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Der Tag des Abschiednehmens der gallischen Ambassade war gekommen. Nach finsteren verdrießlichen Kältewochen schien vom hellblauen wolkenlosen Himmel eine leuchtende Sonne auf die von langer winterlicher Enge aufatmende Stadt. Man hatte den großen parkähnlichen Zierenbergschen Garten, draußen vor den Toren in Ohra, als Rendezvous für das letzte Beisammensein gewählt, wie um durch die Maienherrlichkeit der Natur der Melancholie der Scheidestunde den bittersten Stachel zu nehmen. Der Park erstreckte sich zwischen der munter sprudelnden Radaune und dem sich neben ihr entlangziehenden Höhenrücken ein gutes Stück weit in die Tiefe und war ein buntes Gemisch von Blumenbeeten, grünen Rasenflächen, Parkwiesen, um schließlich im Schatten frühlingsgrüner Waldbäume zu enden. Säulenhallen wechselten mit Laubengängen, labyrinthisch verschlungenen Wegen, Obstbäumen, verborgenen Fontänen, die den Vorübergehenden plötzlich anspritzten, und Reben- sowie Obstspalieren ab. Es war ein merkwürdiges Kunterbunt der verschiedensten Naturperspektiven, welches alles darauf hinwies, daß eine längere Folge von Geschlechtern, Zeitaltern und Zeitstilen hier ein Abbild ihres jeweiligen Wesens und ihrer besonderen Art und Weise, sich die Natur zu eigen zu machen, hinterlassen hatte. So uneins auch jedes einzelne mit dem andern erschien, so war doch alles zusammen von der Wirkung völliger Einheit und Harmonie, wie es immer zu sein pflegt, wenn ähnlich geartete Menschengeschlechter, stetig einander ablösend, an einem gemeinsamen Werk, wie an den Domen und Stadtbauten im großen, so auch hier im kleinen weiterarbeiten. Die Verschiedenartigkeit künstlerischen Strebens und Gestaltens äußert sich für den Nachfahren nicht als eine verletzende Dissonanz, sondern scheint nur für den Reichtum schöpferischer Möglichkeiten und die künstlerische Vielfältigkeit derer, die einstens am Werk waren, Zeugnis abzulegen. Den späten Betrachter überkommt es bei diesem Bilde überzeitlicher Harmonie mit einer Art von lächelnder Rührung, die auch das scheinbar Ungereimte willig hinnimmt.
Als die kleine Zahl der Eingeladenen – außer dem Gastgeber Bürgermeister Zierenberg und dem gräflichen Chef der Ambassade mit seinem Gefolge nur noch das Ehepaar Kerschenstein sowie Lisbeth Hafferat – versammelt war und sich rings in weitem Kreise auf dem weichen grünen Rasen an der Seitenfront des einstöckigen Landhauses gelagert hatte, ließen sich plötzlich die hellen Töne eines Trompetensolos irgendwoher aus dem Garten vernehmen.
»Es ist unser Abschiedsständchen, Madame, für Sie als die Königin dieses Kreises,« flüsterte Graf d'Avaux der neben ihm im Grase lehnenden Dame Constanzia zu.
»Wie schön und rührend die Weise!« lächelte sie und nickte versonnen vor sich hin, ein paar Noten leise für sich mitsummend. »Und wie rein die Töne kommen! Ein Meister in seiner Kunst, Ihr Gesandtschaftstrompeter, Erlaucht!«
»Ein hohes Lob!« erwiderte d'Avaux, als die Weise verklungen war. »Darf ich es ihm überbringen, unserem braven Fouquier de Timbal, der schon unter unserem großen Henri Quatre hochseligen Angedenkens zur Attacke geblasen hat? Ich werde ihm sagen, die baltische Sirene, eine Meisterin der Töne, wie ich noch keine hörte, habe die seinen zu rühmen gewußt.«
Er hatte sich ihr voll zugewandt. Seine Stimme schien vor innerer Bewegung manchmal zu ersticken. Er mußte sich gewaltsam zusammennehmen, um Herr seiner selbst zu bleiben.
»Nicht wieder diese Worte, die mich beschämen, Erlaucht!« wehrte Constanzia kaum hörbar ab.
