranleuchtenden blonden Mädchen die steile Treppe zum nächsten Stockwerk hinauf folgte, wo sich seine Schlafkammer befinden sollte, fiel ihm plötzlich ein, daß an diesem erlebnisreichen Tage seine Sinne schon einmal von einer ähnlichen Wallung ergriffen worden waren, angesichts der beiden schönen Insassinnen jenes Verdeckwagens auf der Landstraße, mit denen ihn Proen bekanntgemacht hatte. Sollte er sich darob einen wankelmütigen Libertiner oder gar einen Bruder Liederlich schelten, der nach jeder Blume, die in eines andern Garten blühte, frevlerisch Begehr trug? Aber welche unfruchtbare Öde dieser letzten Jahre lag hinter ihm! Kein Frauenblick, für dessen Lächeln, kein roter Mund, für dessen Küsse sich eine Todsünde gelohnt hätte! Er begriff nicht, wie er diese Wüstenei seines Selbst, diesen kalten Nebelregen, in dem er lange Jahre gelebt, hatte ertragen können, ohne den Verstand zu verlieren oder Hand an sich zu legen. War es nicht ein Zeichen beginnender Genesung, neu sprießenden Frühlings nach unendlicher Winternacht und Eiseskälte, daß seine Sinne sich wieder regten, seine Pulse wieder höher, wieder schneller schlugen beim Anblick vollendeter Schönheit oder jungen blühenden Lebens?