Aber es war, als sei der Riegel, der ihm bis zu diesem Tage die Seele verschlossen hatte, plötzlich gesprengt und sein Mund müsse überfließen von all dem so lange gewaltsam Gebändigten.
»Nicht einmal in dieser Stunde des Abschieds, dem kein Wiedersehen jemals folgen wird, darf man die Sprache des Herzens sprechen, Madame?« ging sein heißes, halb ersticktes Flüstern weiter. »Wie grausam sind sie doch, diese schönen Frauen von Danzig!«
»So ist es wirklich Ihr voller Ernst, Danzig zu verlassen, Erlaucht?« erwiderte sie, seine letzten Worte scheinbar überhörend. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«
Graf d'Avaux wandte sich mit einem Seufzer ab. Ihre ruhige Sicherheit schien ihn zu ernüchtern.
»Des Königs Majestät ruft uns zurück, Madame,« sagte er. »Diplomaten sind meist nur flüchtige Gäste. Und oft nicht einmal gern gesehene.«
»Aber Sie waren es bei uns, Erlaucht!« rief Constanzia, und es schien ihr von Herzen zu kommen
Eine ferne Vogelstimme schluchzte irgendwo ihr Lied.
»Welch betörende Töne!« rief d'Avaux und lauschte mit der Hand am Ohr. »Ganz fern! Aus der Tiefe des Parks, wie es scheint.«
Constanzia nickte.
»Es ist eine Nachtigall, Erlaucht. Sie singt nur um diese Zeit. Der Mai hat sie verzaubert.«
»Ich vergleiche sie mit dem Zauber Ihrer Stimme, schöne Freundin,« erwiderte er leise. »Und doch! Wieviel größer ist dieser! Er hat uns das ganze Jahr hindurch beglückt.«
»Und wird es nun nie mehr tun.«
Sie senkte mit einem schwermütigen Lächeln den Kopf.
»Oh! Madame!« rief er, nun vollends überwältigt. »Nur noch einmal lassen Sie meine Seele der Ihren lauschen, ehe wir für immer gehen müssen.«
»Vielleicht. Ein wenig später,« sagte sie und schien über etwas nachzudenken. »Wissen Sie, was mir gerade eingefallen ist?«
»Sprechen Sie!«
»Sie nannten uns grausam, uns Danziger Frauen. Sind denn die Frauen Ihrer Heimat so viel weniger grausam?«
»Oh, viel weniger grausam!« entgegnete er mit einem Lächeln ebenso des Schmerzes wie der Selbstironie. »Wo denken Sie hin, Madame! Die Frauen Frankreichs? Die Frauen von Paris? Oh, viel, viel, bedeutend viel weniger sind sie grausam!«
»Und haben Sie geglaubt,« fragte lächelnd Constanzia, »als Sie kamen, auch uns soviel weniger grausam zu finden?«
d'Avaux wiegte den Kopf und lächelte ebenfalls.
»Ich wage nicht, es zu leugnen, Madame.«
»So kehren Sie also enttäuscht in Ihre Heimat zurück und werden dort von uns kalten Nordländerinnen erzählen, die ihr Herz unter Eis verbargen?«
»O nein! Nein, Madame!« wehrte d'Avaux lebhaft ab. »Keineswegs enttäuscht! Nur wieder um eine Erfahrung reicher auf diesem Gebiet, auf dem noch niemand ausgelernt hat.«
Er schwieg, wie über einen Gedanken sinnend, und fuhr dann fort:
»Ich hatte geglaubt, das Zeitalter der Troubadours in unserer schönen Provence sei längst zu Grabe gegangen ...«
»Nun?«
d'Avaux lachte in sich hinein. Es war ein Ton bitteren Spottes in seinen Worten.
»Ich habe mich getäuscht! Es lebt! Es lebt noch heute! Es lebt in dieser Stadt! Unsere Provence ist auferstanden am baltischen Meer! Und ich selbst, ich habe den Troubadour an einem Minnehof in Danzig gespielt – den Troubadour, der ebenso keusch wie erfolglos um die Liebe seiner Herrin geworben hat.«
»Wie schön das aus Ihrem Munde klang, Erlaucht!« erwiderte Constanzia in einem Ton zwischen Ironie und Bewegung. »Man wäre beinahe versucht, es zu glauben.«
»Glauben Sie es nur, holde Dame!« rief Graf d'Avaux feurig. »Oh, glauben Sie es nur! Scheidende sprechen die Wahrheit.«
Bürgermeister Zierenberg war vom Hause her in den Garten heruntergekommen und lautlosen Schrittes auf dem weichen Rasen hinter die beiden getreten.
»Es ist vom Scheiden und Abschiednehmen die Rede, Erlaucht? Also bleibt es unwiderruflich dabei?«
Graf d'Avaux wandte den Kopf zu dem hinter ihm Stehenden ein wenig zurück.
»Unwiderruflich, Eure Herrlichkeit! Nur noch eine kurze Frist, und wir besteigen das Schiff, das uns für immer von Ihrer magnifiquen Stadt und unseren Freunden hier entführen wird.«
Er hatte sich erhoben und stand dem alten Herrn gegenüber.
»Sie haben uns,« sagte dieser, »durch Ihre erfolgreiche Vermittlung in den polnisch-schwedischen Händeln einen großen und wichtigen Dienst erwiesen. Achtzehn Jahre rast die Kriegsfurie nun schon durch alle deutschen Gaue. Nur Danzig blieb bis jetzt verschont. Eine Insel des Friedens nennt uns in einem Brief aus Thorn, den ich heute empfing, unser größter lebender Poet, Herr Martin Opitz von Boberfeld. Eine Insel des Friedens! Wer weiß, wie lange das noch gilt?«
Constanzia machte eine lebhafte Bewegung, um sich von ihrem Sitz auf dem Rasen zu erheben.
»O Madame!« rief Graf d'Avaux und beugte sich hinab, um ihr mit seiner Hand aufzuhelfen. Aber sie stand schon mit festem Boden unter den Füßen und neigte mit einem Lächeln des Dankes den Kopf gegen ihn.
»Ein Schreiben von Herrn Martin Opitz, Vater?« fragte sie. »Aus Thorn? So ist er wieder einmal unterwegs?«
Zierenberg nickte, mit einem vielsagenden Lächeln um die Mundwinkel.
»Gewiß, es geschieht mit meinem Einverständnis. Der König hält gerade wieder Hoflager in Thorn. Ein Berittener brachte heute den Brief.«
»Darf man ihn nicht sehen?« fragte sie.
»Er enthält gewisse Politica,« erwiderte der Alte ausweichend. »Nur soviel magst du wissen, daß wir Herrn von Boberfeld bald wieder bei uns in Danzig haben werden.«
»Opitz bald wieder in Danzig? O wie schön!« rief Constanzia mit Wärme.
Aus einem nahen, in jungem Grün prangenden Laubengang traten nebeneinander lustwandelnd Herr Ogier und die schöne Lisbeth Hafferat in die lichte Maienhalle des Gartens.
Der Bürgermeister schmunzelte wohlgefällig vor sich hin.
»Ah! Lisbeth, unsere Jungverlobte!«
Graf d'Avaux trat lebhaft einen Schritt näher.
»Verlobt? Demoiselle Lisbeth? Wußten Sie es, Madame?«
Constanzia nickte lächelnde
»Es sollte einstweilen im stillen bleiben, Erlaucht.«
»Und der Glückliche? Wer ist es? Darf man fragen?«
»Warum nicht!« erwiderte Zierenberg statt ihrer. »Es ist Gottfried, mein jüngster Sohn. Constanzias Bruder.«
»Ja,« setzte Constanzia hinzu. »Wir sind sehr glücklich, daß nun doch noch ein Paar aus den beiden wird. Sie waren ja schon lange miteinander versprochen, müssen Sie wissen, Erlaucht.«
Der Bürgermeister strich sich seinen Seemannsbart.
»Es wird auch noch etliches Wasser die Mottlau hinunterfließen, ehe die beiden sich kriegen,« sagte er. »Mein Sohn hat sich auf ein Jahr in Tractament beim schwedischen Dragonerregiment Graf Horn begeben. Erst wenn er wiederkommt, wird Hochzeit sein. Da hören Sie es vorüberziehen!«
Aus der Ferne jenseits des Gartens erklang kriegerische Musik von Hörnern, Trommeln und Trompeten.
»Was ist das?« rief d'Avaux. »Etwa schon wieder Krieg?«
Zierenberg schüttelte den Kopf.
»Es ist das schwedische Dragonerregiment Graf Horn, Erlaucht. Kommt aus Livland. Wir haben ihm den Durchmarsch durch Danzig freigegeben. Sie reiten nach Pommern ab und den Krieg nehmen sie von unserer Friedensinsel mit sich fort.«
Lisbeth Hafferat, die mit Ogier herangekommen war, hatte die letzten Sätze gehört.
»Und meinen Gottfried,« rief sie, »meinen armen Jungen, nehmen sie auch mit fort! O Vater Zierenberg! O Schwester Constanzia!« Sie schluchzte laut. »Mein armer Junge! Was macht er ohne mich? Aber ich bin sehr stolz auf ihn, und er wird wiederkommen! Nicht wahr, Constanzia, er wird doch wiederkommen?«
»Bitte den Himmel, daß er wiederkommt,« sagte Constanzia.
»Er wird! Er wird!« rief Lisbeth und schluchzte von neuem. »Oh, ich bin sehr glücklich!«
Zierenberg lachte kurz auf.
»Dabei kullern ihr die Tränen rechts und links herunter«
»Ja, ich weiß, ich bin eine dumme Margell!« rief Lisbeth und schluckte mehrmals. »Sehr dumm! Sehr dumm, daß ich so glücklich bin und so weinen muß. Aber was soll man anderes tun, wenn man an einem und demselben Tage seinen Verlobten und seinen besten Freund, beide auf einmal, findet und wieder verliert?«
Constanzia sah lächelnd um sich. Ihr Blick traf den etwas abseits stehenden Gesandtschaftssekretär.
»Ja, es ist Herr Ogier hier!« rief Lisbeth und legte ihre Hand auf Ogiers Arm. »Denn als ich ihm erzählte, daß der arme Junge zu den Schweden geht aus dummer, närrischer Eifersucht auch seinetwegen, und daß ich mich deshalb heute morgen vor seinem Abmarsch noch schnell mit ihm verlobt habe, da hat mir Herr Ogier so herzlich dazu gratuliert und mich mit so lieben, ehrlichen Worten zu trösten versucht ...«
»O Mademoiselle!« stammelte Ogier mit komisch verlegener Miene. »Ich bin sehr, sehr froh über das, was Sie sagen!«
»Sie auch?« rief Lisbeth, von neuem in ihr Schlucken verfallend. »Also dann wir alle! Sehr, sehr froh! Ich fange schon wieder an zu heulen!«
Zierenberg breitete seinen Arm um Lisbeths Schultern.
»Nimm sie zu dir, meine Tochter!« sagte er, zu Constanzia gewandt.
Constanzia faßte die noch immer schluckende Lisbeth unter den Arm und ging mit ihr auf das Haus im Hintergrund zu. Der Bürgermeister machte eine einladende Gebärde gegen d'Avaux und Ogier.
»Folgen Sie mir, meine Herren! Constanzia wird Ihnen zu Ehren noch einmal singen.«
Während Zierenberg mit seinem breiten Schritt voranging, schlenderten d'Avaux und der Sekretär gemächlich hinterher.
»Scheiden wir nun als Sieger oder als Besiegte, Freund Ogier, aus diesem Land, das uns der Kardinal entdecken ließ?«
Er blieb stehen und sah lächelnd seinen Untergebenen an.
»Wir haben ihnen den Frieden gebracht,« meinte nachdenklich Ogier, »den wir für uns selbst so nötig brauchen. Aber wir lassen unsere Seelen dafür bei ihnen zurück. Ich glaube, die Besiegten sind wir, Erlaucht.«
Die kriegerischen Töne der Marschmusik verklangen in weiter Ferne. Aus dem Gartensaal des schon nahen Hauses vernahmen sie Constanzias Stimme, die eine italienische Arie hören ließ.
»Was schwärmen wir von Liebe, von Seele!« rief d'Avaux mit seiner alten Entschiedenheit. »Haben Sie nicht die Stimme der Kriegsdrommeten gehört? Noch immer regiert Mars die Stunde.«
Ogier hatte ein feines verneinendes Lächeln um die Mundwinkel, während er sich vor seinem Chef verbeugte.
»Mars schweigt, Erlaucht. Uns erklingt nur noch die Stimme der holden Muse dieses Zauberlandes an den Grenzen der Welt. Werden wir es je vergessen können?«